Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Sie lassen uns nicht zur Ehrlichkeit kommen, wenigstens nicht in der Freude.
der freund Mit dem Fall der sozialen Religion ist das Soziale uns näher gekommen. Es steht fordernder, zum mindesten gegenwärtiger vor uns. Vielleicht unerbittlicher. Und wir erfüllen es nüchtern und vielleicht streng.
ich Aber bei alledem fehlt uns vollkommen die Achtung vor dem Sozialen. Sie lächeln; ich weiß, daß ich ein Paradoxon ausspreche. Wenn ich das sage, so meine ich, daß unsere soziale Tätigkeit, so streng sie sein mag, an einem krankt: sie hat ihren metaphysischen Ernst verloren. Sie ist eine Sache der öffentlichen Ordnung und der persönlichen Wohlanständigkeit geworden. Fast allen denen, die sich sozial betätigen, ist das nur eine Sache der Zivilisation, wie das elektrische Licht. Man hat das Leid entgöttert, wenn Sie den poetischen Ausdruck verzeihen.
der freund Ich höre Sie wieder der entschwundenen Würde, der Metaphysik nachtrauern. Aber nehmen wir doch die Dinge nüchtern ins Leben hinein! Verlieren wir uns nicht im Uferlosen! Fühlen wir uns doch nicht bei jedem Mittagessen berufen! Ist das keine Kultur, wenn wir etwas aus den Höhen pathetischer Freiwilligkeit zum Selbstverständlichen herabziehen. Ich sollte meinen, alle Kultur beruhe darauf, daß Göttergebote zu menschlichen Gesetzen werden. Welch überflüssige Kraftanstrengung, alles aus dem Metaphysischen zu beziehen!
ich Wenn man noch das Bewußtsein ehrlicher Nüchternheit in unserem sozialen Leben hätte. Aber auch das nicht. Wir liegen in einem lächerlichen Zwischenstaat gefangen: die Toleranz soll soziale Betätigung von aller religiösen Ausschließlichkeit befreit haben – und dieselben, die die soziale Tätigkeit der Aufgeklärten proklamieren, machen aus der Toleranz, aus der Aufklärung, der Indifferenz und sogar der Frivolität eine Religion. Ich bin der letzte, gegen die schlichten Formen des täglichen Lebens zu reden. Wenn man aber diese natürliche soziale Tätigkeit hinterrücks wieder zum heilig-tyrannischen Maßstab der Personen macht, weit über die Notwendigkeit des staatlich Gebotenen hinaus, so ist eben der Sozialismus doch Religion. Und die »Aufgeklärten« heucheln, der Religion gegenüber oder in ihren Forderungen. Ein Wort für viele: Blumentage.
der freund Sie denken hart, weil Sie unhistorisch denken. So viel bleibt wahr: wir sind in einer religiösen Krise. Und noch können wir den wohltätigen, aber eines freien Menschen unwürdigen Druck der religiös-sozialen Verpflichtung nicht entbehren. Noch haben wir uns nicht völlig zur sittlichen Selbständigkeit hochgerungen. Dies ist ja das Wesen der Krisis. Die Religion, die Hüterin sittlicher Inhalte, wurde als Form erkannt, und wir sind dabei, unsere Sittlichkeit als ein Selbstverständliches zu erobern. Noch ist diese Arbeit nicht vollendet, noch haben wir Übergangserscheinungen.
ich Gott sei Dank! Mir graust vor dem Bild sittlicher Selbständigkeit, das Sie beschwören. Religion ist Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote, sagt Kant. D. h.: die Religion garantiert uns ein Ewiges in unserer täglichen Arbeit und das ist es, was vor allem not tut. Ihre gerühmte sittliche Selbständigkeit würde den Menschen zur Arbeitsmaschine machen, für Zwecke, von denen immer einer den anderen bedingt in endloser Reihe. Wie Sie es meinen, ist die sittliche Selbständigkeit ein Unding, Erniedrigung aller Arbeit zum Technischen.
der freund Entschuldigen Sie, aber man sollte glauben, Sie lebten so fern von der Moderne wie der reaktionärste ostpreußische Gutsherr. Gewiß, die technisch-praktische Auffassung hat in der ganzen Natur jede einzelne Lebenserscheinung entseelt, sie hat zuletzt das Leid und die Armut entseelt. Aber im Pantheismus haben wir die gemeinsame Seele aller Einzelheiten, alles Isolierten gefunden. Wir können auf alle obersten göttlichen Zwecke verzichten, denn die Welt, die Einheit alles Mannigfaltigen, ist der Zweck der Zwecke. Es ist ja fast beschämend, hiervon noch zu reden. Schlagen Sie unsere großen lebenden Dichter auf, Whitman, Paquet, Rilke und zahllose andere, orientieren Sie sich in der frei-religiösen Bewegung, lesen Sie die liberalen Blätter, überall haben Sie ein vehement pantheistisches Gefühl. Vom Monismus, der Synthese aller unserer Form zu schweigen. Dies ist die trotz allem lebendige Kraft der Technik, daß sie uns den Stolz der Wissenden gegeben hat und zugleich die Ehrfurcht derer, die das stolze Weltgebäude erkannten. Denn trotz alles Wissens – nicht wahr? – hat noch kein Geschlecht ehrfürchtiger das geringste Leben erkannt, als wir. Und was die Philosophen, von den ersten Ioniern bis zu Spinoza, und die Dichter bis zu dem Spinozisten Goethe beseelt hat, jenes allgöttliche Naturgefühl ist unser Eigentum geworden.
ich Wenn ich Ihnen widerspreche – und ich weiß, ich widerspreche nicht nur Ihnen, sondern der Zeit von ihren simpelsten bis zu manchen bedeutendsten Vertretern – dann fassen Sie das bitte nicht auf als die Sucht, interessant zu erscheinen. Es ist mir wahrhaftig ernst darum, wenn ich sage, daß ich keinen anderen Pantheismus anerkenne als den Humanismus Goethes. Aus seiner Dichtung erscheint die Welt allgöttlich, denn er war ein Erbe der Aufkärung, wenigstens dann, daß nur das Gute ihm wesentlich war. Und was im Munde jedes anderen wesenlos, nicht nur erschienen wäre, nein, wirklich nur inhaltlose Phrase gewesen wäre, das wurde in seinem Munde, und wird in der Gestaltung der Dichter überhaupt, Inhalt. Mißverstehen Sie mich nicht, man kann niemandem sein Recht auf Gefühle streitig machen, aber der Anspruch auf maßgebliche Gefühle ist zu prüfen. Und da sage ich: mag jeder einzelne noch so ehrlich seinen Pantheismus fühlen, maßgeblich und mitteilbar machen ihn nur die Dichter. Und ein Gefühl, das nur möglich ist auf dem Gipfel seiner Gestaltung, zählt nicht mehr als Religion. Das ist Kunst, ist Erbauung, aber nicht das Gefühl, was unser Gemeinschaftsleben religiös gründen kann. Und das soll doch wohl die Religion.
der freund Erlauben Sie. Ich will Sie nicht widerlegen, aber die Ungeheuerlichkeit dessen, was Sie sagen, möchte ich Ihnen an einem Beispiel zeigen: die höhere Schule. In welchem Geiste erzieht sie denn ihre Schüler?
ich Im Geiste des Humanismus – wie sie sagt.
der freund Ihrer Ansicht nach wäre also unsere Schulbildung eine Erziehung für Dichter und für Menschen des stärksten, gestaltungsfähigsten Gefühlslebens?
ich Sie sprechen mir vollkommen aus dem Herzen. Wirklich: ich frage, was soll ein normal veranlagter Mensch mit dem Humanismus? Ist diese reifste Ausgeglichenheit der Erkenntnisse und Gefühle ein Bildungsmittel für junge Menschen, die nach Werten dürsten? Ja, ist der Humanismus, der Pantheismus etwas anderes als die gewaltige Inkarnation der ästhetischen Lebensauffassung? Ich glaube das nicht. Wir können im Pantheismus die höchsten, ausgeglichensten Augenblicke des Glückes erleben – nie und nimmer hat er Kräfte, das sittliche Leben zu bestimmen. Man soll die Welt nicht belachen, nicht beweinen, sondern begreifen. In diesem spinozistischen Wort gipfelt der Pantheismus. NB da Sie mich nach der Schule fragten: die gibt ihren Pantheismus nicht einmal gestaltet. Wie selten geht man ehrlich auf die Klassiker zurück? Das Kunstwerk, diese einzig ehrliche Erscheinung pantheistischen Gefühls, ist verbannt. Und wenn Sie noch eine Ansicht von mir hören wollen, diesem arzneimäßigen Pantheismus, den uns unsere Schule verschrieben hat, verdanken wir die Phrase.
der freund Also zuletzt werfen Sie dem Pantheismus noch Unehrlichkeit vor.
ich Unehrlichkeit … nein, das möchte ich nicht sagen. Aber Gedankenlosigkeit, die werfe ich ihm vor. Denn die Zeiten sind nicht mehr die Goethes. Wir haben die Romantik gehabt und ihr verdanken wir die kräftige Einsicht in die Nachtseite des Natürlichen: es ist nicht gut im Grunde, es ist sonderbar, grauenhaft, furchtbar, scheußlich – gemein. Aber wir leben, als wäre die Romantik nie gewesen, als wäre es am ersten Tage. Darum nenne ich unseren Pantheismus gedankenlos.
der freund Ich glaube fast, ich bin auf eine fixe Idee bei Ihnen gestoßen. Offen gestanden, ich verzweifele, das Einfache und doch Elementare des Pantheismus Ihnen begreiflich zu machen. Mit mißtrauischer logischer Schärfe werden Sie niemals das Wunderbare des Pantheismus verstehen, daß in ihm gerade das Häßliche und Schlechte als Notwendiges und daher Göttliches erscheint. Ein seltenes Heimatgefühl gibt diese Überzeugung, jenen Frieden, den Spinoza unübertrefflich Amor dei genannt hat.
ich Ich gebe zu, daß der Amor dei als Erkenntnis, als Einsicht mit meiner Vorstellung von Religion sich nicht verträgt. Der Religion liegt ein Dualismus zu Grunde, ein inniges Streben nach Vereinigung mit Gott. Ein einzelner Großer mag auf dem Wege der Erkenntnis dahin gelangen. Die Religion spricht die mächtigeren Worte, sie ist fordernder, sie kennt auch das Ungöttliche, sogar den Haß. Eine Göttlichkeit, die