Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
so käme er nicht über das hier Gesagte oder gewisse Kantische Lehren hinaus. Näher läßt sich mit den Mitteln des Intellekts, d. h. allgemeingültig das Sittengesetz nicht erfassen. Denn wo es seine konkreten Inhalte erhält, ist es bestimmt von der Religiosität des einzelnen. Und die hierdurch gesetzte Schranke zu übertreten, in das noch ungestaltete Verhältnis des einzelnen zur Sittlichkeit einzudringen, verwehrt Goethes Wort: »Das Höchste im Menschen ist gestaltlos und man soll, sich hüten, es anders als in edler Tat zu gestalten.« Wer erlaubt sich heute (außerhalb der Kirche) noch die Mittlerrolle zwischen Mensch und Gott; oder wer möchte sie in die Erziehung einführen, da wir erwarten, daß alle Sittlichkeit und Religiosität aus dem Alleinsein mit Gott entspringe?
Daß der Moralunterricht kein System hat – daß er sich eine unerfüllbare Aufgabe gesetzt hat – es ist der zweifache Ausdruck der gleichen, verfehlbaren Grundlage.
So bleibt ihm denn nichts weiter übrig, als anstatt der moralischen eine seltsame Art von staatsbürgerlicher Erziehung zu betreiben, in der alles Notwendige noch einmal freiwillig und alles im Grunde Freiwillige notwendig sein soll. Man glaubt, die sittliche Motivierung durch rationalistische Beispiele ersetzen zu können, und sieht nicht, daß darin die Sittlichkeit schon wieder vorausgesetzt ist1233. Etwa wenn man dem Kinde am Frühstückstisch die Nächstenliebe nahelegt, indem man ihm die Arbeit der Vielen schildert, denen es erst seinen Genuß verdankt. Es mag traurig sein, daß das Kind derartige Einblicke ins Leben oft erst im Moralunterricht erhält. Aber Eindruck übt diese Ausführung doch nur auf ein Kind aus, das Sympathie und Nächstenliebe schon kennt. Nur in der Gemeinschaft, nicht im Moralunterricht wird es diese erfahren.
Nebenbei sei bemerkt: die »spezifische Energie« des moralischen Sinnes, moralisches Einfühlungsvermögen wächst wohl nicht im Aufnehmen der Motivationen, des Stoffes, sondern nur in der Betätigung. Es besteht die Gefahr, daß der Stoff bei weitem die moralische Reizbarkeit übersteige und sie abstumpfe.
Eine gewisse Skrupellosigkeit der Mittel zeichnet den Moralunterricht aus, da er ja über die eigentlich sittliche Motivierung nicht verfügt. Nicht nur rationalistische Überlegungen, mit Vorliebe auch psychologische Erregungen müssen ihm dienen. Selten geht man wohl so weit, wie ein Redner auf dem Berliner Kongreß für Moralunterricht, der unter anderem riet, sogar an den Egoismus des Schülers zu appellieren (hier kann es sich nur noch um ein Mittel zur Legalität, nicht mehr zur sittlichen Erziehung handeln). Aber auch die Berufung auf Heldenmut, jegliches Fordern und Loben des Außerordentlichen, soweit es auf Gefühlsexaltation hinausläuft, hat mit der Stetigkeit der moralischen Gesinnung nichts zu tun. Kant wird nicht müde, solche Praktiken zu verurteilen. – Im Psychologischen liegt noch die besondere Gefahr einer sophistischen Selbstanalyse. In ihr erscheint alles notwendig, gewinnt genetisches Interesse, statt des moralischen. Wohin führt es, wenn man etwa die Arten der Lüge zerlegt und aufzählt, wie ein Moralpädagog vorschlägt?
Wie gesagt, wird das eigentlich Sittliche notwendigerweise umgangen. Dafür noch ein bezeichnendes Beispiel, wie die vorherigen der »Jugendlehre« von Foerster entnommen. Ein Junge wird von seinen Kameraden geschlagen. Foerster argumentiert: Du schlägst zurück, um deinem Selbstbehauptungstrieb zu genügen; wer aber ist dein stetester Feind, gegen den Abwehr am nötigsten ist? Deine Leidenschaft, dein Vergeltungstrieb. Also behauptest du dich im Grunde, indem du nicht zurückschlägst, den inneren Trieb unterdrückst. Dies ein Beispiel für psychologische Umdeutung. In einem ähnlichen Fall wird dem Knaben, den seine Kameraden schlagen, in Aussicht gestellt, er werde schließlich doch siegen, wenn er sich nicht wehre, und die Klasse werde ihn in Ruhe lassen. Aber eine Berufung auf den Ausgang hat mit sittlicher Motivation nicht das geringste zu tun. Die Grundstimmung des Sittlichen ist Abkehr, nicht Motivierung durch den eigenen, noch überhaupt einen Nutzen.
Es würde den Raum überschreiten, in die minutiöse und moralisch oft geradezu gefährliche Praktik weitere Einblicke zu gewähren. Von den technischen Analogien zur Moral, von der moralistischen Behandlung der nüchternsten Dinge wollen wir schweigen. Zum Schluß folgende Szene aus einer Schreibstube. Der Lehrer fragt: »Welche schlimmen Dinge wird wohl derjenige tun, der sich nicht dazu zwingt, mit den Buchstaben ganz genau die bezeichnete Linie einzuhalten, sondern stets darüber hinausgleitet?« Die Klasse soll eine erstaunliche Fülle von Antworten geliefert haben. Ist das nicht schlimmste Kasuistik? Zwischen derartigen (graphologischen) Beschäftigungen und moralischem Gefühl besteht keine Verbindung mehr.
Diese Art des Moralunterrichtes ist übrigens keineswegs, wie behauptet wird, unabhängig von den herrschenden Moralanschauungen, eben von der Legalität. Im Gegenteil: die Gefahr, die legale Konvention zu überschätzen, ist unmittelbar gegeben, da der Unterricht mit seiner rationalistischen und psychologischen Begründung niemals die sittliche Gesinnung, sondern nur das Empirische, Vorgeschriebene treffen kann. Oft wird das selbstverständliche Wohlverhalten auf dem Grunde solcher Überlegungen dem Schüler außerordentlich bedeutend erscheinen. Der nüchterne Begriff der Pflicht droht verlorenzugehen.
Will man aber trotz allem und wider bessere Überlegung Moralunterricht, so suche man die Gefahren auf. Gefährlich sind heute nicht mehr die urchristlichen Gegensätze: »gut-böse« gleich »geistig-sinnlich«, sondern das »Sinnlich-Gute« und das »Geistig-Böse«, die beiden Formen des Snobismus. In diesem Sinne könnte der »Dorian Gray« von Wilde einem Moralunterricht zugrunde gelegt werden.
Wenn so der Moralunterricht weit entfernt ist, einer absoluten pädagogischen Forderung zu genügen, so kann und wird er doch seine Bedeutung als Übergangsstadium haben. Nicht sowohl, indem er ein, wie wir sahen, höchst unvollkommenes Glied in der Entwicklung des Religionsunterrichtes darstellt, als dadurch, daß er dem Mangel der jetzigen Bildung Ausdruck gibt. Der Moralunterricht bekämpft das Peripherische, Überzeugungslose unseres Wissens, die intellektuelle Isoliertheit der Schulbildung. Es wird sich darum handeln, des Bildungsstoffes nicht von außen, mit der Tendenz des Moralunterrichtes, Herr zu werden, sondern die Geschichte des Bildungsmaterials, des objektiven Geistes selbst zu erfassen. In diesem Sinne muß man hoffen, daß der Moralunterricht den Übergang zu einem neuen Geschichtsunterricht darstelle, in dem dann auch die Gegenwart ihre kulturhistorische Einordnung findet.
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»Erfahrung«
1913
Unseren Kampf um Verantwortlichkeit kämpfen wir mit einem Maskierten. Die Maske des Erwachsenen heißt »Erfahrung«. Sie ist ausdruckslos, undurchdringlich, die immer gleiche. Alles hat dieser Erwachsene schon erlebt: Jugend, Ideale, Hoffnungen, das Weib. Es war alles Illusion. – Oft sind wir eingeschüchtert oder verbittert. Vielleicht hat er recht. Was sollen wir ihm erwidern? Wir erfuhren noch nichts.
Aber wir wollen versuchen, die Maske zu heben. Was hat dieser Erwachsene erfahren? Was will er uns beweisen? Vor allem eins: auch er ist jung gewesen, auch er hat gewollt, was wir wollten, auch er hat seinen Eltern nicht geglaubt, aber auch ihn hat das Leben gelehrt, daß sie recht hatten. Dazu lächelt er überlegen: so wird es uns auch gehen – im voraus entwertet er die Jahre, die wir leben, macht sie zur Zeit der süßen Jugendeseleien, zum kindlichen Rausch vor der langen Nüchternheit des ernsten Lebens. So die Wohlwollenden, Aufgeklärten. Andere Pädagogen kennen wir, deren Bitterkeit gönnt uns nicht einmal die kurzen Jahre der »Jugend«; ernst und grausam wollen sie uns schon jetzt in die Fron des Lebens stellen. Beide aber entwerten, zerstören unsere Jahre. Und immer mehr befällt uns das Gefühl: deine Jugend ist eine kurze Nacht nur (erfülle sie mit Rausch!); dann kommt die große »Erfahrung«, Jahre der Kompromisse, Ideenarmut und Schwunglosigkeit. So ist das Leben. Das sagen uns die Erwachsenen, das erfuhren sie.
Ja! Das erfuhren sie, dieses Eine, niemals Anderes: die Sinnlosigkeit des Lebens. Die Brutalität. Haben sie uns je schon zum Großen ermutigt, zum Neuen, Zukünftigen? O nein, denn das kann man ja nicht erfahren. Aller Sinn, das Wahre, Gute, Schöne ist in sich selbst gegründet; was soll uns da die Erfahrung? – Und hier liegt das Geheimnis: weil er niemals zum Großen und Sinnvollen emporblickt, darum wurde die Erfahrung zum Evangelium des Philisters. Sie wird ihm die Botschaft von der Gewöhnlichkeit des Lebens. Aber er begriff nie, daß es etwas Anderes gibt als Erfahrung, daß es Werte gibt – unerfahrbare –, denen wir dienen.
Warum