Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Und weil er zu nichts ein so innerliches Verhältnis hat, als zum Gemeinen, zum Ewig-Gestrigen.

      Wir kennen aber Andres, was keine Erfahrung uns gibt oder nimmt: daß es Wahrheit gibt, auch wenn alles bisher Gedachte Irrtum war. Oder: daß Treue gehalten werden soll, auch wenn bisher niemand sie hielt. Solchen Willen kann uns Erfahrung nicht nehmen. Dennoch – in einem sollten die Ältern Recht behalten mit ihren müden Gesten und ihrer überlegenen Hoffnungslosigkeit? Was wir erfahren, das wird traurig sein und nur im Unerfahrbaren werden wir Mut und Sinn gründen können? Dann wäre der Geist frei. Aber stets und stets würde das Leben ihn niederziehen; denn das Leben, die Summe der Erfahrungen, wäre trostlos.

      Solche Fragen verstehen wir nun aber nicht mehr. Führen wir denn noch das Leben derer, die den Geist nicht kennen? Deren träges Ich vom Leben geworfen wird wie von Wellen an Klippen? Nein. Jede unserer Erfahrungen hat ja nun Inhalt. Wir selber aus unserm Geiste werden ihr Inhalt geben. – Der Gedankenlose beruhigt sich beim Irrtum. »Du wirst die Wahrheit nie finden«, ruft er dem Forscher zu, »ich hab’s erlebt«. Für den Forscher aber ist der Irrtum nur eine neue Hilfe zur Wahrheit (Spinoza). Sinnlos und geistverlassen ist die Erfahrung nur für den Geistlosen. Schmerzlich vielleicht kann sie dem Strebenden sein, aber kaum wird sie ihn verzweifeln lassen.

      Jedenfalls niemals wird er dumpfig resignieren und vom Rhythmus des Philisters sich einschläfern lassen. Denn der – das habt ihr bemerkt – bejubelt nur jede neue Sinnlosigkeit. Er behielt ja recht. Er vergewissert sich: es gibt wirklich keinen Geist. Niemand aber verlangt strammere Unterwürfigkeit, strengere »Ehrfurcht« vor dem »Geist« als er. Denn würde er Kritik üben – so müßte er ja mitschaffen. Das kann er nicht. Auch die Erfahrung des Geistes noch, die er widerwillig macht, wird ihm geistlos.

      Sagen Sie

      Ihm, daß er für die Träume seiner Jugend

      Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.

      Nichts haßt der Philister mehr als die »Träume seiner Jugend«. (Und Sentimentalität ist meist die Schutzfärbung dieses Hasses.) Denn was in diesen Träumen ihm erschien, war die Stimme des Geistes, die auch ihn einmal rief, wie jeden Menschen. Dessen ist die Jugend ihm die ewig mahnende Erinnerung. Darum bekämpft er sie. Er erzählt ihr von jener grauen, übermächtigen Erfahrung und lehrt den Jüngling über sich selber lächeln. Zumal da »Erleben« ohne Geist bequem ist, wenn auch heillos.

      Nochmals: eine andere Erfahrung kennen wir. Sie kann geistfeindlich sein und viele Blütenträume vernichten. Dennoch ist sie das Schönste, Unberührbarste, Unmitteilbarste, denn nie kann sie geistlos sein, wenn wir jung bleiben. Man erlebt immer nur sich selber, so sagt Zarathustra am Ende seiner Wanderung. Der Philister macht seine »Erfahrung«, es ist die ewig Eine der Geistlosigkeit. Der Jüngling wird den Geist erleben, und je weniger er Großes mühelos erreichen wird, desto mehr wird er überall auf seiner Wanderung und in allen Menschen den Geist finden. – Der Jüngling wird gütig sein als Mann. Der Philister ist intolerant.

      —————

      1913

      I. Der »historische Sinn«

      Noch ist die Menschheit nicht zum ständigen Bewußtsein ihres historischen Daseins erwacht. Nur zuzeiten befiel Einzelne und Völker die Erleuchtung, daß sie im Dienste einer unbekannten Zukunft stünden, und es wäre wohl denkbar, solche Erleuchtung als historischen Sinn zu bezeichnen. Aber die Gegenwart versteht darunter etwas ganz Anderes, und denen, die am mächtigsten vom Gefühl einer zukünftigen Aufgabe beseelt sind, wirft sie »Mangel an historischem Sinn« vor. Denn so nennt sie den Sinn für das Bedingte, nicht für das Unbedingte, für das Gegebene, nicht für das Aufgegebene. So stark ist der »historische Sinn« der Zeit, dieser Sinn für Fakten, Gebundenheit und Vorsicht, daß sie vielleicht ganz besonders arm ist an eigentlich »historischen Ideen«. Diese nennt sie meist »Utopien« und läßt sie an den »ewigen Gesetzen« der Natur scheitern. Sie verwirft eine Aufgabe, die nicht in ein Reformprogramm gefaßt werden kann, die eine neue Bewegung der Geister fordert und ein radikales Neu-Sehen. In einer solchen Zeit muß die Jugend sich fremd fühlen und auch machtlos. Denn ein Programm hat sie noch nicht. Da erstand Gerhart Hauptmann ihr als ein Befreier.

      II. Hauptmanns Festspiel

      Puppen agieren Deutschlands Befreiung. Sie sprechen in Knittelversen. Die Bühne des Puppentheaters ist Europa; die Geschichte – nie gefälscht – ist oft zusammengestrichen. Der Krieg von 1806 ist eine Kriegsfurie, Napoleons Untergang nur das Verblassen eines Bildes. Philistiades tritt auf und unterbricht die Geschichte. Was bedeutet das? Ist es eine »geistvolle Idee«? Nein, es ist tiefe, offenbarende Bedeutung. Nicht die Fakten machen 1813 groß und auch nicht die Personen. Diese Puppen als Personen sind sicherlich nicht groß, sondern primitiv. Ihre Sprache hat keine Weihe, nichts Jambisch-Ewiges. Sondern sie stoßen ihre Worte heraus oder suchen sie oder lassen sie fallen, wie die vor 100 Jahren es taten. Also nicht Geschehnisse, nicht Personen, nicht Sprache tragen den Sinn in sich selbst. Aber die Fakten sind vom Geist geordnet, die Puppen aus dem Holze ihrer Idee geschnitzt, die Sprache voller Suchen nach der Idee. Nach welcher Idee? Fragen wir uns, ob wir nicht vor 100 Jahren zu jenen überlegen lächelnden Bürgern gezählt hätten, weil man uns nicht recht antworten konnte auf diese Frage. Denn der »neudeutsche Nationalstaat« war kein Programm, sondern er war nur der deutsche Gedanke. Dieser Gedanke, von keinem dieser Menschen ganz erfaßt, in keinem ihrer Worte klar gesprochen, glühend gemeint in jeder ihrer Taten: er ist der Geist auch dieses Spiels. Vor ihm sind die Menschen Puppen (ohne private Charaktere und Mucken), Puppen in der Macht des Gedankens. Nach dieser Idee dehnen sich die Knittelverse: als sprächen die Menschen so lange, bis der Sinn aus ihrer Sprache erstünde. Unter diesen Tätigen aber war auch die Jugend, die sehr unklar war und sehr begeistert, wie ihre Führer.

      Aber schon damals lebten die Überschauenden und Reifen. Da sagt zu Blücher der »erste Bürger«:

      Ist der Welteroberer einmal perdu,

      dann sing ich ganz gern Ihre Melodie.

      Und haben Sie ihn zur Strecke gebracht

      dann ändert sich alles über Nacht,

      dann werde ich mich gewiß nicht sträuben

      und etwa gar napoleonisch bleiben.

      Wie die Dinge jetzt liegen, werd’ ich zuletzt

      immer wieder ins Recht gesetzt.

      Und mit der Jugend spricht man heute nicht anders wie damals:

      Großmäulige, unreife Gymnasiasten.

      Nehmt eure Fibel und geht in die Klasse …

      Was, Fritz, Du hier? mein eigner Sohn? …

      Überstiegenes Geschwätz! puerile Narrheiten.

      Einer antwortet ihnen:

      O ihr Knechtseelen! wie ich euch hasse.

      Unbewegliche, fühllose, träge Masse.

      Ein dicker, schlammiger Most, ohne Gärung,

      ohne Feuer und ohne Klärung.

      Kein Funke verfängt, kein Strahl durchdringt euch,

      kein Geist, doch jeder Fußtritt bezwingt euch.

      Beide, Bürger und Studenten, die heute so reden, – hätten sie vor 100 Jahren gelebt, sie hätten nicht anders gesprochen. Denn nicht Erkenntnisse, sondern Gesinnung bestimmen ihr geschichtliches Tun, und Gesinnungen sind durch alle Zeiten die gleichen. An das Ende des Kampfes stellte Hauptmann das Fest, und erst dort erhält Form und Sprache, was die drängende Seele des täglichen Geschehens war. Die deutsche Mutter wird griechische Gestalt annehmen, denn das Fest bedeutet den Eintritt in das Reich der Kultur, zu dem der Kampf nur den Weg bahnte. Athene Deutschland:

      Und darum laßt uns Eros feiern! Darum gilt

      der fleischgewordnen Liebe dieses Fest, die sich

      auswirkt


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