Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Schmerz bemerkte man, wie sie von den onkelhaften Worten des Avenarius sich gekitzelt fühlte. Daß diese Jugend joviale Bonhomie ertrug, ist das Schlimmste. Daß sie sich von jedem »Abgeklärten« den heiligen Ernst rauben läßt, mit dem sie zusammen kam. Daß sie lächelnde Leutseligkeit entgegennimmt, anstatt Distanz zu fordern. Diese Jugend hat den Feind, den geborenen, den sie hassen muß, noch nicht gefunden. Aber wer von denen auf dem Hohen Meißner hat ihn erlebt? Wo blieb der Protest gegen Familie und Schule, den wir erwartet hatten? Hier hat keine politische Phrase den Weg des jugendlichen Fühlens geglättet. Blieb er deshalb unbeschritten? Hier war noch alles zu leisten. Und hier ist das Jugendliche zu offenbaren, die Empörung: gegen das Elternhaus, das die Gemüter verdumpft, gegen die Schule, die den Geist auspeitscht. Die Jugend schwieg. – Sie hat noch nicht die Intuition gehabt, vor der der große Alterskomplex zusammenbricht. Jene gewaltige Ideologie: Erfahrung – Reife – Autorität – Vernunft – der gute Wille der Erwachsenen – sie wurde am Jugendtage nicht gesehen und nicht gestürzt.
Die Tatsache des Jugendtages bleibt das einzig Positive. Sie genügt, um uns gerüstet das nächste Jahr wieder zusammen zu führen, und so alle Jahre, bis auf einem freideutschen Jugendtage die Jugend spricht.
—————
Studentische Autorenabende
1914
Was an Dumpfheit, Geistesferne, Unzulänglichkeit der studentischen Gesellschaft einwohnt – niemand zweifelt, daß es an der Kunst sich verraten wird. Diesem Verrat will ich Worte geben. Sie gründen sich auf die unvergeßliche Katastrophe des Autorenabends vor einem Jahr, im übrigen auf meine Anschauung von Studententum und Kunst.
Ich werde den Autorenabend der Studenten kontrastieren gegen eine »Vorlesung aus eigenen Werken«, wie sie in den Lokalen Groß-Berlins vor sich gehen. Ein zahlendes Publikum ist erschienen, Neugierige, Ratlose, auch Inhaber von Freikarten – die meisten im Drang nach Freude. Man fand sich durch Geldvermittlung zusammen; wieviel an Geist aufgebracht wird, zum mindesten vom Publikum, ist nicht die Frage. Die Masse klatscht, der einzelne mag andächtig fühlen. Vom Geiste des Autors hängt der Abend ab: ist er Dilettant und will interessieren oder gar amüsieren, so hat alles seine gute Ordnung und die Kunst wird nicht bemüht. Vielleicht ist er ein Dichter. So wird er über diese Masse vor ihm hinweglesen – er samt der Kunst werden entrückt sein. Die Verzückung des einzelnen folgt ihm. Die Masse hat mit Kunst und die Kunst hier mit der Masse nichts zu tun. Das Geld wirkt desinfizierend. Als einzelner betritt der Geist die Stätten öffentlicher Kunstbarkeit – wer neben ihm sitzt, mußte zahlen.
Das hygienische Verfahren, das sauber die Kunst herauspräparierte aus unseren Theatern, Vortragsabenden, Konzerten – es ist das Zeichen fürchterlicher Armut. Doch das Wort gilt: arm aber reinlich.
Eine solche Hygiene der Armut, das letzte und niederste Lob, das zu geben ist (denn hier darf die Kunst noch auf unbetretenen Wegen mit ihren Jüngern fliehen), es ist dem studentischen Autorenabend abzusprechen. Der akademischen Gemeinschaft ist Heidentum, selbstgenügsame Kunstfremdheit nicht zu entschuldigen. Gedankenlosigkeit ist Sünde. Hier ist das Reich der geistigen Armut verschlossen. Täglicher Umgang mit dem Geistigen nimmt jedes Recht, vor der Kunst nach Art zahlender Bürger zu erscheinen.
Das bedeutet: ein studentischer Autorenabend kann sich das Maß seiner Geistigkeit nicht fakultativ bestimmen. Er steht von Anfang an unter einem Gesetz, unter dem, das die Kunst vorschreibt: sich zu einer Gemeinde vor ihr zusammenzufinden. Nicht das Geld führt zusammen.
Wir haben diese unentrinnbare Einsicht ernst zu nehmen. Ein studentischer Autorenabend hat von den beiden Möglichkeiten nur eine. Er setzt die Gemeinschaft voraus, die der Studenten, und er darf darauf nicht verzichten. Also heißt ein Autorenabend der Studenten: ein Abend, in dem der Gemeinschaftsgeist der Studenten sich mit der Kunst auseinandersetzt. Damit verwandelt sich das Verhältnis von Autor und Publikum. Ganz anders als im öffentlichen Vortragssaal, der keinen Gemeinschaftsnamen trägt, wird das Publikum wichtig. Und auch der Autor steht keineswegs mehr gleichgültig, im Namen der Kunst, über dem Publikum, noch weniger in einem wahllosen Publikum mitten innen, ohne andere Fühlung als die gegenseitige Plattheit.
Es verbindet ihn vielmehr die Kunst selbst mit dem Publikum. Dieser Wille zur Kunst macht den Autorenabend aus. Die pretiöse Unbestimmtheit der Kunsturteile verschwindet. Das Publikum erwartet nicht den erleuchteten Dichter – was hätte der noch mit Studentenschaft und Autorschaft zu tun? Das Publikum gebärdet sich keineswegs, weder erlebnis- noch literaturlüstern; sondern es ist in Erwartung seiner selbst, des Dilettanten, den es zur Kunst sich bekennen hört. Damit ist das Ziel der Kunsterziehung, das Ziel also auch einer literarischen Studentenabteilung im weitesten bestimmt. Erziehung zum Dilettanten, Erziehung zum Publikum. Nun aber wird der Dilettant nicht veredelt durch die Kunst, denn hier trägt er das Zeichen des Nichtkönners, sondern durch das Streben. Es ist wohl möglich, den Ernst und die Unbedingtheit des Schaffens auch außerhalb der großen Künstlerschaft zu bewähren, so sich für die Erkenntnis des Genius zu stählen, und dazu ist der Dilettant berufen. Er erscheint mit dem Bekenntnis der Schülerschaft. Den leidigen Absolutismus, dieses primitive Vor-der-Kunst-stehen und in sie Hineintappen wird er ablegen. Er wird Nachahmer sein, das Handwerk in den primitiven Anfängen erlernen. Dann wird er sich zum Mitläufer einer Kunstrichtung ausbilden, ernsthaft; einer, die sein Lebensgefühl, sein Wollen gebundener enthält als andere. Mit ihr wird er lernen und arbeiten, er wird sie bedenken und propagieren. Der Dilettant wird sich ansiedeln in einem Bezirke, von da mag er als Gebildeter rezeptiv in andere Gebiete sich wenden. Er wird das Publikum also zur Einsicht in die arbeitsame Bürgerlichkeit des Genius erziehen. In das Geniale des Genius können, brauchen sie nicht eingeführt zu werden.
Diesen Sinn hat studentische Autorschaft. Diese Bestimmung studentisches Publikum. Es muß sich einig sein in der Ablehnung des populär Gefühlten, in der Verwerfung aller kläglichen Unmittelbarkeiten, die aus privater Ahnungslosigkeit stammen. Es muß bereit sein zum Anblick des Neuen, Unerhörten und Revolutionären, das in ihren eigenen Reihen die Produktiven ergreift. Und einig in der Ablehnung, fest entschlossen in der Verneinung problemloser Klassik und tadelfreier Reimereien. Der Literat ist es, zu dem zunächst die Schar der Dilettanten sich wird bekennen müssen. Er als Legionär, beschmutzt und staubig von einem höheren Dienste, den er glaubt, ohne ihn zu begreifen, geht voran. Er hat zuerst seine Kinderstube vergessen. Die Kunstkonvention in ihrer Feigheit hat er erkannt. Er scheute sich nicht, seine eigene private und auch so harmlose Existenz harmvoll und öffentlich zu machen im Streite. Besessen von allen Nöten der Zeit und der Erkenntnis künstlerischer Unerbittlichkeiten, verschrieb er sich dem Dienste des Genius, dem er tödliche Berührungen mit dem Publikum ersparte.
Von der Ethik des Künstlers ist zu sagen, daß sie in schwer ergründlichen Wegen in sein Werk eingesenkt wurde. Sie erscheint in seiner künstlerischen Größe. Dem Künstler gibt sein Werk das Recht, zu sprechen. Nicht so dem Dilettanten. Seine Persönlichkeit, sein Ernst, seine sittliche Reinheit muß bürgen für die künstlerischen Versuche, die er vorlegt. Denn sie sind nicht als Kunst zu nehmen, als Offenbarung. Sie sind Zeugnisse des Menschlich-Kämpfenden, der in aller Verfluchtheit hinweist zu denen, die Formen fanden, der diesen Formen sich beugt. Er verkörpert das Menschlich-Bedingte der Kunst, ihr Zeitgeborenes, ihre immanente Tendenz. Er wird als Erzieher die anderen den Weg aus ihrem menschlichen Bedingtsein, ihrer sittlichen Richtung zur Kunst und zum neuen Genius hin lehren. Diesen Weg zu sehen, muß immer von neuem die Menschlichkeit erblickt werden, deren Bändigung und Lösung zugleich die Formen sind. Der Dilettant ist der eigentliche Erzieher zu diesem Sehen. Und nichts als die höchste und reinste Bildung dieses Dilettanten ist der Literat, von dem wir sprachen.
Ich schließe: ein studentischer Autorenabend muß Menschen sprechen lassen, deren sittliche Persönlichkeit zwingt. Erst dann wird das Publikum wissen, was eigentlich der studentische Autor, das studentische Publikum selbst bedeutet. Unmöglich aber scheint es, Gedichte solcher zu hören, deren künstlerischer Ernst unbekannt, deren Gefühl für Tragik problematisch, deren Erkenntnis der Zeit verschwindend bleibt. Unmöglich, solche, die wir nur von tätiger Geschäftigkeit her kannten, unleugbare Gefühle besprechen zu hören. Unmöglich auch, ungewisse Talente ihren Fähigkeiten frönen zu sehen. Möglich