Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Bedingungen der Bürgerlichkeit fehlten, wo bürgerliche Zustände, das heißt Familien, zu gründen aussichtslos war, wo in vielen Städten Europas eine tausendköpfige Menge von Frauen ihre ökonomische Existenz nur auf die Studierenden gründet – die Prostituierten –, noch da hat der Student sich nach dem Eros, der ihm ursprünglich eignet, nicht gefragt. Ihm mußte es fraglich werden, ob Zeugung und Schöpfung in ihm getrennt bleiben sollten, ob die eine der Familie, die andere dem Amte zukomme und, in ihrer Trennung beide verbildet, keines aus seinem eigentümlichen Dasein entspringen sollte. Denn so hohnvoll und schmerzhaft es ist, eine solche Frage an das Leben heutiger Studenten heranzuführen, so muß es geschehen, weil in ihnen – dem Wesen nach – diese beiden Pole menschlichen Daseins zeitlich beieinander liegen. Es handelt sich um die Frage, die keine Gemeinschaft ungelöst lassen kann und die doch seit den Griechen und frühen Christen kein Volk mehr in der Idee gemeistert hat; immer lastete sie auf den großen Schaffenden: wie sie dem Bilde der Menschheit genügen sollten und Gemeinschaft mit Frauen und Kindern ermöglichten, deren Produktivität anders gerichtet ist. Die Griechen, wie wir wissen, übten Gewalt, indem sie den zeugenden Eros dem schaffenden nachstellten, so daß endlich ihr Staat, aus dessen Inbegriff Frauen und Kinder verbannt waren, zerfiel. Die Christen gaben die mögliche Lösung für die civitas dei: sie verwarfen die Einzelheit in beiden. Die Studentenschaft hat es in ihren fortgeschrittensten Teilen immer bei unendlich ästhetisierenden Betrachtungen über Kameradschaftlichkeit und Studiengenossinnen gelassen; man scheute sich nicht, eine »gesunde« erotische Neutralisierung der Schüler und Schülerinnen zu erhoffen. In der Tat ist mit Hilfe der Dirnen die Neutralisierung des Eros in der Hochschule gelungen. Und wo sie ausblieb, ist jene so ganz haltlose Harmlosigkeit, jene schwüle Heiterkeit ausgebrochen, und die burschikose Studentin wird als Nachfolgerin der häßlichen alten Lehrerin jubelnd begrüßt. Hier drängt sich die allgemeine Bemerkung auf, wieviel mehr furchtsamen Instinkt die katholische Kirche für die Macht und Notwendigkeit des Eros hat, als das Bürgertum. Es liegt an den Hochschulen eine ungeheure Aufgabe verschüttet, ungelöst, verleugnet: größer als die zahllosen, an denen die soziale Geschäftigkeit sich reibt. Es ist diese: aus dem geistigen Leben heraus zur Einheit zu bilden, was an geistiger Unabhängigkeit des Schaffenden (im Korpsstudententum) und als ungemeisterte Naturmacht (in der Prostitution) verzerrt und zerstückelt als Torso des einen geistigen Eros uns traurig ansieht. Die notwendige Unabhängigkeit des Schaffenden und die notwendige Einbeziehung der Frau, welche nicht produktiv im Sinne des Mannes ist, in eine einzige Gemeinschaft Schaffender – durch Liebe – diese Gestaltung muß allerdings vom Studenten verlangt werden, weil sie Form seines Lebens ist. Hier aber herrscht so mörderische Konvention, daß noch nicht einmal das Studententum sein Bekenntnis der Schuld vor der Prostitution abgelegt hat; daß man diese ungeheure blasphemische Verwüstung mit Keuschheitsempfehlungen einzudämmen denkt, weil man wiederum nicht den Mut hat, dem eigenen schöneren Eros ins Auge zu blicken. Diese Verstümmelung der Jugend trifft ihr Wesen zu tief, als daß mit vielen Worten auf sie gewiesen werden könnte. Sie ist dem Bewußtsein der Denkenden zu überliefern und der Entschlossenheit der Mutigen. Der Polemik ist sie nicht erreichbar.
Wie sieht eine Jugend sich selbst an, welches Bild trägt sie von sich im Innern, die solche Verfinsterung ihrer eignen Idee, solche Beugung ihrer Lebensinhalte zuläßt? Dieses Bild ist im Korpsgeist ausgeprägt, und er ist noch immer der sichtbarste Träger des studentischen Jugendbegriffes, dem die andern, voran freistudentische Organisationen, ihre sozialen Schlagworte entgegenschleudern. Das deutsche Studententum ist, bald mehr bald minder, von der Idee besessen, es müsse seine Jugend genießen. Jene ganz irrationale Wartezeit auf Amt und Ehe mußte irgendeinen Inhalt aus sich herausgebären, und das mußte ein spielerischer, pseudo-romantischer, zeitvertreibender sein. Es ist ein furchtbares Stigma auf aller gerühmten Heiterkeit der Kommerslieder, auf der neuen Burschenherrlichkeit. Es ist Angst vor dem Kommenden und zugleich ein gemütsruhiges Paktieren mit dem unvermeidlichen Philistertum, das man sich als »alten Herrn« sehr gerne vor Augen hält. Weil man dem Bürgertum die Seele verkauft hat, samt Beruf und Ehe, hält man streng auf jene paar Jahre bürgerlicher Freiheiten. Dieser Tausch wird im Namen der Jugend eingegangen. Offen oder heimlich – auf der Kneipe oder in betäubenden Versammlungsreden wird der teuer erkaufte Rausch erzeugt, der ungestört bleiben soll. Es ist das Bewußtsein verspielter Jugend und verkauften Alters, das nach Ruhe dürstet, und an ihm sind die Versuche der Beseelung des Studententums zuletzt gescheitert. Aber wie diese Lebensform jeder Gegebenheit spottet und von allen geistigen und natürlichen Mächten gestraft wird, von der Wissenschaft durch den Staat, vom Eros durch die Hure, also vernichtend von der Natur. Denn die Studenten sind nicht die jüngste Generation, sondern die Alternden. Es ist ein heroischer Entschluß, das Alter zu erkennen, für solche, die ihre Jünglingsjahre auf deutschen Schulen verloren, und denen das Studium endlich das Leben des Jünglings zu eröffnen schien, das sich von Jahr zu Jahr ihnen versagte. Dennoch gilt es zu erkennen, daß sie Schaffende, also Einsame und Alternde sein müssen, daß ein reicheres Geschlecht von Jünglingen und Kindern schon lebt, dem sie sich nur als Lehrende weihen können. Von allen Gefühlen ist dies ihnen das fremdeste. Eben darum finden sie sich nicht in ihr Dasein und sind nicht bereit, von Anfang an mit den Kindern zu leben – denn das ist lehren –, weil sie nirgends in die Sphäre der Einsamkeit hineinragen. Weil sie ihr Alter nicht erkennen, gehen sie müßig. Nur die eingestandene Sehnsucht nach einer schönen Kindheit und würdigen Jugend ist die Bedingung des Schaffens. Ohne dies wird keine Erneuerung ihres Lebens möglich sein: ohne die Klage um versäumte Größe. Die Furcht vor Einsamkeit ist es, die ihre erotische Ungebundenheit verschuldet, Furcht vor Hingabe. Sie messen sich an den Vätern, nicht an den Nachgeborenen und retten den Schein ihrer Jugend. Ihre Freundschaft ist ohne Größe und Einsamkeit. Jene expansive, auf das Unendliche gerichtete Freundschaft der Schaffenden, die auch dann noch auf die Menschheit geht, wenn sie zu zweien oder ihre Sehnsucht allein bleibt, hat keine Stelle in der Jugend der Hochschulen. Ihre Statt hat die persönlich zugleich beschränkte und zügellose Verbrüderung, die sich gleich bleibt auf der Kneipe und bei der Vereinsgründung im Café. Diese Lebensinstitutionen alle sind ein Markt von Vorläufigem, wie das Treiben in Kollegien und Cafés, Ausfüllungen leerer Wartezeit, Ablenkung vom Ruf der Stimme, ihr Leben aus dem einigen Geiste von Schaffen, Eros, Jugend aufzubauen. Es gilt eine keusche und verzichtende Jugend, die von der Ehrfurcht vor den Nachfolgenden erfüllt ist, von der Georges Verse zeugen:
Erfinder rollenden gesangs und sprühend
Gewandter Zwiegespräche: frist und trennung
Erlaubt dass ich auf meine dächtnistafel
Den frühem gegner grabe – tu desgleichen!
Denn auf des rausches und der regung leiter
Sind beide wir im sinken nie mehr werden
Der knaben preis und jubel so mir schmeicheln
Nie wieder strofen so im ohr dir donnern.
Aus Mutlosigkeit ist das Leben der Studenten solcher Erkenntnis ferngerückt. Es folgt aber jede Lebensform und ihr Rhythmus aus den Geboten, die das Leben Schaffender bestimmen. Solange sie sich dem entziehen, wird ihr Dasein sie mit Häßlichkeit strafen, und noch den Stumpfen wird Hoffnungslosigkeit ins Herz treffen.
Noch geht es um die äußerste gefährdete Notwendigkeit, es bedarf der strengen Richtung. Jeder wird seine eignen Gebote finden, der die oberste Forderung an sein Leben heranträgt. Er wird das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend befreien.
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Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien
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Gespräch über die Liebe
1913
agathon Du sagtest kürzlich, Sophia, es gäbe nur eine Liebe. Wie kann ich dies begreifen, da es Gatten-, Freundes- und Kindesliebe gibt, der anderen zu geschweigen! Sind all dies verschiedene Formen desselben Inhaltes? Oder ist nicht vielleicht Liebe selbst schon ein Mannigfaltiges, und unsere arme Sprache begnügt sich mit einem Wort für ein Vielerlei?
vincent Es gibt nur eine Liebe, Agathon. Gatten lieben einander mit derselben