Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
es endlich sich selber: Größe wurde es unter ihrem Blick, wie das Leben Größe war vor dem vergeblichen Gespräche. Die schweigenden Frauen sind die Sprecher des Gesprochenen. Sie treten aus dem Kreise, sie allein sehen die Vollendung seiner Rundung.
Sie alle bei einander klagen nicht, sie schauen bewundernd. Die Liebe ihrer Leiber ist ohne Zeugung, aber ihre Liebe ist schön anzusehen. Und sie wagen den Anblick an einander. Er macht eratmen, während die Worte im Raum verhallen. Das Schweigen und die Wollust – ewig geschieden im Gespräch – sind eins geworden. Schweigen der Gespräche war zukünftige Wollust, Wollust war vergangenes Schweigen. Unter den Frauen aber geschah der Anblick der Gespräche von der Grenze schweigender Wollust. Da erstand erleuchtend die Jugend der dunklen Gespräche. Es erstrahlte das Wesen.
~Das Tagebuch~
Nachbarländer mögen in Sehweite liegen
Daß man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann.
Und doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben
Ohne hin und her gereist zu sein.
Lao-Tse
I
Wir wollen auf die Quellen der unnennbaren Verzweiflung achten, die in allen Seelen fließen. Die Seelen horchen angespannt nach der Melodie ihrer Jugend, deren man sie tausendfach versichert. Aber je mehr sie in die ungewissen Jahrzehnte sich versenken und ihr Zukünftigstes ihrer Jugend noch einbeziehen, desto verwaister atmen sie in der leeren Gegenwart. Eines Tages erwachen sie zur Verzweiflung: der Entstehungstag des Tagebuches.
Es stellt mit hoffnungslosem Ernst die Frage, in welcher Zeit der Mensch lebt. Daß er in keiner Zeit lebt haben die Denkenden immer gewußt. Die Unsterblichkeit der Gedanken und Taten verbannt ihn in Zeitlosigkeit, in deren Mitte lauert der unbegreifliche Tod. Zeitlebens umspannt ihn Leere der Zeit und dennoch Unsterblichkeit nicht. Gefressen von den mannigfaltigen Dingen entschwand die Zeit ihm, jenes Medium ward zerstört, in der die reine Melodie seiner Jugend schwellen sollte. Die erfüllte Stille in der seine späte Größe reifen sollte wurde ihm entwendet. Ihm entwendete sie der Alltag, unterbrach mit Geschehnis, Zufall und Verpflichtung tausendfältig jugendliche Zeit, unsterbliche, die er nicht ahnte. Drohender noch erhob hinter der Alltäglichkeit sich der Tod. Jetzt erscheint er noch im Kleinen und tötet täglich, um weiter leben zu lassen. Bis eines Tages der große Tod aus Wolken fällt, wie eine Hand, die nicht mehr leben läßt. Von Tag zu Tag, Sekunde zu Sekunde selbsterhält sich das Ich, klammert sich an das Instrument: die Zeit, die es spielen sollte.
Der also Verzweifelte entsann sich seiner Kindheit, damals war noch Zeit ohne Flucht und Ich ohne Sterben. Er sieht und sieht hinab in jene Strömung, aus der er aufgetaucht war, und er verliert langsam, endlich und erlösend sein Begreifen. In solcher Vergessenheit, unwissend was er meint und doch erlöster Meinung entstand das Tagebuch. Dies unergründliche Buch eines nie gelebten Lebens, Buch eines Lebens, in dessen Zeit alles, was wir unzulänglich erlebten, sich zum Vollendeten verwandelt.
Das Tagebuch ist eine Befreiungstat, heimlich und schrankenlos in ihrem Siege. Kein Unfreier wird dieses Buch verstehen. Da das Ich verzehrt von Sehnsucht nach sich selbst, verzehrt vom Willen zur Jugend, verzehrt von Machtlust über die Jahrzehnte, die kommen werden, verzehrt von Sehnsucht, sich gesammelt durch die Tage hinzutragen, von Lust des Müßigganges entzündet zu dunklem Feuer – da es sich dennoch verflucht sah in die Zeit des Kalenders, der Uhren und Börsen und kein Strahl einer Zeit der Unsterblichkeit sich zu ihm senkte – da begann es selber zu erstrahlen. Strahl, wußte es, bin ich selber. Nicht die trübe Innerlichkeit jenes Erlebenden, der mich Ich nennt und mit Vertrautheit martert, sondern Strahl des andern, das zu bedrängen mich schien und das ich doch selbst bin: Strahl der Zeit. Zitternd steht ein Ich, das wir aus unsern Tagebüchern nur kennen, am Rande der Unsterblichkeit, in die es hinabstürzt. Es ist ja Zeit. In ihm, dem Ich, dem Geschehnisse widerfahren, Menschen begegnen, Freunde, Feinde und Geliebte, in ihm verläuft die unsterbliche Zeit, die Zeit seiner Größe selber läuft ab in ihm, ihre Erstrahlung ist er und nichts anderes.
Dieser Gläubige schreibt sein Tagebuch. Und er schreibt es in Abständen, und wird es nie beenden, denn er wird sterben. Was ist der Abstand im Tagebuche? Es handelt ja nicht in der Zeit der Entwicklung, die ist aufgehoben. Es handelt gar nicht in der Zeit, die ist versunken. Sondern es ist ein Buch von der Zeit: Tagebuch. Das sendet die Strahlen seiner Erkenntnis durch den Raum. Im Tagebuch verläuft die Kette der Erlebnisse nicht, dann wäre es ohne Abstand. Sondern die Zeit ist aufgehoben und aufgehoben ein Ich, das in ihr handelt; ich bin ganz und gar in Zeit versetzt, sie strahlt mich aus. Diesem Ich, der Schöpfung der Zeit, kann nichts mehr widerfahren. Ihm beugt sich alles andere, dem noch Zeit geschieht. Denn allem andern geschieht unser Ich als Zeit, allen Dingen widerfährt das Ich im Tagebuche, sie leben zum Ich dahin. Aber diesem, der Geburt der unsterblichen Zeit, geschieht Zeit nicht mehr. Das Zeitlose widerfährt ihm, in ihm sind alle Dinge versammelt, ihm bei. Allmächtig lebt es im Abstand, im Abstand (dem Schweigen des Tagebuches) widerfährt dem Ich seine eigene, die reine Zeit. Im Abstand ist es in sich selbst gesammelt, kein Ding drängt sich in sein unsterbliches Beieinander. Hier schöpft es Kraft, den Dingen zu widerfahren, sie in sich zu reißen, sein Schicksal zu verkennen. Der Abstand ist sicher, und wo geschwiegen wird, kann nichts widerfahren. Keine Katastrophe findet in die Zeilen dieses Buches Eingang. Also glauben wir nicht an Ableitungen und Quellen; nie erinnern wir uns dessen, was uns widerfahren. Die Zeit, die erstrahlte als Ich, das wir sind, widerfährt allen Dingen um uns als unser Schicksal. Jene Zeit, unser Wesen, ist das Unsterbliche, in dem andere sterben. Was diese tötet, läßt uns im Tode (dem letzten Abstand) uns wesenhaft fühlen.
II
Neigend erstrahlt in Zeit die Geliebte der Landschaft,
Aber verdunkelt verharrt über der Mitte der Feind.
Seine Flügel schläfern. Der schwarze Erlöser der Lande
Haucht sein kristallenes: Nein und er beschließt unsern Tod.
Zögernd tritt selten das Tagebuch heraus aus der Unsterblichkeit seines Abstandes und schreibt sich. Lautlos jubelt es auf und sieht über die Schicksale hin, die klar und zeitgewoben in ihm liegen. Durstend nach Bestimmtheit treten die Dinge auf ihn zu, erwartend Schicksal aus seiner Hand zu empfangen. Sie senden ihr Ohnmächtigstes der Hoheit entgegen, ihr Unbestimmtestes erfleht Bestimmung. Sie grenzen das menschliche Wesen ein durch ihr fragendes Dasein, vertiefen Zeit; und indem sie selber auf das Äußerste den Dingen geschieht, vibriert eine leise Unsicherheit in ihr, welche fragend der Frage der Dinge Antwort gibt. Im Wechsel solcher Vibrationen lebt das Ich. Dies ist der Inhalt unserer Tagebücher: zu uns bekennt sich unser Schicksal, weil wir es auf uns schon längst nicht mehr bezogen – wir Verstorbenen, die wir auferstehen in dem, was uns zustößt.
Es gibt aber einen Ort jener Auferstehungen des Ich, wenn die Zeit in immer weitere und weitere Wellen es hinaussendet. Das ist die Landschaft. Als Landschaft umgibt uns alles Geschehen, denn wir, die Zeit der Dinge, kennen keine Zeit. Nur Neigungen der Bäume, Horizont und Schärfe der Bergrücken, die plötzlich voll Beziehung erwachen, indem sie uns in ihre Mitte stellen. Die Landschaft versetzt uns in ihre Mitte, es umzittern uns mit Frage Wipfel, umdunkeln uns mit Nebel Täler, bedrängen uns mit Formen unbegreifliche Häuser. Diesem allen widerfahren wir, ihr Mittelpunkt. Es bleibt aber von aller Zeit, da wir erzittern, eine Frage uns im Innern: sind wir Zeit? Hochmut verlockt uns zum Ja – dann verschwände die Landschaft. Wir wären Bürger. Aber der Bann des Buches läßt uns schweigen. Einzige Antwort ist, daß wir einen Pfad beschreiten. Aber uns heiligt im Schreiten der gleiche Umkreis. Und wie wir antwortlos mit der Bewegung unseres Leibes die Dinge bestimmen, Mitte sind und uns wandernd fernen und nähern, lösen wir Bäume und Felder aus ihresgleichen, überströmen sie mit der Zeit unseres Daseins. Feld und Berge bestimmen wir in ihrer Willkür: sie sind unser vergangenes Sein – so prophezeite die Kindheit. Wir sind zukünftig sie. Die Landschaft empfängt in der Nacktheit der Zukünftigkeit uns die Großen. Entblößt erwidert sie die Schauer der Zeitlichkeit, mit der wir die Landschaft bestürmen. Hier erwachen wir und haben am Morgenmahle der Jugend teil. Die Dinge sehen uns, ihr Blick schwingt uns ins Kommende, da wir ihnen nicht antworten sondern sie beschreiten. Um uns