Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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und Leben ist, deren Einheiten selbst durchaus nicht erfaßbar sind. Das Gedichtete wird sich so als die Voraussetzung des Gedichts, als seine innere Form, als künstlerische Aufgabe zeigen. Das Gesetz, nach dem alle scheinbaren Elemente der Sinnlichkeit und der Ideen sich als Inbegriffe der wesentlichen, prinzipiell unendlichen Funktionen zeigen, wird das Identitätsgesetz genannt. Damit wird die synthetische Einheit der Funktionen bezeichnet. Sie wird in ihrer jeweils besonderen Gestalt als ein Apriori des Gedichts erkannt. Die Ermittelung des reinen Gedichteten, der absoluten Aufgabe, muß nach allem Gesagten das rein methodische, ideelle Ziel bleiben. Das reine Gedichtete würde aufhören Grenzbegriff zu sein: es wäre Leben oder Gedicht. – Ehe die Anwendbarkeit der Methode für die Ästhetik der Lyrik überhaupt, vielleicht auch für fernere Bezirke geprüft ist, verbieten sich weitere Ausführungen. Erst dann kann sich klar ergeben, was Apriori des einzelnen Gedichts, was ein solches des Gedichts überhaupt oder gar andrer Dichtungsarten, oder selbst der Dichtung überhaupt ist. Deutlicher aber wird sich zeigen, daß über lyrische Dichtung das Urteil, wenn nicht zu beweisen, so doch zu begründen ist.

      Zwei Gedichte Hölderlins, »Dichtermut« und »Blödigkeit«, wie sie uns aus der Reife- und Spätzeit überkommen sind, werden nach dieser Methode untersucht. Sie wird im Verlaufe die Vergleichbarkeit der Gedichte erweisen. Eine gewisse Verwandtschaft verbindet sie, sodaß man von verschiedenen Fassungen sprechen könnte. Eine Fassung, die zwischen die früheste und späteste gehört (»Dichtermut« zweite Fassung) bleibt als unwesentlicher hier unbesprochen.

      Die Betrachtung ergibt für die erste Fassung eine beträchtliche Unbestimmtheit des Anschaulichen und Unverbundenheit im einzelnen. So ist der Mythos des Gedichts vom Mythologischen noch durchwuchert. Das Mythologische erweist sich als Mythos erst in dem Maße seiner Verbundenheit. An der inneren Einheit von Gott und Schicksal ist der Mythos erkennbar. Am Walten der ἀνάγκη. Ein Schicksal ist Hölderlin in der ersten Fassung seines Gedichtes Gegenstand: der Tod des Dichters. Er besingt die Quellen des Mutes zu diesem Tode. Dieser Tod ist die Mitte, aus der die Welt des dichterischen Sterbens entspringen sollte. Das Dasein in jener Welt wäre der Mut des Dichters. Aber hier ist nur der wachsamsten Ahnung ein Strahl dieser Gesetzlichkeit aus einer Welt des Dichters fühlbar. Schüchtern erhebt sich erst die Stimme, einen Kosmos zu singen, dem der Tod des Dichters den eignen Untergang bedeutet. Der Mythos bildet sich vielmehr aus der Mythologie. Der Sonnengott ist der Ahn des Dichters und sein Sterben ist das Schicksal, an dem der Tod des Dichters, erst gespiegelt, wirklich wird. Eine Schönheit, deren innere Quelle wir nicht kennen, löst die Gestalt des Dichters – kaum minder die des Gottes – auf, anstatt sie zu formen. – Noch begründet sich der Mut des Dichters seltsam aus einer andern, fremden Ordnung. Aus der Verwandtschaft der Lebendigen. Von ihr gewinnt er Verbundenheit mit seinem Schicksal. Was hat dem dichterischen Mut die Volksverwandtschaft zu bedeuten? Nicht fühlbar wird im Gedicht das tiefere Recht, aus dem der Dichter seinem Volk, den Lebendigen, sich anlehnt und ihnen verwandt fühlt. Wir wissen diesen Gedanken einen der tröstenden der Dichter, wissen ihn besonders teuer Hölderlin. Dennoch kann jene Naturverbundenheit allem Volke uns hier nicht begründet sein als Bedingung dichterischen Lebens. Warum feiert – und mit höherem Recht – der Dichter nicht das Odi profanum? Dies darf, muß gefragt werden, wo die Lebendigen noch keine geistige Ordnung begründen. – Höchst erstaunlich greift, mit beiden Armen, der Dichter in fremde Weltordnungen, nach Volk und Gott, seinen eignen, den Mut der Dichter in sich aufzurichten. Aber der Gesang, das Innerliche des Dichters, die bedeutende Quelle seiner Tugend, erscheint, wo er genannt ist, schwach, ohne Gewalt und Größe. Das Gedicht lebt in der griechischen Welt, eine dem Griechischen angenäherte Schönheit belebt es und von der Mythologie der Griechen ist es beherrscht. Das besondere Prinzip griechischer Gestaltung ist aber nicht rein entfaltet. »Denn seitdem der Gesang sterblichen Lippen sich | Friedenatmend entwand, frommend in Leid und Glück | Unsre Weise der Menschen | Herz erfreute …«. Diese Worte enthalten die Ehrfurcht vor der Gestalt des Dichterischen, die Pindar – und mit ihm den späten Hölderlin – erfüllte, nur sehr geschwächt. Auch die »Sänger des Volks«, jedem »hold«, dienen, so gesehen, nicht, einen anschaulichen Weltgrund diesem Gedicht zu legen. In der Gestalt des sterbenden Sonnengottes bezeugt sich am deutlichsten eine in allen Elementen unbezwungene Zweiheit. Noch spielt die idyllische Natur entgegen der Gestalt des Gottes ihre besondere Rolle. Die Schönheit – anders gesprochen – ist noch nicht restlos Gestalt geworden. Es fließt auch die Vorstellung des Todes nicht aus reinem gestalteten Zusammenhang. Der Tod selbst ist nicht – wie er später verstanden ist – Gestalt in ihrer tiefsten Bindung, er ist Verlöschen des plastischen, heroischen Wesens in der unbestimmten Schönheit der Natur. Raum und Zeit dieses Todes sind noch nicht im Geiste der Gestalt als Einheit entsprungen. Die gleiche Unbestimmtheit des formenden Prinzips, die so stark sich gegen das beschworne Griechentum abhebt, bedroht das ganze Gedicht. Die Schönheit, die fast stimmungsmäßig die schöne Erscheinung des Gesanges der Heiterkeit des Gottes verbindet, diese Vereinzelung des Gottes, dessen mythologisches Schicksal nur eine analogische Bedeutung für den Dichter aufbringt, sie entspringen nicht der Mitte einer gestalteten Welt, deren mythisches Gesetz der Tod wäre. Sondern eine nur schwach gefügte Welt stirbt mit der sinkenden Sonne in Schönheit. Das Verhältnis der Götter und Menschen zur dichterischen Welt, zur raumzeitlichen Einheit, in der sie leben, ist nicht intensiv, auch nicht rein griechisch, durchgestaltet. Es muß völlig erkannt werden, daß das Gefühl des Lebens, eines ausgebreiteten und unbestimmten Lebens, das garnicht konventionsfreie Grundgefühl dieser Dichtung ist, daß also daher die stimmungsvolle Verbindung ihrer in Schönheit vereinzelten Glieder sich herschreibt. Das Leben als unbezweifelte – liebliche vielleicht, vielleicht erhabene – Grundtatsache bestimmt noch (Gedanken auch verschleiernd) diese Welt Hölderlins. Davon zeugt auf seltsame Art auch die sprachliche Bildung des Titels, da eine eigentümliche Unklarheit jene Tugend auszeichnet, der man den Namen ihres Trägers beigibt, uns so auf eine Trübung ihrer Reinheit durch allzugroße Lebensnähe dieser Tugend hinweisend. (Vergl. die Sprachbildung: Weibertreue) Ein fast fremder Klang fällt der Schluß mit Ernst in die Kette der Bilder »Und dem Geiste sein Recht nirgend gebricht«, diese gewaltige Mahnung, die dem Mute entsprungen ist, steht hier allein, und nur die Größe eines Bildes findet aus einer frühem Strophe sich zu ihr »uns … | Aufgerichtet an goldnen | Gängelbanden, wie Kinder, hält.« Die Verbundenheit des Gottes mit Menschen ist nach starren Rhythmen in ein großes Bild gezwungen. Aber in seiner Vereinzelung vermag es nicht, den Grund jener verbundenen Mächte zu deuten und verliert sich. Erst die Gewalt der Umwandlung wird es deutlich und auszusprechen schicklich machen: das dichterische Gesetz hat sich dieser hölderlinschen Welt noch nicht erfüllt.

      Was innerster Zusammenhang jener dichterischen Welt bedeutet, die angedeutet die erste Fassung enthält, und wie Vertiefung die Umwälzung der Struktur bedingt, wie von der gestalteten Mitte her notwendig Gestaltung von Vers zu Vers dringt, dies ergibt die letzte Fassung. Die unanschauliche Lebensvorstellung, ein unmythischer, schicksalloser Lebensbegriff aus einer geistig unbeträchtlichen Sphäre, wurde als bindende Voraussetzung des früheren Entwurfes gefunden. Wo Vereinzelung der Gestalt, Beziehungslosigkeit des Geschehens war, tritt nun die anschaulich-geistige Ordnung, der neue Kosmos des Dichters. Schwer ist es, einen möglichen Zugang zu dieser völlig einheitlichen und einzigen Welt zu gewinnen. Die Undurchdringlichkeit der Beziehungen stellt jedem andern als fühlenden Erfassen sich entgegen. Die Methode verlangt, von Verbundnem von Anfang an auszugehen, um Einsicht in die Fügung zu gewinnen. Vom Gestaltzusammenhange her vergleiche man den dichterischen Aufbau beider Fassungen, so der Mitte der Verbundenheiten langsam zustrebend. Es wurde die unbestimmte Zugehörigkeit von Volk und Gott zu einander (wie auch zum Dichter) früher schon erkannt. Dagegen steht die gewaltige Zugehörigkeit der einzelnen Sphären im letzten Gedicht. Die Götter und die Lebendigen sind im Schicksal des Dichters ehern verbunden. Aufgehoben ist die hergebrachte und einfache Überordnung der Mythologie. Vom Gesang, der sie »der Einkehr zu« führt, ist gesagt, daß er »Himmlischen gleich« Menschen führe – und die Himmlischen selbst. Aufgehoben ist also der eigentliche Grund der Vergleichung, denn der Fortgang sagt: auch die Himmlischen, und sie nicht anders als die Menschen, führt der Gesang. Die Ordnung der Götter und Menschen ist hier – in der Mitte des Gedichts – seltsam gegen einander gehoben, die eine geglichen durch die andere. (Wie zwei Waagschalen: man beläßt sie in ihrer Gegenstellung, doch hebt sie vom Waagebalken.) Damit tritt sehr vernehmlich das formale Grundgesetz des Gedichteten auf, der Ursprung jener Gesetzlichkeit, deren Erfüllung der letzten


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