Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


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sie die reine Welt zeitlicher Plastik im Bewußtsein; die Idee wird in ihr herrschend; wo vordem das Wahre der Aktivität des Dichters einbeschlossen war, tritt es nun beherrschend in sinnlicher Erfülltheit auf. In der Formung dieses Weltbildes wird immer strenger jede Anlehnung an konventionelle Mythologie getilgt. Für das entlegnere »Ahne« tritt der »Vater« ein, der Sonnengott ist in einen Gott des Himmels verwandelt. Die plastische, ja architektonische Bedeutung des Himmels ist unendlich viel größer als die der Sonne. Zugleich aber ist hier deutlich, wie fortschreitend den Unterschied zwischen Gestalt und Gestaltlosem der Dichter aufhebt; und der Himmel bedeutet so sehr eine Ausdehnung, als auch zugleich eine Verringerung der Gestalt, im Vergleich mit der Sonne. Die Gewalt dieses Zusammenhanges erhellt das folgende »Aufgerichtet an goldnen | Gängelbanden, wie Kinder, hält.« Wieder muß die Starrheit und Unzugänglichkeit des Bildes an orientalisches Sehen gemahnen. Indem mitten im ungestalteten Raume die plastische Verbindung mit dem Gott gegeben – ihrer Intensität nach durch die Farbe betont, die einzige, die die neue Fassung enthält – wirkt diese Zeile auf das seltsamste fremd und fast ertötend. Das architektonische Element ist so stark, daß es der Beziehung, die im Bilde des Himmels gegeben war, entspricht. Die Gestalten der dichterischen Welt sind unendlich und doch begrenzend zugleich; es muß dem inneren Gesetz zufolge die Gestalt eben so sehr im Dasein des Gesanges aufgehoben sein und in ihn eingehen, wie die bewegten Kräfte der Lebendigen. Auch der Gott muß am Ende dem Gesange zum Besten dienen und sein Gesetz vollstrecken, wie das Volk Zeichen seiner Erstreckung sein mußte. Dies erfüllt sich am Ende: »und von den Himmlischen | Einen bringen.« Die Gestaltung, das innerlich plastische Prinzip, ist so gesteigert, daß das Verhängnis der toten Form über den Gott hereingebrochen ist, daß – um im Bilde zu sprechen – die Plastik von innen nach außen umschlug und nun völlig der Gott zum Gegenstande wurde. Die zeitliche Form ist von innen nach außen gebrochen als Bewegtes. Der Himmlische wird gebracht. Hier liegt ein höchster Ausdruck von Identität vor: der griechische Gott ist seinem eignen Prinzip, der Gestalt, ganz anheimgefallen. Der höchste Frevel ist gedeutet: ὕβρις, die ganz nur dem Gott erreichbar, bildet zur toten Gestalt ihn um. Sich selbst Gestalt geben, das heißt ὕβρις. Der Gott hört auf, den Kosmos des Gesanges zu bestimmen, dessen Wesen vielmehr – mit Kunst – erwählt sich frei das Gegenständliche: er bringt den Gott, da Götter schon zum versachlichten Sein der Welt im Gedanken geworden sind. Es ist schon hier die bewundrungswürdige Fügung der letzten Strophe zu erkennen, in der das immanente Ziel aller Gestaltung dieses Gedichts sich zusammenfaßt. Die räumliche Erstreckung der Lebendigen bestimmt sich in dem zeitlich innerlichen Eingreifen des Dichters: so erklärte sich das Wort »geschickt«; in der gleichen Vereinzelung, in der das Volk zu einer Reihe von Funktionen des Schicksals geworden ist. »Gut auch sind und geschickt einem zu etwas wir« – ist der Gott Gegenstand in seiner toten Unendlichkeit geworden, der Dichter ergreift ihn. Die Ordnung von Volk und Gott als aufgelöst in Einheiten wird hier zur Einheit im dichterischen Schicksal. Es ist die vielfache Identität, in der Volk und Gott wie die Bedingungen sinnlichen Daseins aufgehoben sind, offenbar. Einem andern gebührt die Mitte dieser Welt.

      Die Durchdringung der einzelnen Anschauungsformen untereinander und ihre Verbundenheit in und mit dem Geistigen, als Idee, Schicksal u. s. f. ist im einzelnen weit genug verfolgt. Nicht um die Ermittlung der letzten Elemente kann es sich am Ende handeln, denn das letzte Gesetz dieser Welt ist eben die Verbundenheit: als Einheit der Funktion von Verbindendem und Verbundenem. Aber ein besonders zentraler Ort dieser Verbundenheit muß noch aufgewiesen werden, in dem die Grenze des Gedichteten gegen das Leben am weitesten vorgeschoben ist, an dem die Energie der innern Form sich um so mächtiger erweist, je flutender und formloser das bedeutete Leben ist. An diesem Orte wird die Einheit des Gedichteten sichtbar, am weitesten werden die Verbundenheiten überschaut und die Abwandlung beider Gedichtfassungen, die Vertiefung der ersten in der letzten erkannt. – Von einer Einheit des Gedichteten in der ersten Fassung darf nicht gesprochen werden. Der Ablauf wird von der ausführlichen Analogie des Dichters mit dem Sonnengott unterbrochen, danach aber kehrt er nicht wieder mit ganzer Intensität zu dem Dichter zurück. Es liegt in dieser Fassung, in ihrer ausführlichen Sondergestaltung des Sterbens, auch ihrem Titel nach, noch die Spannung zwischen zwei Welten – der des Dichters und jener »Wirklichkeit«, in der der Tod droht, die hier nur eingekleidet als Göttlichkeit erscheint. Später ist die Zweiheit der Welten verschwunden, mit dem Sterben ist die Eigenschaft des Mutes dahingefallen, im Ablauf ist nichts als das Dasein des Dichters gegeben. Die Frage, worauf die Vergleichbarkeit dieser in allem einzelnen wie im Ablauf so völlig unterschiednen Entwürfe beruht, ist also dringend. Wiederum kann nicht die Gleichheit eines Elementes, sondern nur die Verbundenheit in einer Funktion die Vergleichbarkeit der Gedichte erweisen. Diese Funktion liegt in dem einzig aufweisbaren Funktionsinbegriff, dem Gedichteten. Das Gedichtete beider Fassungen – nicht in seiner Gleichheit, deren keine besteht, sondern in seiner »Vergleichheit« – soll verglichen werden. Beide Gedichte sind in ihrem Gedichteten verbunden und zwar in einem Verhalten zur Welt. Dieses ist der Mut, der, je tiefer er verstanden ist, desto weniger eine Eigenschaft, sondern eine Beziehung von Mensch zu Welt und von Welt zu Mensch wird. Das Gedichtete der ersten Fassung kennt den Mut nur erst als Eigenschaft. Mensch und Tod stehen sich gegenüber, beide starr, keine anschauliche Welt ist ihnen gemeinsam. Zwar im Dichter, in seinem göttlich-natürlichen Dasein, war versucht, schon eine tiefe Beziehung zum Tode zu finden; doch nur mittelbar durch die Vermittelung des Gottes, dem der Tod – mythologisch – eigen war und dem der Dichter – mythologisch wiederum – angenähert wurde. Es war das Leben noch Vorbedingung des Todes, die Gestalt entsprang der Natur. Die entschlossene Formung von Anschauung und Gestalt aus einem geistigen Prinzip war vermieden, so blieben sie ohne Durchdringung. Die Gefahr des Todes war in diesem Gedichte überwunden durch Schönheit. Während der spätem Fassung alle Schönheit herfließt aus Überwindung der Gefahr. Früher endete Hölderlin mit der Auflösung der Gestalt, während der reine Grund der Gestaltung am Ende der neuen Fassung erscheint. Und diese ist nun aus einem geistigen Grunde gewonnen. Die Zweiheit: Mensch und Tod konnte so nur in einem läßlichen Lebensgefühl beruhen. Sie blieb nicht bestehen, da das Gedichtete sich zu tiefrer Verbundenheit zusammenschloß und ein geistiges Prinzip – der Mut – von sich aus das Leben gestaltete. Mut ist Hingabe an die Gefahr, welche die Welt bedroht. In ihm liegt eine besondere Paradoxie verborgen, von der aus erst das Gefüge des Gedichteten der beiden Fassungen ganz verstanden wird: dem Mutigen besteht die Gefahr und dennoch achtet er sie nicht. Denn er wäre feige, würde er sie achten; und bestünde sie ihm nicht — er wäre nicht mutig. Dieses seltsame Verhältnis löst sich, indem dem Mutigen selbst die Gefahr nicht droht, jedoch der Welt. Mut ist das Lebensgefühl des Menschen, der sich der Gefahr preisgibt, dadurch sie in seinem Tode zur Gefahr der Welt erweitert und überwindet zugleich. Die Größe der Gefahr entspringt im Mutigen – erst indem sie ihn trifft, in seiner ganzen Hingabe an sie, trifft sie die Welt. In seinem Tode aber ist sie überwunden, hat die Welt erreicht, der sie nicht mehr droht; in ihm ist Freiwerden und Stabilierung zugleich der ungeheuren Kräfte – die täglich als begrenzte Dinge den Leib umgeben. Im Tode sind schon diese Kräfte umgesprungen, die dem Mutigen drohten als Gefahr, sind in ihm beruhigt. (Dies ist die Versachlichung der Kräfte, die schon das Wesen der Götter dem Dichter näherte.) Die Welt des toten Helden ist eine neue mythische, mit Gefahr gesättigt: dies eben ist die Welt der zweiten Gedichtfassung. In ihr durchaus ist ein geistiges Prinzip herrschend geworden: die Einswerdung des heldischen Dichters mit der Welt. Der Dichter hat den Tod nicht zu fürchten, er ist Held, weil er die Mitte aller Beziehungen lebt. Das Prinzip des Gedichteten überhaupt ist die Alleinherrschaft der Beziehung. In diesem besondern Gedicht als Mut gestaltet: als innerste Identität des Dichters mit der Welt, deren Ausfluß alle Identitäten des Anschaulichen und Geistigen dieser Dichtung sind. Das ist der Grund, in dem immer wieder die gesonderte Gestalt sich aufhebt in der raumzeitlichen Ordnung, in der sie als gestaltlos, allgestalt, Vorgang und Dasein, zeitliche Plastik und räumliches Geschehen aufgehoben ist. Vereint sind im Tode, der seine Welt ist, alle erkannten Beziehungen. In ihm ist höchste unendliche Gestalt und Gestaltlosigkeit, zeitliche Plastik und räumliches Dasein, Idee und Sinnlichkeit. Und jede Funktion des Lebens in dieser Welt ist Schicksal, während in der ersten Fassung herkömmlich das Schicksal das Leben bestimmte. Das ist das orientalische, mystische, die Grenzen überwindende Prinzip, das in diesem Gedicht so offenbar immer wieder das griechische gestaltende Prinzip aufhebt, das einen geistigen Kosmos schafft aus reinen Beziehungen der Anschauung, des sinnlichen Daseins, in dem das Geistige nur Ausdruck


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