Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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die Einsamkeiten der Menschen zum Reigen schließt. Sie schreitet und ihr Schritt ordnet die Tanzenden, einige drängt sie hinaus, die zerschellen an den Tischen, wo der Lärm der Einsamen waltet, oder wo in Gängen Menschen gehen wie auf hohen Drahtseilen durch die Nacht.

      Wann jemals gelangte Nacht zur Helle und ward ausgestrahlt, wenn nicht hier? Wann jemals ward Zeit überwunden? Wer weiß, wen wir zu dieser Stunde treffen? Sonst (gäbe es ein »sonst«) waren wir eben hier, aber schon vollendet, sonst vielleicht gossen wir die Neige des abgebrauchten Tages fort und schmeckten den neuen. Aber nun gießen wir den schäumenden Tag über in das purpurne Krystall der Nacht, er wird ruhig und funkelt.

      Die Musik entrückt die Gedanken, unsere Augen spiegeln die Freunde rings umher, wie sich alle bewegen, umflossen von Nacht. Wirklich sind wir in einem Hause ohne Fenster, in einem Saal ohne Welt. Treppen geleiten hinauf und hinunter, marmorn. Hier ist die Zeit eingefangen. In uns regt sie nur noch manchmal widrig ihren ermüdeten Atem und macht uns unruhig. Aber ein Wort, hineingesprochen in die Nacht, ruft einen Menschen zu uns, wir gehen mit einander, die Musik war uns schon entbehrlich, ja im Dunklen könnten wir beieinander liegen, dennoch würden unsere Augen blitzen wie nur je ein blankes Schwert zwischen Menschen. Um dieses Haus wissen wir alle gnadenlosen, ausgestoßenen Wirklichkeiten flattern. Die Dichter mit ihrem bittern Lächeln, die Heiligen und die Polizisten und Autos, die warten. Manchmal dringt Musik hinaus, die sie verschüttet.

      —————

      »Dichtermut« — »Blödigkeit«

      1914/5

      Die Aufgabe der folgenden Untersuchung läßt sich in die Ästhetik der Dichtkunst nicht ohne Erklärung einordnen. Diese Wissenschaft als reine Ästhetik hat ihre vornehmsten Kräfte der Ergründung der einzelnen Gattungen der Dichtkunst zugewendet, unter ihnen am häufigsten der Tragödie. Einen Kommentar hat man fast nur den großen Werken der Klassik angedeihen lassen, wo er außerhalb der klassischen Dramatik auftrat ist er wohl in höherem Grade philologisch als ästhetisch gewesen. Es soll hier ein ästhetischer Kommentar zweier lyrischer Dichtungen versucht sein, und diese Absicht verlangt einige Vorbemerkungen über die Methode. Die innere Form, dasjenige, was Goethe als Gehalt bezeichnete, soll an diesen Gedichten aufgewiesen werden. Die dichterische Aufgabe, als Voraussetzung einer Bewertung des Gedichts, ist zu ermitteln. Nicht danach kann die Bewertung sich richten, wie der Dichter seine Aufgabe gelöst habe, vielmehr bestimmt der Ernst und die Größe der Aufgabe selbst die Bewertung. Denn diese Aufgabe wird aus dem Gedichte selbst abgeleitet. Sie ist auch als Voraussetzung der Dichtung zu verstehen, als die geistig-anschauliche Struktur derjenigen Welt, von der das Gedicht zeugt. Diese Aufgabe, diese Voraussetzung soll hier als der letzte Grund verstanden sein, der einer Analysis zugänglich ist. Nichts über den Vorgang des lyrischen Schaffens wird ermittelt, nichts über Person oder Weltanschauung des Schöpfers, sondern die besondere und einzigartige Sphäre, in der Aufgabe und Voraussetzung des Gedichts liegt. Diese Sphäre ist Erzeugnis und Gegenstand der Untersuchung zugleich. Sie selbst kann nicht mehr mit dem Gedicht verglichen werden, sondern ist vielmehr das einzig Feststellbare der Untersuchung. Diese Sphäre, welche für jede Dichtung eine besondere Gestalt hat, wird als das Gedichtete bezeichnet. In ihr soll jener eigentümliche Bezirk erschlossen werden, der die Wahrheit der Dichtung enthält. Diese »Wahrheit«, die gerade die ernstesten Künstler von ihren Schöpfungen so dringend behaupten, soll verstanden sein als Gegenständlichkeit ihres Schaffens, als die Erfüllung der jeweiligen künstlerischen Aufgabe. »Jedes Kunstwerk hat ein Ideal a priori, eine Notwendigkeit bei sich, da zu sein.« (Novalis) Das Gedichtete ist in seiner allgemeinen Form synthetische Einheit der geistigen und anschaulichen Ordnung. Diese Einheit erhält ihre besondere Gestalt als innere Form der besonderen Schöpfung.

      Der Begriff des Gedichteten ist ein Grenzbegriff in doppelter Hinsicht. Er ist Grenzbegriff zunächst gegen den Begriff des Gedichts. Das Gedichtete unterscheidet sich als Kategorie ästhetischer Untersuchung von dem Form-Stoff-Schema entscheidend dadurch, daß es die fundamentale ästhetische Einheit von Form und Stoff in sich bewahrt und anstatt beide zu trennen, ihre immanente notwendige Verbindung in sich ausprägt. Dies kann im folgenden, da es sich um das Gedichtete einzelner Gedichte handelt, nicht theoretisch, sondern nur am einzelnen Fall bemerkt werden. Und zu einer theoretischen Kritik des Form- und Stoff-Begriffs in der ästhetischen Bedeutung ist auch hier nicht der Ort. In der Einheit von Form und Stoff teilt also das Gedichtete eines der wesentlichsten Merkmale mit dem Gedicht selbst. Es ist selbst nach dem Grundgesetz des künstlerischen Organismus gebaut. Vom Gedicht unterschieden ist es als ein Grenzbegriff, als Begriff seiner Aufgabe, nicht schlechthin noch durch ein prinzipielles Merkmal. Vielmehr lediglich durch seine größere Bestimmbarkeit: nicht durch einen quantitativen Mangel an Bestimmungen, sondern durch das potentielle Dasein derjenigen, die im Gedicht aktuell vorhanden sind und andrer. Das Gedichtete ist eine Auflockerung der festen funktionellen Verbundenheit, die im Gedichte selbst waltet, und sie kann nicht anders entstehen als durch ein Absehen von gewissen Bestimmungen; indem hierdurch das Ineinandergreifen, die Funktionseinheit der übrigen Elemente sichtbar gemacht wird. Denn es ist durch das aktuelle Dasein aller Bestimmungen das Gedicht derart determiniert, daß es nur noch als solches einheitlich auffaßbar ist. Die Einsicht in die Funktion setzt aber die Mannigfaltigkeit der Verbindungsmöglichkeiten voraus. So besteht die Einsicht in die Fügung des Gedichts in dem Erfassen seiner immer strengeren Bestimmtheit. Auf diese höchste Bestimmtheit im Gedicht hinzuführen, muß das Gedichtete von gewissen Bestimmungen absehen.

      Durch dieses Verhältnis zur anschaulichen und geistigen Funktionseinheit des Gedichts zeigt sich das Gedichtete als Grenzbestimmung gegen dieses. Zugleich ist es aber Grenzbegriff gegen eine andere Funktionseinheit, wie denn stets ein Grenzbegriff als Grenze zwischen zwei Begriffen nur möglich ist. Diese andere Funktionseinheit ist nun die Idee der Aufgabe, entsprechend der Idee der Lösung, als welche das Gedicht ist. (Denn Aufgabe und Lösung sind nur in abstracto trennbar.) Diese Idee der Aufgabe ist für den Schöpfer immer das Leben. In ihm liegt die andere extreme Funktionseinheit. Das Gedichtete erweist sich also als Übergang von der Funktionseinheit des Lebens zu der des Gedichts. In ihm bestimmt sich das Leben durch das Gedicht, die Aufgabe durch die Lösung. Es liegt nicht die individuelle Lebensstimmung des Künstlers zum Grunde, sondern ein durch die Kunst bestimmter Lebenszusammenhang. Die Kategorien, in denen diese Sphäre, die Übergangssphäre der beiden Funktionseinheiten, erfaßbar ist, sind noch nicht vorgebildet und haben am nächsten vielleicht eine Anlehnung an die Begriffe des Mythos. Grade die schwächsten Leistungen der Kunst beziehen sich auf das unmittelbare Gefühl des Lebens, die stärksten aber, ihrer Wahrheit nach, auf eine dem Mythischen verwandte Sphäre: das Gedichtete. Das Leben ist allgemein das Gedichtete der Gedichte – so ließe sich sagen; doch je unverwandelter der Dichter die Lebenseinheit zur Kunsteinheit überzuführen sucht, desto mehr erweist er sich als Stümper. Diese Stümperei als »unmittelbares Lebensgefühl«, »Herzenswärme«, als »Gemüt« verteidigt, ja gefordert zu finden, sind wir gewohnt. An dem bedeutenden Beispiel Hölderlins wird deutlich, wie das Gedichtete die Möglichkeit der Beurteilung der Dichtung gibt, als durch den Grad der Verbundenheit und Größe seiner Elemente. Beide Kennzeichen sind untrennbar. Denn je mehr eine schlaffe Ausdehnung des Gefühls die innere Größe und Gestalt der Elemente (die wir annähernd als mythisch bezeichnen) ersetzt, desto geringer wird die Verbundenheit, desto mehr entsteht – sei es ein liebenswertes, kunstloses Naturerzeugnis, sei es ein kunst- und naturfremdes Machwerk. Das Leben liegt als letzte Einheit dem Gedichteten zum Grunde. Je früher aber die Analyse des Gedichts, ohne auf Gestaltung der Anschauung und Konstruktion einer geistigen Welt zu stoßen, auf das Leben selbst als sein Gedichtetes führt, desto – im engeren Sinne – stofflicher, formloser, unbedeutender erweist sich die Dichtung. Während die Analysis der großen Dichtungen nicht zwar auf den Mythos, aber auf eine durch die Gewalt der gegeneinanderstrebenden mythischen Elemente gezeugte Einheit als eigentlichen Ausdruck des Lebens stoßen wird.

      Von dieser Natur des Gedichteten als Bezirkes gegen zwei Grenzen zeugt die Methode seiner Darstellung. Ihr kann es nicht um den Nachweis sogenannter letzter Elemente zu tun sein. Denn solche gibt es innerhalb des Gedichteten nicht. Vielmehr ist nichts andres als die Intensität der Verbundenheit der anschaulichen und der geistigen Elemente nachzuweisen und zwar zunächst an einzelnen


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