Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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den einzigen Gedanken ihnen entgegen. Durchdrungen von Zeit atmet sie vor uns, bewegt. Wir sind bei einander geborgen, die Landschaft und ich. Wir stürzen von Nacktheit in Nacktheit. Wir erreichen uns gesammelt.

      Die Landschaft entsendet uns die Geliebte. Uns begegnet nichts als in Landschaft und in ihr nichts als Zukunft. Sie kennt nur das einzige Mädchen, das schon Frau ist. Denn es tritt in das Tagebuch mit der Geschichte seiner Zukunft. Wir starben schon einmal miteinander. Wir waren ihr schon einmal völlig gleich. Wenn wir ihr widerfuhren im Tode, so widerfährt sie uns doch im Leben, abertausendmal. Vom Tode her ist jedes Mädchen die geliebte Frau, die uns Schlafenden immer im Tagebuch begegnet. Und ihre Erweckung geschieht zur Nacht – unsichtbar dem Tagebuche. Dies ist die Gestalt der Liebe im Tagebuche, daß sie uns in der Landschaft begegnet, unter sehr hellem Himmel. Die Inbrunst ist zwischen uns ausgeschlafen und die Frau ist Mädchen, da sie unsere unverbrauchte Zeit, die sie sammelte in ihrem Tode, jugendlich zurückschenkt. Die stürzende Nacktheit, die in der Landschaft uns überfällt, wird gleichgehalten von der nackten Geliebten.

      Als unsere Zeit uns aus dem Abstand verstieß in Landschaft und auf der behüteten Bahn des Gedankens uns die Geliebte entgegenschritt, fühlten wir Zeit, die uns aussandte, gewaltig gegen uns wieder fluten. Einschläfernd ist dieser Rhythmus der Zeit, der von allerweltenwärts zu uns heimkehrt. Wer ein Tagebuch liest, schläft darüber ein und erfüllt, was das Schicksal dessen war, der es schrieb. Wieder und wieder beschwört das Tagebuch den Tod des Schreibers und sei es im Schlafe des Lesenden: Unser Tagebuch kennt nur einen Leser, der wird zum Erlöser, indem das Buch ihn bezwingt. Wir selber sind der Leser oder unser Feind. Er fand keinen Eingang in das Königtum, das um uns blühte. Er ist nichts anderes als das vertriebene, geläuterte Ich, unsichtbar in der unnennbaren Mitte der Zeiten verweilend. Er gab sich nicht dem Strom des Schicksals hin, das uns umfloß. Wie die Landschaft sich uns entgegenhob, sonderbar von uns beseeligt, wie die Geliebte uns vorüberfloh, ehmals von uns gefraut, steht inmitten des Stroms, aufrecht wie sie, der Feind. Aber mächtiger. Er sendet Landschaft und Geliebte uns entgegen und ist der unermüdliche Denker der Gedanken, die uns nur kommen. Vollendet klar begegnet er uns, und während die Zeit sich in die stumme Melodie der Abstände verbirgt, ist er am Werke. Plötzlich erhebt er sich im Abstand wie die Fanfare und sendet uns dem Abenteuer entgegen. Er ist nicht weniger als wir Erscheinung der Zeit, aber der gewaltigste Reflektor unsrer selbst. Blendend vom Wissen der Liebe und den Schauungen ferner Lande bricht er rückkehrend in uns ein und stört unsere Unsterblichkeit auf zu immer fernerer und fernerer Sendung. Er kennt die Reiche der hundert Tode, die die Zeit umgeben und will sie in Unsterblichkeit ertränken. Nach jedem Anblick und jeder Todesflucht kehren wir zu uns heim als unser Feind. Von keinem andern Feind sagt jemals das Tagebuch, weil vor der Feindschaft unsres erlauchten Wissens jeder Feind versinkt, stümperhaft neben uns, die wir niemals unsere Zeit erreichen, immer hinter sie flüchten oder vorwitzig sie überflügeln. Immer die Unsterblichkeit aufs Spiel setzend und sie verlierend. Dies weiß der Feind, er ist das unermüdliche, mutige Gewissen, das uns stachelt. Unser Tagebuch schreibt das seinige, während er tätig ist in der Mitte des Abstandes. In seiner Hand ruht die Waage unserer Zeit und der unsterblichen. Wann wird sie einstehen? Wir werden uns selbst widerfahren.

      III

      Die Feigheit des Lebenden, dessen Ich mannigfaltig allen Abenteuern beiwohnt und ständig sein Antlitz verbirgt im Kleid seiner Würde – sie mußte zuletzt unerträglich werden. So viele Schritte wir in das Königreich des Schicksals taten, so oft wandten wir uns rückwärts – ob wir auch unbeobachtet wahrhaft seien: da ermüdete einmal die unendlich gekränkte, gekrönte Hoheit in uns, sie wandte sich, grenzenlos fortan voll Verachtung für das Ich, das man ihr gegeben. Sie bestieg einen Thron im Imaginären und wartete. Mit großen Lettern schrieb der Griffel ihres schlafenden Geistes das Tagebuch.

      So handelt es sich denn in diesen Büchern um die Thronbesteigung eines, der abdankt. Abdankte er dem Erlebnis, dessen er sein Ich nicht würdig befindet noch fähig, dem er sich endlich entzieht. Einst fielen die Dinge auf seinen Weg, statt ihm zu begegnen, von allen Seiten bedrängten sie einen, der ständig flüchtete. Niemals kostete der Edle die Liebe der Unterlegnen. Er mißtraute, ob denn auch er gemeint sei von den Dingen. Meinst du mich? fragte er den Sieg der ihm zufiel. Meinst du mich? das Mädchen, das sich an ihn schmiegte. Also riß er sich aus seiner Vollendung. Erschien er dem Sieg doch als Sieger, der Liebenden als der Geliebte. Aber ihm war Liebe widerfahren und Sieg war ihm zugestoßen, während er den Penaten seiner Heimlichkeit Opfer brachte. Niemals war er dem Schicksal begegnet, an dem er vorbei lief.

      Als aber im Tagebuche die Hoheit des Ich sich zurückzog und das Rasen gegen das Geschehen verstummte, zeigten die Ereignisse sich unbeschlossen. Die immer fernere Sichtbarkeit des Ich, welches nichts mehr auf sich bezieht, webt den immer näheren Mythos der Dinge, die hinstürmen in bodenloser Neigung zum Ich, als unberuhigte Frage, nach Bestimmung dürstend.

      Der neue Sturm erbraust im bewegten Ich. Ausgesandt ist es als Zeit, in ihm selber stürmen die Dinge dahin, ihm entgegnend in ihrer fernenden, demütigen Richtung, dahin zur Mitte des Abstandes, zum Schoße der Zeit hin, von da das Ich erstrahlte. Und Schicksal ist: diese Gegenbewegung der Dinge in der Zeit des Ich. Und jene Zeit des Ich, in der die Dinge uns widerfahren, das ist die Größe. Ihr ist alle Zukunft vergangen. Der Dinge Vergangenheit ist die Zukunft der Ich-Zeit. Aber die Vergangenen werden zukünftig. Von neuem entsenden sie die Zeit des Ich, wenn sie eingegangen sind in den Abstand. Mit den Geschehnissen schreibt das Tagebuch die Geschichte unseres zukünftigen Seins. Und prophezeit uns also unser vergangenes Schicksal. Das Tagebuch schreibt die Geschichte unserer Größe vom Tode an. Einmal ist ja die Zeit der Dinge aufgehoben in der Zeit des Ich, Schicksal ist aufgehoben in der Größe, Abstände sind aufgehoben im Abstand. Einmal widerfährt uns der erstarkte Feind in seiner grenzenlosen Liebe, der alle unsere geblendete Schwäche sammelte in seiner Stärke, all unsere Nacktheit bettete in seine Leiblosigkeit, all unser Schweigen übertönte mit seiner Stummheit und alle Dinge heimbringt und alle Menschen endet – der große Abstand. Tod. Im Tode widerfahren wir uns selbst, es löst sich unser Tot-sein aus den Dingen. Und die Zeit des Todes ist unsere eigene. Erlöst gewahren wir die Erfüllung des Spieles, die Zeit des Todes war die Zeit unseres Tagebuches, der Tod der letzte Abstand, der Tod der erste liebende Feind, der Tod, der uns mit aller Größe und den Schicksalen unserer breiten Fläche in die unnennbare Mitte der Zeiten trägt. Der für einen einzigen Augenblick uns Unsterblichkeit gibt. Tausendfach und einfach ist dies der Inhalt unserer Tagebücher. Die Berufung, die unsere Jugend stolz abwies, überrascht uns. Aber sie ist nichts, als Berufung zur Unsterblichkeit. Wir gehen ein in die Zeit, die im Tagebuch war, dem Symbol der Sehnsucht, Ritus der Reinigung. Mit uns versinken die Dinge zur Mitte, mit uns erwarten sie uns gleich die neue Erstrahlung. Denn Unsterblichkeit ist nur im Sterben und Zeit erhebt sich am Ende der Zeiten.

      Um welches Vorspieles willen berauben wir uns unserer Träume? Denn mit leichter Hand drängen wir sie beiseit, in die Kissen, lassen sie zurück, während einige unser erhobenes Haupt lautlos umflattern. Wie wagen wir es, Wachende, diese hineinzutragen ins Helle? O, in der Helle! Alle unter uns tragen die unsichtbaren Träume um sich, wie tief verschleiert sind die Häupter der Mädchen, ihre Augen sind heimliche Nester der Unheimlichen, der Träume, ganz ohne Zugang, leuchtend vor Vollendung. Die Musik hebt uns alle zur Höhe jenes erleuchteten Strichs – du kennst ihn – der unter dem Vorhange durchbricht, wenn ein Orchester die Geigen stimmte. Der Tanz beginnt. Da gleiten unsere Hände alle aneinander ab, unsre Blicke fallen in einander, schwer, schütten sich aus und lächeln aus dem letzten Himmel. Unsere Körper berühren sich vorsichtig, wir alle wecken einander nicht aus dem Traume, rufen einander nicht heim in die Dunkelheit – aus der Nacht der Nacht, die nicht Tag ist. Wie wir uns lieben! Wie wir unsre Nacktheit behüten! Wir haben sie alle gefesselt in Buntes, Maskiertes, Nacktes-Versagendes, Nacktes-Versprechendes. Es ist in allen ein Ungeheures zu verschweigen. Aber wir werfen uns in die Rhythmen der Geigen, niemals war eine Nacht körperloser, unheimlicher, keuscher als diese.

      Wo wir allein stehen, auf einem Fuder Fanfaren, allein in der hellen Nächte-Nacht, die wir beschworen, bittet unser flüchtendes Gemüt eine Frau noch zu sich, die – ein Mädchen – steht in einer fernen Saalflucht.

      Sie schreitet über das Parkett, das so glatt


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