Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


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      So bezeichnen wir den Anspruch der Freiburger Richtung im studentischen Leben, so bezeichnen wir ihren Ursprung. Schulreform ist nicht ihr Ausgangspunkt, sie ist zunächst nicht als Beteiligung an der heutigen pädagogischen Arbeit gemeint und zunächst nicht auf die pädagogische, vielmehr auf die studentische Frage gerichtet. Wir finden uns aber im Sachgebiet der Pädagogik, dort finden wir den Gegenstand, an dem wir, zunächst fast symbolisch und innerlich, unsere studentisch-jugendliche Gesinnung entwickeln.

      Es ist hier der Ort, auf den wesentlichen Vorwurf einzugehen, den man wohl der Freiburger Richtung gemacht hat. Sie degradiere eine studentische Bewegung zur Partei im öffentlichen Kampfe. Wäre das richtig, so würde es tatsächlich gerade das widerlegen, worauf es uns ankommt: die Autonomie des studentischen Geistes wäre vernichtet. Aber es gibt einen Standpunkt jenseits der Neutralität, der, von innen heraus verstanden, dennoch nicht Partei ist. Ja, in der Frage, die wir hier von der Studentenschaft aus behandeln, scheint Neutralität uns am ehesten Partei. – Ich sagte schon, wir sind keine Instanz zur Lösung der pädagogischen Frage. Aber wir sind der Überzeugung, daß Wichtiges noch nicht gesagt, ja, noch nicht gefragt worden ist, daß da, wo unsere erste Jugend war, häufig ein Trümmerfeld unbekannter Gewalten liegt. Also kann auch Orientierung nicht unsere Meinung sein. Und also ist es von vornherein eine falsche Fragestellung: Partei oder Nicht-Partei? Wir halten nicht Umschau unter heutigen Schulreformern, wem es zu folgen gelte. Denn wir sind durchaus damit beschäftigt, die Dinge aus uns selbst heraus zu entwickeln. Und da kann es geschehen, daß einer empfindet wie wir, daß auch er zu Fragestellungen aus dem Geiste der Jugend kommt – ja, mag sein, daß er sie anregte. Dennoch, Kommilitonen, sind wir nicht die übereifrigen Parteigänger Gustav Wynekens, sondern wir wissen uns mit ihm in einer Front streitend und wissen ihn einen Führer, aber nicht Führer zu einem Ziele, das er uns vermittelt, sondern dem Ziele, das uns unmittelbar gegeben ist. Darum trifft uns der Vorwurf der Parteilichkeit nicht.

      Vielleicht allzulange mußte ich mich mit Abgrenzungen aufhalten. Sie werden jetzt ungeduldig nach Konkretem fragen. Ich will versuchen, einige Andeutungen zu geben. Aber Sie werden sich selbst sagen: wären meine Worte hier allzu sicher, allzu genau, sie würden dem, was ich sagte, widersprechen. Denn das Jugendbewußtsein ist etwas Werdendes in uns. Man kann nur von Symptomen und höchstens von Symbolen reden. Denn jedes Denken und viele Erlebnisse bringen uns hier ständige Erweitrung des Bewußtseins, und vieles, was wir in Gesprächen schon erreichten, ist uns in der Gemeinschaft zu gestalten noch nicht gelungen.

      Für die Praxis ist zweierlei grundlegend: die studentische Gemeinschaft selbst und die Art, wie sie den pädagogischen Gegenstand als ihr nächstes Objekt aus sich entwickelt, als einen Spiegel ihrer eignen Bedürfnisse und Strebungen. Niemals werden unsere Gruppen den Versuch machen, vom Gesamtleben der Studentenschaft sich abzuschließen. Wollen sie doch gerade in ihr wirken, durch ihre Gegenwart, den Ton und die Gesinnung, die in ihnen entsteht und mehr noch entstehen wird, tragen sie zur Durchdringung der Studentenschaft mit jugendlichem Geiste bei. Nur persönlich wird die Zusammensetzung unsrer Gruppen, je näher sie ihrem Ziele stehen, ein besondres Bild bieten. Zahlenmäßige Erfolge, Propaganda, Interessengewinnung erstreben wir zunächst nicht. Nur wo Studenten und Studentinnen die innere Meinung unsrer Arbeit verstehen, werden sie uns willkommen sein. So wird durch persönliche Zusammensetzung und nur durch diese unsere Gruppe sich von der Masse der Studentenschaft absondern, und sie hofft, zunächst und zuallererst durch ihr Dasein wirken zu können.

      Endlich einige Worte über die Art unsrer Arbeit. Sie dient der Ausprägung jugendlichen Geistes vor allem in der pädagogischen Fragestellung. Sie ist an technischen Fragen als solchen nicht interessiert, ebensowenig an der reinen Orientierung im Bestehenden. Unser Interesse liegt da, wo Jugend und Kulturwerte sich auseinandersetzen, in einer neuen philosophischen Pädagogik. Kunsterziehung, Religions- und Moralunterricht, politische Erziehung, Koedukation – das sind die Fragen, die wieder und wieder bei uns diskutiert werden. Zwar behandeln wir dies theoretisch, dennoch prägt sich eine praktische Gesinnung hier aus: sowenig bei uns der junge Student prinzipielle Schwierigkeit hat, die Fragen, die die Geistesbildung des Schülers angehen, zu verstehen, da auch er jung ist und denselben unbedingten Zug zu den Werten und Wertungen fühlt – sowenig soll bei uns z. B. das Lehrerproblem seine Peinlichkeit behalten. Wir haben noch selten über die Stellung des Lehrers zum Schüler diskutiert, weil uns in diesen Fragen die Grundlagen klar sind: die Erziehung, wenn sie im Geiste der Jugend geschieht, kennt kein isoliertes persönliches Machtproblem: Lehrer – Schüler; sondern der Lehrer erhält den Wert durch seinen Ernst und seine Jugendlichkeit.

      Die theoretische Diskussion in den Gruppen ist nur ein Teil unsrer Arbeit. Mit dem andern Teile stehen wir im Jugendkampfe selbst. Zunächst vor allem im Kampfe der Schuljugend. Durch ihre Zeitschrift »Der Anfang«, durch die Sprechsäle, in denen Schüler und einige Studenten Zusammenkommen, stehen wir in engster Verbindung mit der Schuljugend: wir wissen, daß ihr Kampf der unsere ist. Hier ist natürlich hervorzuheben, daß die Schulreform nur ein sehr begrenztes Gebiet jugendlicher Betätigung ist. Wir suchen in unsern Gruppen sozusagen immanent Hochschulreform von innen heraus zu treiben. Hier sollen wiederum die Schüler mit uns verbunden sein: in Berlin beginnt man, Schüler zu sozial-studentischen Veranstaltungen (Märchenvorlesung, Gruppenabende der Abteilung für Schulreform) heranzuziehen.

      Es ist im Rahmen dieses Vortrages nicht möglich gewesen, den Begriff der Jugendkultur zu entwickeln. Das scheint, nachdem die Schriften Dr. Wynekens, nachdem der »Anfang« dies von so verschiedenen Seiten getan haben, auch nicht unbedingt mehr nötig zu sein. Er bildete die Voraussetzung des Gesagten. Ich suchte zu zeigen: es gibt zwei Möglichkeiten studentisch-pädagogischer Arbeit. Aus dem sozialen Gedanken fließt die eine, und es ist ihr nicht gelungen, innerliche Verbindung mit der Idee des Studententums zu gewinnen, eine solche Verbindung würde heute Erneuerung studentischen Geistes bedeuten müssen. Die andere Möglichkeit beruht in der Kultur jugendlichen Geistes, die notwendig die Studentenschaft der Schülerschaft verbindet: es entsteht eine neue studentische Gesinnung, die ihren nächsten Gegenstand im Verhältnis des Studenten zur Pädagogik findet.

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      1913

      Der »Täglichen Rundschau« gewidmet

      Jetzt heißt es stramm bleiben. Wir wollen uns keinesfalls von der Tatsache des freideutschen Jugendtages überwältigen lassen. Wir erlebten zwar eine neue Wirklichkeit: 2 000 junge moderne Menschen kommen zusammen, und auf dem Hohen Meißner sah der Sehende eine neue körperliche Jugend, eine neue Spannung der Gesichter. Das ist uns nichts als Bürgschaft für den Jugendgeist. Wanderungen, Festgewänder, Volkstänze sind nichts Letztes und – im Jahre 1913 – noch nichts Geistiges.

      Wir einzelne werden dem Jugendtage nicht eher unsern begeisterten Gruß zollen, bis der Gesamtgeist so mit dem Willen zur Jugend sich erfüllte, wie heute nur erst einzelne. Bis dahin wird im Namen der Jugend immer wieder die geistige Forderung an den Jugendtag gestellt werden.

      Folgendes geschah auf der Vertreterversammlung auf dem Hanstein. Ein Redner endete: »… zum Heile der Freiheit und des Deutschtums!« Eine Stimme: »Und der Jugend!« Hastig verbessert sich der Redner: »Und der Jugend!«

      Es geschah Schlimmeres. Bei der Verteilung der Sportpreise wurde der Name Isaacsohn genannt. Das Gelächter einer Minderheit erscholl darauf. Solange noch einer dieser Lacher einen Platz unter der freideutschen Jugend hat, wird sie ohne Adel und Jugendlichkeit sein.

      Dieser Jugendtag bewies es: nur wenige verstehen den Sinn des Wortes »Jugend«. Daß von ihr allein neuer Geist, der Geist ausstrahlt. Noch suchten sie nach greisenhaften, vernunfthaltigen Vorwänden ihres Sich-Findens, nach Rassenhygiene oder Bodenreform oder Abstinenz. Darum durften Machtsüchtige es wagen, durch Parteijargon das Fest der Jugend zu verunreinigen. Prof. Dr. Keil rief: »Die Waffen hoch!« Zwei Männer traten zum Schutze der Jugend ein. Wyneken und Luserke. Sie stammen beide von der freien Schulgemeinde. Wyneken versprach mit den Seinen sich wie eine Mauer vor eine Jugend zu stellen, auf die man eindringt, wie auf eine Wahlversammlung. Den Wickersdorfern, die in ihren weißen Mützen eine geschlossene Schar auf dem Meißner waren, vertrauen wir für diesen Kampf.


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