Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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schreibt Novalis im Jahre 1796 seinem Freunde, als er ihm das höchste Lob zuteil werden lassen will, und zwei Jahre später spricht Schlegel es mit Selbstbewußtsein aus, daß er »aus den Tiefen der Kritik« begonnen habe. »Höherer Kritizismus«123 ist den Freunden eine geläufige Bezeichnung für all ihre theoretischen Bestrebungen. Durch Kants philosophisches Werk hatte der Begriff der Kritik für die jüngere Generation eine gleichsam magische Bedeutung erhalten; jedenfalls verband sich mit ihm ausgesprochenermaßen gerade nicht der Sinn einer bloß beurteilenden, nicht produktiven Geisteshaltung, sondern für die Romantiker und für die spekulative Philosophie bedeutete der Terminus kritisch: objektiv produktiv, schöpferisch aus Besonnenheit. Kritisch sein hieß die Erhebung des Denkens über alle Bindungen so weit treiben, daß gleichsam zauberisch aus der Einsicht in das Falsche der Bindungen die Erkenntnis der Wahrheit sich schwang. In dieser positiven Bedeutung gewinnt das kritische Verfahren die denkbar nächste Verwandtschaft mit dem reflektierenden, und in Aussprüchen wie dem folgenden gehen beide ineinander über: »In jeder Philosophie, die mit Beobachtung124 ihres eigenen Verfahrens, mit Kritik anfängt, hat der Anfang immer etwas Eigentümliches«.125 Dasselbe bedeutet es, wenn Schlegel vermutet: »Abstraktion, und besonders praktische, ist wohl am Ende nichts als Kritik«.126 Denn er las bei Fichte, daß »keine Abstraktion … ohne Reflexion und keine Reflexion ohne Abstraktion möglich«127 sei. So ist es endlich nicht einmal mehr unverständlich, wenn er zum Ärger seines Bruders, der das »wahre(n) Mystizismus«128 nennt, die Behauptung aufstellt, »jedes Fragment sei kritisch«, »kritisch und Fragmente wäre tautologisch«129. Denn ein Fragment – auch dies ein mystischer Terminus – ist für ihn, wie alles Geistige, ein Reflexionsmedium130. – Nicht so weit, als man meinen sollte, weicht diese positive Betonung des Kritikbegriffs vom Kantischen Sprachgebrauch ab. Kant, in dessen Terminologie gar nicht wenig mystischer Geist enthalten ist, hatte sie vorbereitet, indem er den beiden verworfenen Standpunkten des Dogmatismus und Skeptizismus nicht sowohl die wahre Metaphysik, in der sein System gipfeln sollte, als »Kritik«, in deren Namen es inauguriert wurde, entgegenhielt. Man darf also sagen, daß der Kritikbegriff bereits bei Kant doppelsinnig spielt, welcher Doppelsinn sich bei den Romantikern potenziert, weil sie durch das Wort Kritik zugleich auch auf Kants ganze historische Leistung und nicht nur auf seinen Begriff der Kritik Bezug nehmen. Endlich haben sie auch das unvermeidliche negative Moment dieses Begriffs zu bewahren und zu verwenden verstanden. Auf die Dauer konnten die Romantiker eine ungeheure Diskrepanz zwischen dem Anspruch und der Leistung ihrer theoretischen Philosophie nicht übersehen. Da stellt sich wieder zur rechten Zeit das Wort Kritik ein. Denn es besagt, so hoch man die Geltung eines kritischen Werkes auch immer bewerte, daß es das Abschließende nicht sein kann. In diesem Sinne haben die Romantiker unter dem Namen der Kritik zugleich die unausweichliche Unzulänglichkeit ihrer Bemühungen eingestanden, als eine notwendige zu bezeichnen gesucht und so endlich in diesem Begriff auf die notwendige Unvollständigkeit der Unfehlbarkeit, wie man es bezeichnen kann, angespielt.

      Eine besondere terminologische Beziehung ist schließlich für den Kritikbegriff auch in seiner engeren, kunsttheoretischen Bedeutung wenigstens vermutungsweise festzustellen. Erst mit den Romantikern setzte sich der Ausdruck Kunstkritiker gegenüber dem älteren Kunstrichter endgültig durch. Man vermied die Vorstellung eines zu Gericht-Sitzens über Kunstwerke, eines an geschriebene oder ungeschriebene Gesetze fixierten Urteilsspruches, man dachte dabei an Gottsched, wenn nicht etwa noch an Lessing und Winckelmann. Ebenso sehr aber fühlte man sich im Gegensatz zu den Theoremen des Sturmes und Dranges. Diese führten, zwar nicht durch zweiflerische Tendenzen, sondern durch schrankenlosen Glauben an das Recht der Genialität, zur Aufhebung aller festen Grundsätze und Kriterien der Beurteilung. Jene Richtung durfte man als eine dogmatische, diese in ihren Wirkungen als eine skeptische auffassen; da lag es überaus nahe, die Überwindung beider in der Kunsttheorie unter dem gleichen Namen zu vollziehen, unter dem Kant in der Erkenntnistheorie jenen Gegensatz geschlichtet hatte. Wenn man den Überblick liest, den Schlegel im Anfang des Aufsatzes »Ueber das Studium der Griechischen Poesie« über die Kunstrichtungen seiner Zeit gibt, so möchte man glauben, daß er der Analogie der kunsttheoretischen und der erkenntnistheoretischen Problemlage sich mehr oder weniger deutlich bewußt gewesen sei: »Hier empfahl sie131 durch den Stempel ihrer Autorität sanktionierte Werke als ewige Muster der Nachahmung: dort stellte sie absolute Originalität als den höchsten Maßstab alles Kunstwerts auf und bedeckte den entferntesten Verdacht der Nachahmung mit unendlicher Schmach. Strenge forderte sie in scholastischer Rüstung unbedingte Unterwerfung auch unter ihre willkürlichsten, offenbar törichten Gesetze; oder sie vergötterte in mystischen Orakelsprüchen das Genie, machte eine künstliche Gesetzlosigkeit zum ersten Grundsatz und verehrte mit stolzem Aberglauben Offenbarungen, die nicht selten sehr zweideutig waren«.132

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      Kritik schließt die Erkenntnis ihres Gegenstandes ein. Darum erfordert die Darstellung des frühromantischen Begriffs der Kunstkritik eine Charakteristik der ihr zugrunde liegenden Theorie der Gegenstandserkenntnis. Diese ist von der Erkenntnis des Systems oder des Absoluten zu unterscheiden, deren Theorie oben gegeben wurde. Sie ist aber aus ihr abzuleiten; sie betrifft die Naturgegenstände und die Kunstwerke, deren erkenntnistheoretische Problematik mehr als die anderer Gebilde die ersten Romantiker beschäftigt hat. Die frühromantische Theorie der Kunsterkenntnis hat unter dem Titel der Kritik vor allen Friedrich Schlegel, die der Naturerkenntnis unter anderen Novalis ausgebildet. In diesen Ausbildungen treten von den verschiedenen Zügen einer allgemeinen Theorie der Gegenstandserkenntnis bald in dieser der eine, bald in jener der andere mit besonderer Deutlichkeit hervor, so daß für das gründliche Verständnis einer Ausbildung auch die andere kurz zu berücksichtigen ist. Ein Blick auf die Theorie der Naturerkenntnis ist für die Darstellung des Begriffs der Kunstkritik unentbehrlich. Beide hängen in gleichem Maße von den allgemeinen systematischen Voraussetzungen ab und stimmen als Folgerungen mit jenen zusammen und miteinander überein.

      Die Theorie der Gegenstandserkenntnis ist durch die Entfaltung des Reflexionsbegriffs in seiner Bedeutung für den Gegenstand bestimmt. Der Gegenstand, wie alles Wirkliche, liegt im Reflexionsmedium. Das Reflexionsmedium ist aber methodisch oder erkenntnistheoretisch angesehen das Medium des Denkens, denn es ist nach dem Schema der Reflexion des Denkens, der kanonischen Reflexion, gebildet. Zur kanonischen Reflexion wird diese Reflexion des Denkens, weil in ihr am evidentesten die beiden Grundmomente aller Reflexion sich ausgeprägt finden: Selbsttätigkeit und Erkennen. Denn in ihr wird dasjenige reflektiert, gedacht, was doch allein reflektieren kann: das Denken. Es wird also selbsttätig gedacht. Und weil es als sich selbst reflektierend gedacht wird, wird es als sich selbst unmittelbar erkennend gedacht. In dieser Erkenntnis des Denkens durch sich selbst ist, wie bemerkt wurde, alle Erkenntnis überhaupt eingeschlossen. Daß aber a priori jene bloße Reflexion, das Denken des Denkens, als ein Erkennen des Denkens von den Romantikern aufgefaßt wurde, rührt daher, daß sie jenes erste ursprüngliche, stoffliche Denken, den Sinn, bereits als erfüllt voraussetzen. Auf Grund dieses Axioms wird das Reflexionsmedium zum System, das methodische Absolutum zum ontologischen. Auf mannigfache Weise kann es bestimmt gedacht werden: als Natur, als Kunst, als Religion usw. Niemals aber wird es den Charakter des Denkmediums verlieren, eines Zusammenhanges denkender Beziehung. In allen seinen Bestimmungen bleibt also das Absolutum ein Denkendes, und ein denkendes Wesen ist alles, was es erfüllt. Damit ist der romantische Grundsatz der Theorie der Gegenstandserkenntnis gegeben. Alles, was im Absolutum ist, alles Wirkliche denkt; es kann, weil dies Denken das der Reflexion ist, nur sich selbst, genauer gesagt, nur sein eigenes Denken denken; und weil dieses eigene Denken ein erfülltes substantielles ist, so erkennt es sich selbst zugleich, indem es sich denkt. Als Ich ist das Absolutum und was in ihm besteht, nur unter einem ganz besonderen Gesichtspunkt zu bezeichnen. Die Windischmannschen Vorlesungen, nicht aber die Athenäumsfragmente sehen es so an; auch Novalis scheint oft diese Betrachtungsweise zurückzustellen. Alle Erkenntnis ist Selbsterkenntnis eines denkenden Wesens, das kein Ich zu sein braucht. Vollends das Fichtesche Ich, das dem Nicht-Ich, der Natur entgegengesetzt ist, bedeutet für Schlegel und Novalis nur eine niedere der unendlich vielen Formen des Selbst. Für die Romantiker gibt es vom Standpunkt des Absoluten aus kein Nicht-Ich, keine Natur im Sinne eines Wesens, das nicht selbst


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