Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
nicht bloß die Krankheit aufspürten und mit Schadenfreude bekannt machten … Echte Polizei … sucht die kränkliche Anlage zu verbessern.«180 Beispiele solcher vollendenden, positiven Kritik schweben Novalis vor, wenn er von einer gewissen Art von Übersetzungen, welche er mythische nennt, sagt: »Sie stellen den reinen, vollendeten Charakter des individuellen Kunstwerks dar. Sie geben uns nicht das wirkliche Kunstwerk, sondern das Ideal desselben. Noch existiert, wie ich glaube, kein ganzes Muster derselben. Im Geist mancher Kritiken und Beschreibungen von Kunstwerken trifft man aber helle Spuren. Es gehört ein Kopf dazu, in dem sich poetischer Geist und philosophischer Geist in ihrer ganzen Fülle durchdrungen haben«.181 Vielleicht denkt Novalis, indem er Kritik und Übersetzung einander nahe rückt, an eine mediale stetige Überführung des Werkes aus einer Sprache in die andere, eine Auffassung, die bei der unendlich rätselhaften Natur der Übersetzung von vornherein ebenso statthaft ist, wie eine andere.
»Wenn man das Charakteristikum des modernen kritischen Geistes in der Verleugnung alles Dogmatismus, in der Achtung vor der alleinigen Souveränität der produktiven Schöpferkraft des Künstlers und Denkers sehen will und muß, so haben die Schlegel diesen modernen kritischen Geist geweckt und ihn auch zur prinzipiell höchsten Offenbarung gebracht.«182 Bei diesen Worten hat Enders die ganze literarische Familie der Schlegel im Sinn. Friedrich Schlegel ist vor allen anderen Mitgliedern seiner Familie die prinzipielle Überwindung des ästhetischen Dogmatismus zu verdanken und dazu – was Enders hier nicht erwähnt – die ebenso wichtige Sicherung der Kunstkritik gegen die skeptische Toleranz, die aus dem schrankenlosen Kultus der schaffenden Kraft als bloßer Ausdruckskraft des Schöpfers zuletzt hervorgeht. In jener Hinsicht hat er die Tendenzen des Rationalismus, in dieser die zersetzenden Momente, welche in der Theorie der Stürmer und Dränger angelegt waren, überwunden, und in dieser letzten Rücksicht ist die Kritik des 19. und 20. Jahrhunderts durchaus wieder von seinem Standpunkt herabgesunken. Er hat die Gesetze des Geistes in das Kunstwerk selbst gebannt, anstatt dieses zum bloßen Nebenprodukt der Subjektivität zu machen, wie ihn die modernen Autoren dennoch, dem Zuge ihres eigenen Denkens folgend, so überaus oft mißverstanden haben. Es ist nach dem oben Ausgeführten abzuschätzen, welcher geistigen Lebendigkeit und doch auch welcher Zähigkeit es bedurfte, diesen Standpunkt zu sichern, der teilweise, als Überwindung des Dogmatismus, das mühelose Erbe der modernen Kritik geworden ist. Von deren Gesichtskreis aus, den keine Theorie, sondern allein eine deteriorierte Praxis noch bestimmt, ist freilich nicht zu ermessen, welche Fülle positiver Voraussetzungen in die Negierung der rationalistischen Dogmen eingearbeitet ist. Sie übersieht, daß diese Voraussetzungen neben ihrer befreienden Leistung einen Grundbegriff sicherten, der theoretisch vordem mit Bestimmtheit nicht eingeführt werden konnte: den des Werkes. Denn nicht nur die Freiheit von heteronomen ästhetischen Doktrinen errang Schlegels Kritikbegriff vielmehr ermöglichte er diese erst dadurch, daß er ein anderes Kriterium des Kunstwerkes aufstellte, als die Regel, das Kriterium eines bestimmten immanenten Aufbaues des Werkes selbst. Er tat das nicht mit den Allgemeinbegriffen der Harmonie und Organisation, die bei Herder oder Moritz nicht zur Stiftung einer Kunstkritik hatten führen können, sondern mit einer, wenn auch in Begriffen absorbierten, eigentlichen Theorie der Kunst: als eines Reflexionsmediums, und des Werkes: als eines Zentrums der Reflexion. Damit sicherte er von der Objekt- oder Gebilde-Seite her diejenige Autonomie im Gebiete der Kunst, welche Kant der Urteilskraft in ihrer Kritik verliehen hatte. Der Kardinalgrundsatz der kritischen Betätigung seit der Romantik, die Beurteilung der Werke an ihren immanenten Kriterien, ist auf Grund romantischer Theorien gewonnen, welche gewiß in ihrer reinen Gestalt keinen heutigen Denker völlig befriedigen. Schlegel überträgt die Betonung seines schlechthin neuen Grundsatzes der Kritik auf den »Wilhelm Meister«, indem er ihn das »schlechthin neue und einzige Buch, welches man nur aus sich selbst verstehen lernen kann«,183 nennt. Novalis ist auch in diesem Grundsatz mit Schlegel einig: »Formeln für Kunstindividuen finden, durch die sie im eigentlichsten Sinn erst verstanden werden, macht das Geschäft eines artistischen Kritikers aus, dessen Arbeiten die Geschichte der Kunst vorbereiten«.184 Vom Geschmack, auf den sich der Rationalismus für seine Regeln berief, soweit sie nicht rein historisch begründet werden, sagt er: »Der Geschmack allein beurteilt nur negativ«.185
Ein genau bestimmter Begriff des Werkes wurde also durch diese romantische Theorie zu einem Korrelatbegriff des Begriffs der Kritik.
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~II Das Kunstwerk~
Die romantische Theorie des Kunstwerks ist die Theorie seiner Form. Die begrenzende Natur der Form haben die Frühromantiker mit der Begrenztheit jeder endlichen Reflexion identifiziert und durch diese einzige Erwägung den Begriff des Kunstwerks innerhalb ihrer Anschauungswelt determiniert. Ganz analog zu dem Gedanken, mit welchem in seiner ersten Schrift zur Wissenschaftslehre Fichte die Reflexion an der bloßen Form der Erkenntnis sich manifestieren sieht (s. o. p.20 f.) bekundet den Romantikern das reine Wesen der Reflexion sich an der rein formalen Erscheinung des Kunstwerks. Die Form ist also der gegenständliche Ausdruck der dem Werke eigenen Reflexion, welche sein Wesen bildet. Sie ist die Möglichkeit der Reflexion in dem Werke, sie liegt ihm also a priori als ein Daseinsprinzip zugrunde; durch seine Form ist das Kunstwerk ein lebendiges Zentrum der Reflexion. Im Medium der Reflexion, in der Kunst, bilden sich immer neue Reflexionszentren. Je nach ihrem geistigen Keim umfassen sie größere oder kleinere Zusammenhänge reflektierend. Die Unendlichkeit der Kunst kommt zunächst allein in einem solchen Zentrum als in einem Grenzwert zur Reflexion, d. h. zur Selbsterfassung und damit zur Erfassung überhaupt. Dieser Grenzwert ist die Darstellungsform des einzelnen Werkes. Auf ihr beruht die Möglichkeit einer relativen Einheit und Abgeschlossenheit des Werkes im Medium der Kunst. – Weil aber jede einzelne Reflexion in diesem Medium nur eine vereinzelte, eine zufällige sein kann, ist auch die Einheit des Werkes gegenüber der der Kunst nur eine relative; das Werk bleibt mit einem Moment der Zufälligkeit behaftet. Diese besondere Zufälligkeit als eine prinzipiell notwendige, d. h. unvermeidliche einzugestehen, sie durch die strenge Selbstbeschränkung der Reflexion zu bekennen, ist die genaue Funktion der Form. Praktische, d. h. bestimmte Reflexion, Selbstbeschränkung bilden Individualität und Form des Kunstwerks. Denn damit die Kritik, wie oben (s. o. p. 67) ausgeführt wurde, Aufhebung aller Begrenzung sein könne, muß das Werk auf dieser beruhen. Ihre Aufgabe erfüllt die Kritik, indem sie, je geschlossener die Reflexion, je strenger die Form des Werkes ist, desto vielfacher und intensiver diese aus sich heraustreibt, die ursprüngliche Reflexion in einer höheren auflöst und so fortfährt. In dieser Arbeit beruht sie auf den Keimzellen der Reflexion, den positiv formalen Momenten des Werkes, die sie zu universal formalen auflöst. So stellt sie die Beziehung des einzelnen Werkes auf die Idee der Kunst und damit die Idee des einzelnen Werkes selbst dar.
Friedrich Schlegel gibt zwar, besonders um 1800, auch über den Inhalt des wahren Kunstwerks Bestimmungen, sie beruhen jedoch auf jenen schon genannten Überdeckungen und Trübungen des Grundbegriffs des Reflexionsmediums, in denen er seine methodische Kraft verliert. Wo er das absolute Medium nicht mehr als Kunst, sondern als Religion bestimmt, erfaßt er das Kunstwerk von der Seite seines Inhalts nur unklar, er vermag sich seine Ahnung von einem würdigen Inhalt trotz aller Mühe nicht zu verdeutlichen, dieser bleibt Tendenz; er verlangt in ihm186 die eigentümlichen Züge seines religiösen Kosmos wiederzufinden, während zugleich, zum Zeichen jener Unklarheit, seine Idee der Form um nichts gewinnt.187 Vor dieser Veränderung seines Weltbildes und wo die älteren Lehren noch ferner wirksam blieben, hat er gemeinschaftlich mit Novalis einen strengen Begriff des Werkes in Verbindung mit einem Formbegriff, der auf der Philosophie der Reflexion beruht, als neue Errungenschaft im Namen der romantischen Schule vertreten: »Was Ihr in den philosophischen Büchern von der Kunst und von der Form gesagt findet, reicht ungefähr hin, um die Uhrmacherkunst zu erklären. Von höherer Kunst und Form findet Ihr auch nirgends nur die leiseste Ahnung«.188 Die höhere Form ist die Selbstbeschränkung der Reflexion. In diesem Sinne handelt das 37. Lyzeumsfragment von »Wert und … Würde der Selbstbeschränkung, die doch für den Künstler wie für den Menschen … das Notwendigste und das Höchste ist. Das Notwendigste: denn überall, wo man sich nicht selbst beschränkt, beschränkt einen die Welt; wodurch man ein Knecht wird. Das Höchste: denn man kann sich nur in den Punkten und an den Seiten selbst beschränken, wo man unendliche189 Kraft