Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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… scheint und scheinen soll, muß dennoch im Grunde auch wieder schlechthin notwendig … sein; sonst … entsteht Illiberalität, und aus Selbstbeschränkung wird Selbstvernichtung«. Diese »liberale Selbstbeschränkung«, die Enders mit Recht »eine strenge Forderung romantischer Kritik«190 nennt, leistet die Darstellungsform des Werkes. Nirgends findet sich das Wesentliche dieser Anschauung klarer ausgesprochen als in einem Fragment des Novalis, welches sich nicht auf die Kunst, sondern auf die staatliche Sitte bezieht: »Da nun in der höchsten Belebung der Geist zugleich am wirksamsten ist, die Wirkungen des Geistes Reflexionen sind, die Reflexion aber, ihrem Wesen nach, bildend ist, mit der höchsten Belebung also die schöne oder vollkommene Reflexion verknüpft ist, so wird auch der Ausdruck des Staatsbürgers in der Nähe des Königs Ausdruck der höchsten zurückgehaltenen Kraftfülle, Ausdruck der lebhaftesten Regungen, beherrscht durch die achtungsvollste Besonnenheit … sein«.191. Hier ist nur für den Staatsbürger das Kunstwerk, für den König das Absolutum der Kunst einzusetzen, um aufs klarste gesagt zu finden, wie die bildende Kraft der Reflexion die Form des Werkes nach der Anschauung der Frühromantik prägt. Der Ausdruck »Werk« ist für das also bestimmte Gebilde von Friedrich Schlegel mit Betonung gebraucht worden. Der »Lothario« des »Gesprächs über die Poesie« spricht von dem Selbständigen, Insichvollendeten, wofür er »nun eben kein anderes Wort finde, als das von Werken, und es darum gern für diesen Gebrauch behalten möchte«.192 Im gleichen Zusammenhang liest man die folgende Wechselrede: »Lothario: … Nur dadurch, daß es Eins und Alles ist, wird ein Werk zum Werk. Nur dadurch unterscheidet sich’s vom Studium. Antonio: Ich wollte Ihnen doch Studien nennen, die dann in Ihrem Sinne zugleich Werke sind«.193 Hier enthält die Antwort einen berichtigenden Hinweis auf die Doppelnatur des Werkes: es ist nur eine relative Einheit, bleibt ein Essay, in welchem Ein und Alles sich angelegt findet. Noch in der Anzeige von Goethes Werken aus dem Jahre 1808 heißt es bei Schlegel: »… an Fülle der inneren Durchbildung geht der ›Meister‹ vielleicht jedem andern Werke unseres Dichters vor, keines ist in dem Grade ein Werk«.194 Zusammenfassend bezeichnet Schlegel die Bedeutung der Reflexion für Werk und Form mit folgenden Worten: »Gebildet ist ein Werk, wenn es überall scharf begrenzt, innerhalb der Grenzen aber grenzenlos … ist, wenn es sich selbst ganz treu, überall gleich und doch über sich selbst erhaben ist«195. Wenn kraft seiner Form das Kunstwerk ein Moment des absoluten Mediums der Reflexion ist, so hat Novalis’ Satz: »Jedes Kunstwerk hat ein Ideal a priori, eine Notwendigkeit bei sich, da zu sein«196 nichts Unklares an sich; eine Formulierung, in der die prinzipielle Überwindung des dogmatischen Rationalismus in der Ästhetik vielleicht am deutlichsten ist. Denn dies ist ein Standpunkt, zu dem eine Einschätzung des Werkes nach Regeln niemals führen konnte, ebensowenig wie eine Theorie, welche das Werk nur als Produkt eines genialischen Kopfes verstand. »Halten Sie es etwa für unmöglich, zukünftige Gedichte a priori zu konstruieren?«197 fragt ganz übereinstimmend der Ludoviko bei Schlegel.

      Neben der Shakespeareübersetzung ist die bleibende dichterische Leistung der Romantik die Eroberung der romanischen Kunstformen für die deutsche Literatur gewesen. Ihr Streben war mit vollem Bewußtsein auf die Eroberung, Ausbildung und Reinigung der Formen gerichtet. Doch war ihr Verhältnis zu ihnen ein ganz anderes als das der vorhergehenden Generationen. Die Romantiker faßten nicht, wie die Aufklärung, die Form als eine Schönheitsregel der Kunst, ihre Befolgung als eine notwendige Vorbedingung für die erfreuliche oder erhebende Wirkung des Werkes auf. Die Form galt ihnen weder selbst als Regel noch auch als abhängig von Regeln. Diese Auffassung, ohne welche das wahrhaft bedeutende italienische, spanische und portugiesische Übersetzungswerk A. W. Schlegels undenkbar ist, hat sein Bruder philosophisch intentioniert. Jede Form als solche gilt als eine eigentümliche Modifikation der Selbstbegrenzung der Reflexion, einer andern Rechtfertigung bedarf sie nicht, weil sie nicht Mittel zur Darstellung eines Inhalts ist. Das romantische Bemühen um Reinheit und Universalität im Gebrauch der Formen beruht auf der Überzeugung, in der kritischen Auflösung ihrer Prägnanz und Vielfältigkeit (in der Absolutierung der in ihnen gebundenen Reflexion) auf ihren Zusammenhang als Momente im Medium zu stoßen. Die Idee der Kunst als eines Mediums schafft also zum ersten Male die Möglichkeit eines undogmatischen oder freien Formalismus, eines liberalen Formalismus, wie die Romantiker sagen würden. Die frühromantische Theorie begründet die Geltung der Formen unabhängig vom Ideal der Gebilde. Die ganze philosophische Tragweite dieser Einstellung nach ihrer positiven und negativen Seite zu bestimmen, ist eine Hauptaufgabe der vorliegenden Abhandlung. – Wenn also Friedrich Schlegel von der Denkweise über die Gegenstände der Kunst verlangt, daß sie »absolute Liberalität mit absolutem Rigorismus vereinigt«198 enthalte, so darf man diese Forderung auch auf das Kunstwerk selbst, hinsichtlich seiner Form, beziehen. Eine solche Vereinigung hieße ihm in »dem edleren und ursprünglichen Sinne des Worts korrekt, da es absichtliche Durchbildung … des Innersten … im Werke nach dem Geist des Ganzen, praktische199 Reflexion des Künstlers bedeutet«.200

      Dies ist die Struktur des Werkes, für das die Romantiker eine immanente Kritik verlangen. Dieses Postulat birgt eine eigentümliche Paradoxie in sich. Denn es ist nicht abzusehen, wie ein Werk an seinen eigenen Tendenzen kritisiert werden könnte, weil diese Tendenzen, soweit sie einwandfrei feststellbar, erfüllt, und soweit sie unerfüllt, nicht einwandfrei feststellbar sind. Diese letzte Möglichkeit muß im extremen Falle die Gestalt annehmen, daß innere Tendenzen überhaupt fehlen und sonach die immanente Kritik unmöglich werden würde. Der romantische Begriff der Kunstkritik ermöglicht die Auflösung dieser beiden Paradoxien. Die immanente Tendenz des Werkes und demgemäß der Maßstab seiner immanenten Kritik ist die ihm zugrunde liegende und in. seiner Form ausgeprägte Reflexion. Diese ist jedoch in Wahrheit nicht sowohl der Maßstab der Beurteilung, als zuvörderst und in erster Linie die Grundlage einer völlig anderen, nicht beurteilend eingestellten Art von Kritik, deren Schwergewicht nicht in der Einschätzung des einzelnen Werkes, sondern in der Darstellung seiner Relationen zu allen übrigen Werken und endlich zu der Idee der Kunst liegt. Friedrich Schlegel bezeichnet es als die Tendenz seines kritischen Werkes »trotz eines oft peinlichen Fleißes im einzelnen … dennoch alles im ganzen nicht sowohl beurteilend zu würdigen, als zu verstehen und zu erklären«.201 Kritik ist also, ganz im Gegensatz zur heutigen Auffassung ihres Wesens, in ihrer zentralen Absicht nicht Beurteilung, sondern einerseits Vollendung, Ergänzung, Systematisierung des Werkes, andrerseits seine Auflösung im Absoluten. Beide Prozesse fallen letzten Endes, wie sich noch zeigen wird, zusammen. Das Problem der immanenten Kritik verliert seine Paradoxie202 in der romantischen Definition dieses Begriffs, nach welchem er nicht eine Beurteilung des Werkes meint, für die einen ihm immanenten Maßstab anzugeben widersinnig wäre. Kritik des Werkes ist vielmehr seine Reflexion, welche selbstverständlich nur den ihm immanenten Keim derselben zur Entfaltung bringen kann.

      Diese Theorie der Kritik erstreckt ihre Folgerungen allerdings auch auf die Theorie der Beurteilung der Werke. In drei Grundsätzen lassen diese Folgerungen sich aussprechen, welche ihrerseits die unmittelbare Entgegnung auf die oben aufgeworfene Paradoxie des Gedankens der immanenten Beurteilung geben. Diese drei Grundsätze der romantischen Theorie der Beurteilung von Kunstwerken lassen sich formulieren als das Prinzip von der Mittelbarkeit der Beurteilung, von der Unmöglichkeit einer positiven Wertskala und von der Unkritisierbarkeit des Schlechten.

      Das erste Prinzip, eine klare Folgerung aus dem Dargelegten, besagt, daß die Beurteilung eines Werkes niemals eine explizite, sondern stets eine im Faktum seiner romantischen Kritik (d. h. seiner Reflexion) implizierte sein muß. Denn der Wert des Werkes hängt einzig und allein davon ab, ob es seine immanente Kritik überhaupt möglich macht oder nicht. Ist diese möglich, liegt also im Werke eine Reflexion vor, welche sich entfalten, absolutieren und im Medium der Kunst auflösen läßt, so ist es ein Kunstwerk. Die bloße Kritisierbarkeit eines Werkes stellt das positive Werturteil über dasselbe dar; und dieses Urteil kann nicht durch eine gesonderte Untersuchung, vielmehr allein durch das Faktum der Kritik selbst gefällt werden, weil es gar keinen andern Maßstab, kein Kriterium für das Vorhandensein einer Reflexion gibt, als die Möglichkeit ihrer fruchtbaren Ent! faltung, die Kritik heißt. Jene implizite Beurteilung der Kunstwerke in der romantischen Kritik ist zweitens dadurch bemerkenswert, daß ihr keine Wertskala zur Verfügung steht. Ist ein Werk kritisierbar, so ist es ein Kunstwerk, andernfalls ist es keines – ein Mittleres zwischen diesen beiden Fällen


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