Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
und Mittelpunkt? Kann dieser Sturm und Drang der unendlichen Pflanze der Menschheit, die im Stillen von selbst wächst und sich bildet, nährenden Saft oder Gestaltung geben? Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart«240.
Der vielumstrittene Begriff der Transzendentalpoesie ist in diesem Zusammenhange unschwer, dennoch genau, zu erklären. Er ist, wie der der progressiven Universalpoesie, eine Bestimmung der Idee der Kunst. Stellt dieser in begrifflicher Konzentration deren Beziehung zur Zeit dar, so verweist der Begriff der Transzendentalpoesie zurück auf das systematische Zentrum, aus dem die romantische Kunstphilosophie hervorgegangen ist. Er stellt also die romantische Poesie als die absolute poetische Reflexion dar; die Transzendentalpoesie ist in der Gedankenwelt Friedrich Schlegels zur Athenäumszeit genau das, was der Begriff des Ur-Ich in den Windischmannschen Vorlesungen ist. Um das zu beweisen, hat man nur den Zusammenhängen, in denen der Begriff des Transzendentalen bei Schlegel und Novalis steht, genau nachzugehen. Man findet, daß sie überall auf den Begriff der Reflexion führen. So sagt Schlegel über den Humor: »sein eigentliches Wesen ist Reflexion. Daher seine Verwandtschaft mit … allem, was transzendental ist«241. »Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ichs zugleich zu sein«242, d. h. sich reflektierend zu verhalten. Die Reflexion transzendiert die jeweilige geistige Stufe, um auf die höhere überzugehen. Daher sagt Novalis mit Beziehung auf den Reflexionsakt in der Selbstdurchdringung: »Jene Stelle außer der Welt ist gegeben, und Archimedes kann nun sein Versprechen erfüllen«243. Der Ursprung der höheren Dichtung aus der Reflexion findet sich im folgenden Fragment angedeutet: »Es gibt gewisse Dichtungen in uns, die einen ganz anderen Charakter als die übrigen zu haben scheinen, denn sie sind vom Gefühle der Notwendigkeit begleitet, und doch ist schlechterdings kein äußerer Grund zu ihnen vorhanden. Es dünkt dem Menschen, als sei er in einem Gespräch begriffen und irgend ein unbekanntes geistiges Wesen veranlasse ihn auf eine wunderbare Weise zur Entwicklung der evidentesten Gedanken. Dieses Wesen muß ein höheres Wesen sein, weil es sich mit ihm auf eine Art in Beziehung setzt, die keinem an Erscheinungen gebundenen Wesen möglich ist. Es muß ein homogenes Wesen sein, weil es ihn wie ein geistiges Wesen behandelt und ihn nur zur seltensten Selbsttätigkeit auffordert. Dieses Ich höherer Art verhält sich zum Menschen wie der Mensch zur Natur oder der Weise zum Kinde«244. Die Dichtungen, welche aus der Tätigkeit des höheren Ich entspringen, sind die Glieder der Transzendentalpoesie, deren Charakteristik sich mit der im absoluten Werk ausgeprägten Idee der Kunst deckt. »Die bisherigen Poesien wirken meistenteils dynamisch, die künftige transzendentale Poesie könnte man die organische heißen. Wenn sie erfunden ist, so wird man sehen, daß alle echten Dichter bisher, ohne ihr Wissen, organisch poetisierten – daß aber dieser Mangel an Bewußtsein … einen wesentlichen Einfluß auf das Ganze ihrer Werke hatte – so daß sie größtenteils nur im einzelnen echt poetisch, im ganzen aber gewöhnlich unpoetisch waren.«245 Die Poesie des ganzen Werkes ist eben nach Novalis’ Ansicht von der Erkenntnis des Wesens der absoluten Kunsteinheit abhängig. – Die Einsicht in diese klare und einfache Bedeutung des Terminus »Transzendentalpoesie« ist durch einen besonderen Umstand außerordentlich erschwert worden. In demjenigen Fragment nämlich, das nach seinem Grundgedanken durchaus als der Hauptbeleg für den erörterten Ideengang anzusehen ist, hat Schlegel den fraglichen Ausdruck anders definiert246 und ihn von einem Terminus, mit dem er nach seinem eigenen und Novalis’ Sprachgebrauch gleichbedeutend sein muß, unterschieden. »Transzendentalpoesie« bedeutet in der Tat bei Novalis – und sollte es sinngemäß auch bei Schlegel – die absolute Reflexion der Poesie, welche Schlegel in dem fraglichen Fragment als »Poesie der Poesie« von ihr unterscheidet: »Es gibt eine Poesie, deren Eins und Alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müßte … So wie man aber wenig Wert auf eine Transzendentalphilosophie legen würde, die nicht kritisch wäre, nicht auch das Produzierende mit dem Produkt darstellte, und im System der transzendentalen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens enthielte, so sollte wohl auch jene Poesie die in modernen Dichtern nicht seltnen transzendentalen Materialien und Vorübungen zu einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung … vereinigen und in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein«.247 Die ganze Schwierigkeit, die der Begriff der Transzendentalpoesie der Darstellung romantischer Philosophie bereitet, die Unklarheit, mit der er behaftet erschien, rührt daher, daß im obigen Fragment dieser Ausdruck nicht mit Hinsicht auf das reflexive Moment in der Poesie, sondern mit Hinblick auf die ältere Fragestellung Schlegels nach dem Verhältnis der griechischen zur modernen Poesie gebraucht wird. Da die griechische als real, die moderne als ideal248 von Schlegel bezeichnet wurde, so prägt er, mit mystizistischer Anspielung auf den ganz andersartigen philosophischen Streit zwischen metaphysischem Idealismus und Realismus und dessen Lösung durch die transzendentale Methode bei Kant, den Terminus »Transzendentalpoesie«. Im letzten Grunde kommt hier allerdings dennoch Schlegels Sprachgebrauch mit dem, was Novalis Transzendentalpoesie und er selbst Poesie der Poesie nennt, überein. Denn die Reflexion, welche in den beiden letzten Bezeichnungen gemeint ist, ist eben die Methode der Lösung für die »transzendentale« ästhetische Aporie Schlegels. Durch die Reflexion im Kunstwerk selbst wird, wie ausgeführt wurde, seine strenge formale Geschlossenheit (griechischer Typus), welcher relativ bleibt, einerseits gebildet, andererseits aber aus ihrer Relativität erlöst und ins Absolutum der Kunst durch Kritik und Ironie erhoben (moderner Typus).249 – Die »Poesie der Poesie« ist der zusammenfassende Ausdruck der reflexiven Natur des Absoluten. Sie ist die ihrer selbst bewußte Poesie, und da Bewußtsein nach der frühromantischen Lehre nur eine gesteigerte geistige Form dessen ist, wovon es Bewußtsein ist, so ist Bewußtsein der Poesie selbst Poesie. Es ist Poesie der Poesie. Die höhere Poesie »ist selbst Natur und Leben …; aber sie ist die Natur der Natur, das Leben des Lebens, der Mensch im Menschen; und ich denke, dieser Unterschied ist für den, der ihn überhaupt wahrnimmt, wahrlich bestimmt und entschieden genug«250. Diese Formeln sind nicht rhetorische Steigerungen, sondern Bezeichnungen der reflexiven Natur der Transzendentalpoesie. »Ich vermute, daß sich auch über Shakespeare über kurz oder lang in Dir die Kunst in der Kunst spiegeln wird«251, schreibt Friedrich Schlegel an seinen Bruder.
Das Organ der Transzendentalpoesie als diejenige Form, welche im Absolutum nach dem Zerfall der profanen Formen überdauert, bezeichnet Schlegel als die symbolische Form. In dem literarischen Rückblick, mit welchem er 1803 die »Europa« eröffnet, sagt er von den Heften des »Athenäums«: »Im Anfange derselben ist Kritik und Universalität der vorwaltende Zweck, in den späteren Teilen ist der Geist des Mystizismus das Wesentlichste. Man scheue dieses Wort nicht;252 es bezeichnet die Verkündigung der Mysterien der Kunst und Wissenschaft, die ihren Namen ohne solche Mysterien nicht verdienen würden; vor allem aber die kräftige Verteidigung der symbolischen Formen und ihrer Notwendigkeit gegen den profanen Sinn«253. Der Ausdruck »symbolische Form« deutet auf zweierlei: er bezeichnet erstens die Beziehung auf die verschiedenen Deckbegriffe des poetischen Absolutums, vor allem auf die Mythologie. Die Arabeske beispielsweise ist eine symbolische Form, die auf einen mythologischen Inhalt deutet. In diesem Sinne gehört die symbolische Form nicht in diesen Zusammenhang. Zweitens ist sie die Ausprägung des reinen poetischen Absolutums in der Form. So wird Lessing von Schlegel verehrt, »wegen der symbolischen Form seiner Werke … wegen dieser … gehören … seine Werke in das Gebiet der höheren Kunst, da eben sie … das einzige entscheidende Merkmal derselben ist«254. Nichts anderes als die symbolische Form ist unter dem allgemeinen Ausdruck »Symbol« verstanden, wenn Schlegel von der höchsten Aufgabe der Poesie sagt, sie sei »schon oft erreicht worden, durch dasselbe, wodurch überall der Schein des Endlichen mit der Wahrheit des Ewigen in Beziehung gesetzt und eben dadurch in sie aufgelöst wird: … durch Symbole, durch die an die Stelle der Täuschung die Bedeutung tritt, das einzige Wirkliche im Dasein«255. Diese Bedeutung, d. h. die Beziehung auf die Idee der Kunst verleiht die symbolische Form den transzendentalpoetischen Werken durch die Reflexion. Die »symbolische Form« ist die Formel, unter der die Tragweite der Reflexion für das Kunstwerk zusammengefaßt wird. »Die Ironie und Reflexion sind die Grundeigenschaften der symbolischen Form der romantischen Dichtung«256