Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
der Formen, in deren Vereinigung die Aufgabe besteht, mitunter vielleicht noch mehr kultiviert als das rein Prosaische, das sie erfüllt. In den zweiten Teil des Romans wollte er viele Gedichte einfügen. Aber beide Tendenzen, die Mannigfaltigkeit der Formen und das Prosaische, haben den Gegensatz gegen die begrenzte Form und die Aspiration aufs Transzendentale gemein. Nur wird dies stellenweise weniger durch Friedrich Schlegels Prosa dargestellt, als in ihr postuliert. Auch in Schlegels Theorie des Romans steht der Gedanke der Prosa, obgleich er zweifellos ihren eigentlichen Geist bestimmt, nicht klar im Mittelpunkt. Er hat ihn mit der Lehre von der Poetisierung des Stoffes kompliziert.274
Die Konzeption der Idee der Poesie als der Prosa bestimmt die ganze romantische Kunstphilosophie. Aus dieser Bestimmtheit heraus ist sie historisch folgenreich gewesen. Sie hat sich nicht nur mit dem Geiste der modernen Kritik verbreitet, ohne in ihren Voraussetzungen und ihrem eigentlichen Wesen agnosziert worden zu sein, sondern sie ist auch in mehr oder weniger ausgeprägter Gestalt in die philosophischen Grundlagen späterer Kunstschulen eingegangen, wie der ausgehenden französischen Romantik, der deutschen Neuromantik. Vor allem aber stiftet diese philosophische Grundkonzeption eine eigentümliche Beziehung innerhalb eines weiteren romantischen Kreises selbst, dessen Gemeinschaftliches ebenso wie das der engeren Schule, wie man allgemein zugibt, unauffindbar bleibt, solange es nur in der Dichtung und nicht ebensosehr in der Philosophie gesucht wird. Unter jenem Gesichtspunkt rückt in diesen weiteren Kreis, um nicht zu sagen in seine Mitte, ein Geist, der durch seine bloße Einschätzung als Dichter im modernen Sinne des Wortes (so hoch dieser auch gegriffen werden muß) nicht erfaßt werden kann, und dessen ideengeschichtliches Verhältnis zur romantischen Schule im Unklaren verharrt, wenn seine besondere philosophische Einheit mit ihr unbeachtet bleibt. Dieser Geist ist Hölderlin, und die These, welche seine philosophische Beziehung zu den Romantikern stiftet, ist der Satz von der Nüchternheit der Kunst. Dieser Satz ist der im wesentlichen durchaus neue und noch unabsehbar fortwirkende Grundgedanke der romantischen Kunstphilosophie, die vielleicht größte Epoche in der abendländischen Philosophie der Kunst wird durch ihn bezeichnet. Wie er mit dem methodischen Verfahren jener Philosophie, der Reflexion, zusammenhängt, liegt auf der Hand. Das Prosaische, in dem die Reflexion als Prinzip der Kunst sich zuhöchst ausprägt, ist ja im Sprachgebrauch geradezu eine metaphorische Bezeichnung des Nüchternen. Als ein denkendes und besonnenes Verhalten ist die Reflexion das Gegenteil der Ekstase, der μανία des Platon. Wie bei den Frühromantikern gelegentlich das Licht als Symbol des Reflexionsmediums, der unendlichen Besinnung auftritt (s. o. p. 37), so sagt auch Hölderlin:
Wo bist du, Nachdenkliches! das immer muß
Zur Seite gehn, zu Zeiten, wo bist du, Licht?275
»Besonnenheit ist die frühste Muse des nach Bildung strebenden Menschen«,276 sagt sogar der unphilosophische A. W. Schlegel, und Novalis nennt das einen treffenden »Lichtstrahl auf die frühste Poesie«.277 In einem sehr eigentümlichen, schönen Bilde spricht er die nüchterne Natur der Reflexion aus: »Ist nicht die Reflexion auf sich selbst … konsonierender Natur?278 … Gesang nach innen: Innenwelt. Rede-Prosa-Kritik«.279 Der ganze Zusammenhang der romantischen Kunstphilosophie auf ihrer höchsten Stufe, wie er zum Teil noch zu entwickeln bleibt, ist in diesen Worten schematisch angedeutet.
Die »heilignüchterne«280 Poesie hat Hölderlin in seinen spätern Schriften in einer Fülle der tiefsinnigsten Gedanken zu erkennen gesucht. Hier soll nur eine hervorragende Stelle angeführt werden, um das Verständnis der weniger klaren, aber gleichstrebenden Sätze von Friedrich Schlegel und Novalis vorzubereiten: »Es wird gut sein, um den Dichtern, auch bei uns, eine bürgerliche Existenz zu sichern, wenn man die Poesie, auch bei uns, den Unterschied der Zeiten und Verfassungen abgerechnet, zur μηχανή der Alten erhebt. – Auch andern Kunstwerken fehlt, mit den griechischen verglichen, die Zuverlässigkeit; wenigstens sind sie bis jetzt mehr nach Eindrücken beurteilt worden, die sie machen, als nach ihrem gesetzlichen Kalkül und sonstiger Verfahrungsart, wodurch das Schöne hervorgebracht wird. Der modernen Poesie fehlt es aber besonders an der Schule und am Handwerksmäßigen, daß nämlich ihre Verfahrungsart berechnet und gelehrt, und wenn sie gelernt ist, in der Ausübung immer zuverlässig wiederholt werden kann. Man hat, unter Menschen, bei jedem Dinge, vor allem darauf zu sehen, daß es Etwas ist, d. h. daß es in dem Mittel (moyen) seiner Erscheinung erkennbar ist, daß die Art, wie es bedingt ist, bestimmt und gelehret werden kann. Deswegen und aus höheren Gründen bedarf die Poesie besonders sicherer und charakteristischer Prinzipien und Schranken. – Dahin gehört einmal eben jener gesetzliche Kalkül«.281 Novalis: »Echte Kunstpoesie ist bezahlbar«.282 »Kunst … ist mechanisch«.283 »Der Sitz der eigentlichen Kunst ist lediglich im Verstande.«284 »Die Natur zeugt, der Geist macht. Il est beaucoup plus commode d’être fait que de se faire lui(sic!)-même.«285 Die Art dieses Machens ist also die Reflexion. Das Zeugnis dieser bewußten Tätigkeit im Werk sind vor allem die »geheimen Absichten, … deren wir beim Genius … nie zu viele voraussetzen können«,286 wie Schlegel sagt. »… absichtliche … Nebenausbildung des … Kleinsten«287 ist Zeugnis dichterischer Meisterschaft. Radikal – eine gewisse Unklarheit ist der Grund dieses Radikalismus – heißt es im Athenäum: »Man glaubt Autoren oft durch Vergleichungen mit dem Fabrikwesen zu schmähen. Aber soll der wahre Autor nicht auch Fabrikant sein? Soll er nicht sein ganzes Leben dem Geschäft widmen, literarische Materie in Formen zu bilden, die auf eine große Art zweckmäßig und nützlich sind?«288 »Solange der Künstler … begeistert ist, befindet er sich für die Mitteilung wenigstens in einem illiberalen Zustande.«289 – An die gemachten, mit prosaischem Geiste erfüllten Werke dachten die Romantiker, wenn sie den Satz von der Unzerstörbarkeit der echten Kunstgebilde aussprachen. Was am Strahl der Ironie zerfällt, ist allein die Illusion, unzerstörbar bleibt aber der Kern des Werkes, weil es nicht in der Ekstase beruht, die zersetzt werden kann, sondern in der unantastbaren nüchternen prosaischen Gestalt. Durch die mechanische Vernunft ist auch noch im Unendlichen – im Grenzwert der begrenzten Formen – nüchtern das Werk konstituiert. Für diese mystische Konstitution des Werkes jenseits der eingeschränkten und in der Erscheinung schönen (im engern Sinn poetischen) Formen ist der Roman der Prototyp. Der Bruch dieser Theorie mit hergebrachten Anschauungen vom Wesen der Kunst manifestiert sich endlich in der Stelle, die sie jenen »schönen« Formen, die sie der Schönheit überhaupt einräumt. Es wurde schon ausgeführt, daß die Form nicht mehr Ausdruck der Schönheit, sondern der Kunst als der Idee selbst ist. Letzten Endes muß der Begriff der Schönheit aus der romantischen Kunstphilosophie überhaupt weichen, nicht nur, weil er nach der rationalistischen Auffassung mit dem der Regel kompliziert war, sondern vor allem, weil die Schönheit als ein Gegenstand des »Vergnügens«, des Wohlgefallens, des Geschmacks, nicht zu vereinigen schien mit der strengen Nüchternheit, die nach der neuen Auffassung das Wesen der Kunst bestimmte. »Eine eigentliche Kunstlehre der Poesie würde mit der absoluten Verschiedenheit, der ewig unauflöslichen Trennung der Kunst und der rohen Schönheit anfangen290 … Flüchtigen Dilettanten ohne Enthusiasmus und ohne Belesenheit … müßte eine solche Poetik vorkommen, wie einem Kinde, das bildern wollte, ein trigonometrisches Buch.«291 »Die höchsten Kunstwerke sind schlechthin ungefällig; es sind Ideale, die nur approximando gefallen können und sollen, ästhetische Imperative.«292 Die Lehre, nach welcher die Kunst und ihre Werke essentiell weder Erscheinungen der Schönheit noch Manifestationen unvermittelter begeisterter Erregung, sondern ein in sich ruhendes Medium der Formen sind, ist seit der Romantik wenigstens im Geiste der Kunstentwicklung selbst nicht mehr in Vergessenheit geraten. Wollte man die Kunsttheorie eines so eminent bewußten Meisters wie Flaubert, die der Parnassiens oder diejenige des Georgeschen Kreises auf ihre Grundsätze bringen, man würde die hier dargelegten unter ihnen finden. Diese Grundsätze waren hier zu formulieren, ihr Ursprung in der Philosophie der deutschen Frühromantik war nachzuweisen. Sie sind dem Geist dieser Epoche so sehr eigen, daß Kircher mit Recht erklären konnte: »Diese Romantiker wollten gerade das ›Romantische‹ von sich abhalten – wie man es damals und heute versteht«.293 »Ich fange an, das Nüchterne, aber echt Fortschreitende, Weiterbringende zu lieben«,294 schreibt Novalis 1799 an Caroline Schlegel. Auch hierfür gibt Friedrich Schlegel die extremste Formulierung: »Das ist der eigentliche Punkt, daß wir uns wegen des Höchsten nicht so ganz allein