Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang … Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art und gleichsam die Dichtkunst selbst ist«. Klarer konnte das Kontinuum der Kunstformen kaum bezeichnet werden. Zugleich beabsichtigt Schlegel, dieser Kunsteinheit, indem er sie als die romantische Poesie oder Dichtart bezeichnet, die bestimmteste sachliche Charakteristik zukommen zu lassen. Diese romantische Dichtart hat er im Sinne, wenn er sagt: »Man hat schon soviele Theorien der Dichtarten. Warum hat man noch keinen Begriff von Dichtart? Vielleicht würde man sich dann mit einer einzigen Theorie der Dichtarten behelfen müssen«219. Die romantische Poesie ist also die Idee der Poesie selbst; sie ist das Kontinuum der Kunstformen. Schlegel hat sich aufs intensivste bemüht, die Bestimmtheit und Fülle, in der er diese Idee dachte, zum Ausdruck zu bringen. »Haben die Ideale für den Denker nicht soviel Individualität, wie die Götter des Altertums für den Künstler, so ist alle Beschäftigung mit Ideen nichts als ein langweiliges und mühsames Würfelspiel mit hohlen Formeln«220. Insbesondere: »Sinn für Poesie … hat der, für den sie ein Individuum ist«221. Und: »Gibt es nicht Individuen, die ganze Systeme von Individuen in sich enthalten?«222 Die Poesie wenigstens, als das Reflexionsmedium der Formen, muß ein solches Individuum sein. Man möchte bestimmt annehmen, daß Novalis an das Kunstwerk denkt, wenn er sagt: »Ein unendlich charakterisiertes Individuum ist Glied eines Infinitoriums«.223 Jedenfalls spricht er für Philosophie und Kunst das Prinzip eines Kontinuums der Ideen aus; die Ideen der Poesie sind nach romantischer Auffassung die Darstellungsformen. »Der Philosoph, der in seiner Philosophie alle einzelnen Philosopheme in ein einziges verwandeln, der aus allen Individuen derselben Ein Individuum machen kann, erreicht das Maximum in seiner Philosophie. Er erreicht das Maximum eines Philosophen, wenn er alle Philosophien in eine einzige Philosophie vereinigt … Der Philosoph und Künstler verfahren organisch, wenn ich so sagen darf … Ihr Prinzip, ihre Vereinigungsidee ist ein organischer Keim, der sich frei zu einer unbestimmte Individuen enthaltenden, unendlich individuellen, allbildsamen Gestalt entwickelt, ausbildet – eine ideenreiche Idee.«224 »Alles befaßt die Kunst und Wissenschaft, von einem aufs andere, und so von einem auf alles, rhapsodisch oder systematisch zu gelangen; die geistige Weisekunst, die Divinationskunst.«225 Diese Weisekunst ist selbstverständlich die Kritik, die von Friedrich Schlegel auch die »divinatorische«226 genannt wird.
Um die Individualität der Kunsteinheit zum Ausdruck zu bringen, hat Schlegel seine Begriffe überspannt und nach einer Paradoxie gegriffen. Anders war der Gedanke, das höchste Allgemeine als Individualität auszusprechen, unvollziehbar. Dieser Gedanke hat jedoch seinerseits zum letzten Motiv keineswegs eine Absurdität oder auch nur einen Irrtum; vielmehr hat Schlegel in ihm ein wertvolles und gültiges Motiv lediglich falsch interpretiert. Dies Motiv war das Bestreben, den Begriff der Idee der Kunst vor dem Mißverständnis zu bewahren, er sei eine Abstraktion aus den empirisch vorgefundenen Kunstwerken. Er wollte diesen Begriff als eine Idee im platonischen Sinn, als ein πρότερον τῇ φύσει, als den Realgrund aller empirischen Werke bestimmen, und er beging die alte Vermengung von abstrakt und allgemein, wenn er ihn darum zu einem individuellen machen zu müssen glaubte. Nur in dieser Absicht bezeichnet Schlegel wieder und wieder mit Nachdruck die Einheit der Kunst, das Kontinuum der Formen selber als ein Werk. Dieses unsichtbare Werk ist es, welches das sichtbare, von dem er an anderer Stelle spricht (s. o. p.86), in sich aufnimmt. Am Studium der griechischen Poesie war Schlegel diese Konzeption aufgegangen, von dort hatte er sie auf die Poesie überhaupt übertragen: »Der systematische Winckelmann, der alle Alten gleichsam wie einen Autor las, alles im ganzen sah und seine gesamte Kraft auf die Griechen konzentrierte, legte durch die Wahrnehmung der absoluten Verschiedenheit des Antiken und des Modernen den ersten Grund zu einer materialen Altertumslehre. Erst wenn der Standpunkt und die Bedingungen der absoluten Identität des Antiken und Modernen, die war, ist oder sein wird, gefunden ist, darf man sagen, daß wenigstens der Kontur der Wissenschaft227 fertig sei und nun an die methodische Ausführung gedacht werden könne«228. »Alle Gedichte des Altertums schließen sich eins an das andere, bis sich aus immer größern Massen und Gliedern das Ganze bildet … Und so ist es wahrlich kein leeres Bild zu sagen: die alte Poesie sei ein einziges unteilbares, vollendetes Gedicht. Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist? Auf eine andere Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schönere, größere?«229 »Alle klassischen Gedichte der Alten hängen zusammen, unzertrennlich, bilden ein organisches Ganzes, sind richtig angesehen nur Ein Gedicht, das einzige, in welchem die Dichtkunst selbst vollkommen erscheint. Auf eine ähnliche Weise sollen in der vollkommenen Literatur alle Bücher nur Ein Buch sein«230. »So muß auch das Einzelne der Kunst, wenn es gründlich genommen wird, zum unermeßlichen Ganzen führen! Oder glaubt ihr in der Tat, daß wohl alles andere ein Gedicht und ein Werk sein könne, nur die Poesie selbst nicht?«231 Für die werdende Einheit der Poesie als des unsichtbaren Werkes ist die Ausgleichung und Versöhnung der Formen der sichtbare und maßgebende Vorgang. – Letzten Endes steht die mystische These, daß die Kunst selbst ein Werk sei, – Schlegel hat sie um 1800 besonders in den Vordergrund seiner Gedanken gerückt – in genauem Zusammenhang mit dem Satz, welcher die Unzerstörbarkeit der Werke behauptet, die in der Ironie geläutert sind. Beide Sätze erklären, daß Idee und Werk in der Kunst nicht absolute Gegensätze sind. Die Idee ist Werk und auch das Werk ist Idee, wenn es die Begrenztheit seiner Darstellungsform überwindet.232
Die Darstellung der Idee der Kunst im Gesamtwerk hat Schlegel zur Aufgabe der progressiven Universalpoesie gemacht; diese Bezeichnung der Poesie weist auf nichts anderes als jene Aufgabe hin. »Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie … Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.«233 Von ihr gilt: »… eine Idee läßt sich nicht in einen Satz fassen. Eine Idee ist eine unendliche Reihe von Sätzen, eine irrationale Größe, unsetzbar,234 inkommensurabel … Das Gesetz ihrer Fortschreitung läßt sich aber aufstellen«.235 – An den Begriff der progressiven Universalpoesie kann das modernisierende Mißverständnis sich besonders leicht heften, wenn sein Zusammenhang mit dem des Reflexionsmediums unbeachtet bleibt. Es würde darin bestehen, die unendliche Progression als eine bloße Funktion der unbestimmten Unendlichkeit der Aufgabe einerseits, der leeren Unendlichkeit der Zeit andrerseits, aufzufassen. Aber es ist schon darauf hingewiesen worden, wie sehr Schlegel um Bestimmtheit, um Individualität der Idee, welche der progressiven Universalpoesie die Aufgabe stellt, rang. Die Unendlichkeit der Progression darf also den Blick von der Bestimmtheit ihrer Aufgabe nicht ablenken, und wenn schon in dieser Bestimmtheit nicht eigentlich Schranken liegen, so könnte doch die Formulierung, daß es für »diese werdende Poesie … keine Schranken des Fortschritts, der Weiterentwicklung … gibt«,236 irreführen. Denn sie legt den Ton nicht auf das Wesentliche. Wesentlich ist vielmehr, daß die Aufgabe der progressiven Universalpoesie in einem Medium der Formen als dessen fortschreitend genauere Durchwaltung und Ordnung auf das bestimmteste gegeben ist. »… die Schönheit … ist … nicht bloß der leere Gedanke von etwas, was hervorgebracht werden soll, … sondern auch ein Faktum, nämlich ein ewiges transzendentales.«237 Dies ist sie als Kontinuum der Formen, als ein Medium, dessen Versinnlichung durch das Chaos als den Schauplatz ordnender Durchwaltung schon bei Novalis (s. o. p. 38) begegnet ist. Auch in der folgenden Bemerkung Schlegels ist das Chaos nichts anderes, als das Sinnbild des absoluten Mediums: »Aber die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, nämlich eines solchen; welches nur auf die Berührung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten …«.238 Also nicht um ein Fortschreiten ins Leere, um ein vages Immer-besser-dichten, sondern um stetig umfassendere Entfaltung und Steigerung der poetischen Formen handelt es sich. Die zeitliche Unendlichkeit, in der dieser Prozeß stattfindet, ist ebenfalls eine mediale und qualitative.239 Daher ist die Progredibilität durchaus nicht das, was unter dem modernen Ausdruck »Fortschritt« verstanden wird, nicht ein gewisses nur relatives Verhältnis der Kulturstufen zu einander. Sie ist, wie das ganze Leben der Menschheit, ein unendlicher Erfüllungs-, kein bloßer Werdeprozeß. Wenn trotzdem nicht zu leugnen ist, daß in diesen Gedanken der romantische Messianismus nicht in seiner vollen Kraft wirkt, so sind sie doch kein Widerspruch