Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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sich an verschiedenen Gegenständen modifiziert ausprägen. Wenn Novalis sagt: »Was zugleich Gedanke und Beobachtung ist, ist ein kritischer … Keim«,160 so spricht er – zwar in tautologischer Rede, denn die Beobachtung ist ein Denkprozeß – die nahe Verwandtschaft zwischen Kritik und Beobachtung aus. Kritik ist also gleichsam ein Experiment am Kunstwerk, durch welches dessen Reflexion wachgerufen, durch das es zum Bewußtsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht wird. »Die echte Rezension sollte … das Resultat und die Darstellung eines philologischen Experiments und einer literarischen Recherche sein.«161 Wiederum nennt Schlegel eine »sogenannte Recherche … ein historisches Experiment«162, und im Rückblick auf seine kritische Tätigkeit, den er 1800 anstellte, sagte er: »ich werde es mir nicht versagen, mit den Werken der poetischen und der philosophischen Kunst, wie bisher, so auch ferner für mich und für die Wissenschaft zu experimentieren«.163 Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst, und das Experiment besteht nicht in der Reflexion über ein Gebilde, welche dieses nicht, wie es im Sinn der romantischen Kunstkritik liegt, wesentlich alterieren könnte, sondern in der Entfaltung der Reflexion, d. h. für den Romantiker: des Geistes, in einem Gebilde.

      Sofern Kritik Erkenntnis des Kunstwerks ist, ist sie dessen Selbsterkenntnis; sofern sie es beurteilt, geschieht es in dessen Selbstbeurteilung. Die Kritik geht in dieser letzten Ausprägung über die Beobachtung hinaus, es zeigt sich in dieser die Verschiedenheit des Kunstgegenstandes von dem der Natur, der keine Beurteilung zuläßt. Der Gedanke der Selbstbeurteilung auf der Grundlage der Reflexion ist auch außerhalb des Gebietes der Kunst den Romantikern nicht fremd. So liest man bei Novalis: »Die Philosophie der Wissenschaften hat … drei Perioden. Die thetische der Selbstreflexion der Wissenschaft, die andere der entgegengesetzten, antinomischen Selbstbeurteilung der Wissenschaft und die synkritische Selbstreflexion und Selbstbeurteilung zugleich«.164 Was die Selbstbeurteilung in der Kunst betrifft, so heißt es in der für Schlegels Theorie der Kritik bezeichnenden Rezension des »Wilhelm Meister«: »Glücklicherweise ist es eben eins von den Büchern, welche sich selbst beurteilen«.165 Novalis sagt: »Rezension ist Complement des Buchs. Manche Bücher bedürfen keiner Rezension, nur einer Ankündigung; sie enthalten schon die Rezension mit«.166

      Eine Beurteilung ist allerdings diese Selbstbeurteilung in der Reflexion nur uneigentlich zu nennen. Es ist nämlich in ihr ein notwendiges Moment aller Beurteilung, das Negative, durchaus verkümmert. Zwar erhebt sich der Geist in jeder Reflexion über alle früheren Reflexionsstufen und negiert sie damit – gerade dies gibt der Reflexion zunächst die kritische Färbung –, aber das positive Moment dieser Bewußtseinssteigerung überwiegt das negative bei weitem. Diese Einschätzung des Reflexionsvorgangs spricht aus Novalis’ Worten: »Der Akt des sich selbst Überspringens ist überall der höchste, der Urpunkt, die Genesis des Lebens … So hebt alle Philosophie da an, wo der Philosophierende sich selbst philosophiert, d. h. zugleich verzehrt … und wieder erneuert … So hebt alle lebendige Moralität damit an, daß ich aus Tugend gegen die Tugend handle; damit beginnt das Leben der Tugend, durch welches vielleicht die Kapazität ins Unendliche zunimmt«.167 Genau ebenso positiv bewerten die Romantiker die Selbstreflexion im Kunstwerk. Für die Bewußtseinssteigerung des Werkes durch Kritik hat Schlegel einen höchst bezeichnenden Ausdruck in einem Witz gefunden. In einem Briefe an Schleiermacher bezeichnet er nämlich seinen Athenäumsaufsatz »Über Goethe’s Meister« kurz als den »Übermeister«,168 ein vortrefflicher Ausdruck für die letzte Intention dieser Kritik, welche mehr als jede andere mit seinem Begriff Kunstkritik überhaupt zusammenhängt. Auch sonst gebraucht er gern ähnliche Prägungen, ohne daß man entscheiden könnte, ob dabei die gleiche Stimmung zugrunde liegt, weil sie nicht in einem Worte geschrieben sind.169 Das Moment der Selbstvernichtung, die mögliche Negation in der Reflexion kann also nicht ins Gewicht fallen gegenüber dem durch und durch Positiven der Erhöhung des Bewußtseins im Reflektierenden. So führt eine Analysis des romantischen Kritikbegriffs alsbald auf jenen Zug, der sich in ihrem Fortgang immer deutlicher zeigen und vielseitiger begründen wird: die völlige Positivität dieser Kritik, in der sie von ihrem modernen Begriff, welcher in ihr eine negative Instanz erblickt, sich radikal unterscheidet.

      Jede kritische Erkenntnis eines Gebildes ist als Reflexion in ihm nichts anderes, als ein höherer selbsttätig entsprungener Bewußtseinsgrad desselben. Diese Bewußtseinssteigerung in der Kritik ist prinzipiell unendlich, die Kritik ist also das Medium, auf die Unendlichkeit der Kunst bezieht und endlich in sie in dem sich die Begrenztheit des einzelnen Werkes methodisch übergeführt wird, denn die Kunst ist, wie es sich von selbst versteht, als Reflexionsmedium unendlich. Novalis hat die mediale Reflexion, wie oben angeführt, allgemein als Romantisieren bezeichnet und dabei gewiß nicht nur an die Kunst gedacht. Doch ist, was er so beschreibt, genau das Verfahren der Kunstkritik. »Absolutierung, Universalisierung, Klassifikation des individuellen Moments … ist das eigentliche Wesen des Romantisierens.«170 »Indem ich … dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.«171 Auch vom Kritiker aus, denn als solcher ist der »wahre Leser« der folgenden Bemerkung aufzufassen, bezeichnet er die kritische Aufgabe: »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niederen Instanz schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl … scheidet beim Lesen wieder das Rohe und Gebildete des Buchs, und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein zweiter Leser noch mehr läutern, und so wird … die Masse endlich … Glied des wirksamen Geistes«.172 Das heißt, es soll das einzelne Kunstwerk im Medium der Kunst aufgelöst werden, dieser Prozeß kann aber durch eine Vielheit einander ablösender Kritiker nur dann sinngemäß dargestellt sein, wenn diese nicht empirische Intellekte, sondern personifizierte Reflexionsstufen sind. Es liegt auf der Hand, daß die Potenzierung der Reflexion im Werk auch als solche in seiner Kritik bezeichnet werden kann, welche ja selbst unendlich viele Stufen hat. In diesem Sinne heißt es bei Schlegel: »Jede philosophische173 Rezension sollte zugleich Philosophie der Rezensionen sein«174. – Niemals kann dieses kritische Verhalten in Konflikt mit der ursprünglichen, rein gefühlsmäßigen Aufnahme des Kunstwerkes geraten, denn es ist, wie die Steigerung des Werkes selbst, so auch die seines Erfassens und Empfangens. In der Kritik des »Wilhelm Meister« sagt Schlegel: »Es ist schön und notwendig, sich dem Eindruck eines Gedichtes ganz hinzugeben … und etwa nur im Einzelnen das Gefühl durch Reflexion zu bestätigen und zum Gedanken zu erheben und … zu ergänzen … Aber nicht minder notwendig ist es, von allem Einzelnen abstrahieren zu können, das Allgemeine schwebend zu fassen«.175 Dies Erfassen des Allgemeinen heißt schwebend, weil es Sache der unendlich sich erhöhenden Reflexion ist, die sich in keiner Betrachtung dauernd niederläßt, wie es im 116. Athenäumsfragment (s. o. p. 63) von Schlegel angedeutet wird. So erfaßt die Reflexion gerade die zentralen, d. h. allgemeinen Momente des Werkes und versenkt sie in das Medium der Kunst, wie es eben in der Kritik des »Wilhelm Meister« sichtbar sein soll. Bei genauer Betrachtung will Schlegel dort in der Rolle, welche in der Bildung des Helden die verschiedenen Kunstarten spielen, eine Systematik verborgen angedeutet finden, deren deutliche Entfaltung und Einordnung ins Kunstganze eine Aufgabe der Kritik des Werkes sei. Dabei soll diese nichts anderes tun, als die geheimen Anlagen des Werkes selbst aufdecken, seine verhohlenen Absichten vollstrecken. Im Sinne des Werkes selbst, d. h. in seiner Reflexion, soll es über dasselbe hinausgehen, es absolut machen. Es ist klar: für die Romantiker ist Kritik viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung. In diesem Sinne haben sie poetische Kritik gefordert, den Unterschied zwischen Kritik und Poesie aufgehoben und behauptet: »Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, … als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden176, … hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst«177. »Jene poetische Kritik … wird die Darstellung von Neuem darstellen, das schon Gebildete noch einmal bilden wollen … wird das Werk ergänzen, verjüngen, neu gestalten.«178 Denn das Werk ist unvollständig: »Nur das Unvollständige kann begriffen werden, kann uns weiter führen. Das Vollständige wird nur genossen. Wollen wir die Natur begreifen, so müssen wir sie als unvollständig setzen«.179 Das gilt auch vom Kunstwerk, aber es gilt nicht als Fiktion, sondern in Wahrheit. Jedes Werk ist dem Absolutum der Kunst gegenüber mit Notwendigkeit unvollständig, oder – was dasselbe bedeutet es ist unvollständig gegenüber


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