Liebe um Liebe. Dragica Rajčić Holzner

Liebe um Liebe - Dragica Rajčić Holzner


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so plötzlich wie es gekommen ist, verschwindet das runde weiße Pferd. Großmutter versucht, wieder ihre Stimme zu finden, und es gelingt ihr, zu flüstern: »Das Pferd ist neben uns gelaufen.« – Großvater fluchte: »Verdammt, du hättest es mir sofort sagen sollen. Nichts ist neben uns. Sapperlot.« – »Es war ein Zeichen des Himmels, ich konnte dir nichts sagen, meine Stimme war weg.« – »Was für ein Zeichen des Himmels?« Der Himmel war sternenbedeckt und klar. Vorahnung. Botschaft. Unglück kam auch so. Was war’s denn?

      Eine Zeit lang gab Großvater der Großmutter die Hand und sie hielt sich daran fest wie ein Kind. Großvater glaubte nicht, dass sie das runde Pferd gesehen hatte, aber er sagte nichts. Sicher sei sie so schwach von der Entbindung und vor Hunger, dass sie Geister sehe.

      Großmutter wollte sich nur hinsetzen, die Angst austreiben an der Brust des Großvaters, sie nahm ihre Schürze ab, der Großvater legte sie auf den steinigen Boden, dann seine Jacke darauf. Er schob Großmutters Unterkleid hinauf, sie mussten sich wärmen. Nachdem es vorbei war, weinte sie leise, ohne dass Großvater etwas davon merkte. Unter dem Herzen der Großmutter wuchs mein Vater heran.

      Mein Vater war nicht in dieser Nacht in die Großmutter gekommen. Das runde Pferd wird so vieles wiedergutmachen müssen.

      Gab es einen finalen Pfiff, eine Poleposition für alles, was später daraus entstand?

      Die Entführung des Mädchens als Ausgangspunkt des Unheils für ein ganzes Dorf? Ein dreizehnjähriges Mädchen, festgehalten auf dem Pferd, sie hatten sie belogen, gesagt, sie solle zu ihrer Schwester nach Glück kommen. Es war sonderbar. In der Nacht, warum in der Nacht? Vielleicht war’s gegen Abend. Das Kind mit wunderschönen schwarzen Haaren, auf sie hatte es der alte Witwer abgesehen, aber der Plan wäre fast gescheitert. Die Besa, so hieß die Schöne, hütete Schafe und spielte mit anderen Dorfkindern oberhalb der großen Greda, der Witwer, ihr Entführer, trank Wein vor dem Haus ihres Onkels. Er redete über die Viehpreise, sagte, dass er dieses Jahr kaum etwas verdient habe, weswegen er jetzt die Besa zu ihrer Halbschwester nach Glück bringen werde, damit sie ihr helfe. Die Schwester habe nämlich mehr Vieh gekauft, er bringe Besa zu ihr. Er wollte vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein in Glück, er stellte sich vor, wie das Mädchen vor ihm auf dem Pferd sitzen würde, seine Hände auf ihrer Brust. Er hatte sie im Sommer bei ihrer Halbschwester gesehen, seitdem dachte er an das Unmögliche, wie er sie entführen, in sein Haus bringen könnte. Ihre Schreie in dieser Nacht hörte das ganze Glück, sie verstreuten sich und versanken, keine Hilfe. Besa verlor nach dieser Nacht ihren Verstand. Sie gebar dem Vergewaltiger zwei Kinder. Dass dieser Mann vorher die Frau seines Bruders geschwängert und dann eines Nachts ermordet hatte, in Lokva, wusste das ganze Dorf, die Untersuchungskommission aus Split fand nichts heraus. Es wusste auch, dass Besas Enkel seine Frau in der Hochzeitsnacht mit drei Stichen fast getötet hätte, dass er im Krieg gewesen war und später in den besten Militärakademien, dass er nicht verurteilt werden konnte.

      Kindheit 1965

      In die Geldtasche hatte Vater mein Gesicht gesteckt, das erste Foto für die Vergünstigung, für den Familien-Angestellten-Ausweis der Eisenbahn-Mitarbeiter. Er trug den Ausweis immer mit sich und dieses Kind, ein in sich versunkenes Kind mit großen dunklen Augen, mit dem Haarschnitt eines Jungen, Scheitel auf der linken Seite, geölt, gekämmt, schmale Pulloverzöpfe bis zur Brust. Dann hörte das Foto auf. Das Kind starrt in sich hinein, abwesend, fragend. Das Kind ist nicht verängstigt, eher neugierig. Abstechende Ohren fallen auf, große. Ein Heiratshindernis, obwohl die Mutter sie mit einem Wundpflaster anklebte, damit die Chancen, später für das Mädchen einen Bräutigam ausfindig machen zu können, sich vergrößerten. Dieser nach innen gerichtete Blick, ich schaue dieses Kind in mir an und es scheint mir unmöglich zu begreifen, dass dasselbe Ich in mich heute hinübergerettet wurde.

      Die Mutter schloss sich manchmal hinter der Schlafzimmertür ein und kam für Stunden nicht heraus. Eine seltsame Unruhe ohne Lärm, wenn sie nach den Gegenständen griff, ihre Stimme, die Befehle oder Warnungen austeilte, verstummt. Wenn sie aus dem Zimmer endlich wieder in der Küche auftauchte, mit geschwollenen Augen und schmalen Lippen, bekam die Küche ihr normales Gesicht. Die seltene Erinnerung, wie sie lachte beim ersten Schneefall; sie spielte und lachte und warf Schneebälle um sich. Der Geruch ihres Schweißes und der Härchen unter den Armen, wenn sie uns wusch. Als sie die Sehbrille bekam, wurden ihre Augen vor der Welt geschützt. Schwarz umrandet, undeutlich.

      Der Vater hütet das kleine Häuschen am Bahngleis-Übergang. Mit dem Vater kommt die Stille ins Haus. Wenn Besuch aus Glück bei ihnen ist, ziehen die Eltern eine andere, lachende Gesichtshaut an und die Wörter werden laut hinausgesagt. Wenn die Kinder allein mit den Eltern zu Hause sind, geben diese kürzeste Befehle durch geschlossene Lippen.

      Der Wächter der Familie, der Fürst mit blauen Augen, Vater, der Gesetze und Regeln gab, die keines der Kinder gründlich ausführen konnte. Sein Lachen wäre Verschwendung der Zeit, nur die Nachbarin Jasna brachte ihn zu einem seltsamen Kichern. Er zeigte den goldenen Zahn beim Reden und einen silbrigen beim Fluchen, welcher weit hinten im Mund lag. In ihm kochte eine Zornmilchsuppe, die jederzeit überschwappen konnte wie Milch. Er konnte es auch immer begründen: Hast du keine Augen im Kopf? Er liebte lange Reden vor den Ohren anderer. Wir Kinder hatten kein Wort, sondern dienten als Empfänger seiner Verheißungen. Die Antwort: den Kopf senken und still sein. Die Disziplin, welche er erwartete, förderte, was er als gute Erziehung ansah; sicher war, dass es in seiner Macht stand, die Kinder zu biegen und zu brechen. Er musste aus Kindern die Schlechtigkeit aller Menschen rechtzeitig austreiben. Die Dorfprimitivität ein für alle Mal aus ihnen verbannen, des Dorfs Glück, in dem er nur primitive Menschen sah.

      An Weihnachten verfiel er in eine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit, weil es sich so gehörte, weil er sich in der Rolle des feierlichen Vaters gefiel. Weil Weihnachten war und die Kinder sollten sich an Weihnachten erinnern, weil er zwei Gläser bitteren Pelinkovac-Likör trank und den Kindern die Geschichte erzählte, wie er einem Wolf auf dem vereisten Fluss den Schwanz aus dem Körper gerissen hatte. Die Kinder trauten dieser Verwandlung nicht ganz und saßen auf seinen Knien, jederzeit bereit, abzuspringen. Die Mutter und die Großmutter hängten sich nicht an die gute Stimmung an, warnten ihn vor dem Alkohol, welcher ganze Familien schon zerstört habe, er werde auch seinem Magen nicht guttun. Der Vater brach in Zorn aus, schüttelte die Kinder von seinen Knien. Ihr gönnt mir gar nichts, wann war ich je betrunken? Die Kinder wünschten sich so sehr einen betrunkenen Vater, der Geschichten erzählte und scherzte. Weihnachten, das so kurz nach dem Schweineschlachten kam, hieß Zuckerbonbons auf dem kleinen Tannenbaum am Esstisch, Orangen darunter, Baumwolle, Watte, vier Glaskugeln wurden aufgehängt (wegen der Kinder). Aber die Kinder verstanden nicht, was gut daran sein sollte, diese Sachen zu sehen, aber nicht essen zu dürfen, die zuckerweißen Bonbons, die in Glitzerpapier eingewickelt waren. Es war unvorstellbar, was Weihnachten sollte und was die kleinen Kerzen, die in Öl schwimmenden Kerzen unter dem Baum, mit der Seele des Großvaters (den toten Seelen) zu tun haben könnten.

      Dann die Nachmittage, an denen die Kinder zu Gott beteten und ihn baten, den Vater verschwinden zu lassen, er soll sterben, lieber Gott, aber der Gott sollte nicht verraten, dass er auf die Kinder hörte. Die Schrecklichkeit dieses Hasses, der ihre kleinen Körper zerschmetterte, so wie der Schmerz des Hosengürtels ihre rot gestreifte Haut platzen ließ. Dieses Brennen der Haut, das nicht zu stoppen war, und dann die Tage, an welchen das Sonnenlicht kam, an welchen sie Trost im Weglaufen fanden und im Versinken in den Schlaf. Die vergebliche Mühe des Gebets zeigte sich immer, weil ihre Schuld schon im Vorhandensein lag, nicht auszulöschen war.

      Die Kinder quälten die kleinen Tiere und schauten zu, wurden herzlos, wenn kleinste Vögel im Nest ihren Schnabel aufsperrten und nach Luft rangen, wenn ihr Kopf sank und sich nicht mehr bewegte. Die Kinder überfütterten sie mit Feigenfleisch.

      Die Kinder hatten Angst vor der Strafe, vor dem Hosengürtel, die Wunden sahen im Frühling schrecklich aus auf weißen Oberschenkeln. Erst dunkelblau, dann gelblich.

      Ich sehe mich sitzen, auf einem flachen, unregelmäßigen, großen Stein auf dem halben Weg, welcher von der Straße berghinauf führt. Schutt und Steine hat Vater nachgefüllt, um den Weg auszubessern, damit das Pferd es leichter hat, den Wagen bis zum


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