Liebe um Liebe. Dragica Rajčić Holzner

Liebe um Liebe - Dragica Rajčić Holzner


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Gesäß und den Oberschenkeln, der Stein klebt an der Haut.

      Auf dem zweiten Foto, das in jenem Sommer gemacht wurde, auf dem Dorffest, hat die Mutter kleine Augen, durch das Schauen in Richtung Sonne und Fotokamera sind die Mutteraugen noch kleiner als sonst. Um ihren Kopf ist ein dünner Zopf gewickelt, weiße Sandalen, Schürze und eine helle Kurzarmbluse. »Schau, wie dünn ich da bin«, jedes Mal hat sie das gesagt, wenn ich dieses Foto mit ihr angesehen habe.

      Ich sehe mich in der Spiegelkommode des neuen Elternschlafzimmers. Mutter hat Wasser erwärmt und es vor das Haus gestellt. »Du musst dich waschen, hinter den Ohren schrubben, hinter den Ohren sammelt sich am liebsten Schmutz.« Mutters Hände tun weh.

      Ich erinnere mich nur an den Geruch des nassen weißen Stoffs, den sie wäscht, ich sehe die runde glitschige Seife aus Mutters Händen in den Wassereimer fallen, die Haare unter den Oberarmen, kleine Hände mit schmalem Goldring, ihren blumigen Unterrock, Combine genannt, darüber den Faltenrock. Mutter näht mit der linken Hand. Das Kleid mit Schiffen, das Mutter genäht hat, trage ich in der Erinnerung die ganze Kindheit. Mutter singt leise, kaum hörbar … meine Blumen, mein Glück, deine Ljuba … moj gaj, moja sreća, tvoja ljubav.

      Ich glaube, Großmutter ist auf der Reise, die Großmutteraugen haben sie nicht beobachtet.

      Einmal sagte Vater feierlich: »Wir gehen nach Čačak.« Nach diesen Worten hatte ich eine geräuschlose, steigende Aufregung in den Augen, in den Ohren, mein Herz unter dem vergilbten Unterhemd klopfte bis in den Rücken. Eine Zugreise, morgen. Die Reisekleider lagen schon auf Großmutters Bett, die Kleider, welche ausgeliehen waren und nur zu dieser Gelegenheit angezogen werden sollten. Ein hellgelber Wollpullover mit Zopfmuster, der um Gotteswillen nicht beschmutzt werden durfte, weil er von Tatjana Jagoda, der Cousine, ausgeliehen war. Tatjana Jagoda sprach Italienisch mit Nonna und Nonno und war ein »Augenapfel« für alle. Der Wintermantel wurde auch ausgeliehen. »Weil das Kind kalt haben wird«, sagte Mutter zum Vater; er hatte Holzknöpfe auf beiden Seiten, dunkelblau.

      Der Vater trug seine dunkelblaue Eisenbahnuniform mit den Messingknöpfen und das blaue Eisenbahnhemd. Auf der Jacke der Uniform stand mit gelben Buchstaben geschrieben: JŽTP, Jugoslavensko željezničko transportno poduzeće.

      In meinen Ohren klang diese Bezeichnung geheimnisvoll. Fernglück, das durch die Augen strömte, hinaus, hinein, eine Reise mit dem Zug. Die lange Nacht und den Tag der Zugreise über machte ich kein Auge zu, eine Zugreise nach Čačak. Aus Angst, allein zu sein im Korridor des nach Benzin stinkenden Zuges, ging ich nie auf die Toilette. Vater wird das nach der Rückkehr immer wieder erzählen. Der Geruch des Zugabteils, Urin, Holz, ölig, Häuser, welche mitreisten, draußen vorbeiflogen und von Bäumen begleitet wurden, Stromstangen wie Bleistifte. Ich war ein folgsames Kind, unglaublich gut hätte ich die Reise überstanden, wie eine Große, wird Vater sagen, an die Worte des Vaters erinnere ich mich. Ankunft. Treppen nach oben, Holztreppen. Ein dünner Mann, den ich Onkel nennen sollte, Onkel Tetak, der keine Kinder hatte und mich fest kitzelte. Ich weinte vor Lachen.

      Ohne Großmutter ein einziger Ausflug als Familie nach Split. Eine Fotofamilie, die mit Wasser, Seife, dem neuen Rosenrock der Mutter präpariert wurde, auch mit dem glatten Gesicht des Vaters, welcher der Regisseur des Ausflugs war, mit Eis in zitternden Kinderhänden, weil sie sich in der Stadt nicht zu benehmen wussten und schnell schmutzig werden konnten. Die Mutter ernstfröhlich, weil das Kleid aus Italien stammte, nur an dem Tag angezogen werden durfte und sie erhellte, fremd machte, das Rosenkleid, und der Vater hatte ein Polyesterhemd, welches mit einer Farbtablette gekocht wurde, um blau zu werden. Mutter, ich und mein Bruder. Für den Ausflug wurden wir über Nacht anders, als wir gestern gewesen waren, eine vorsichtige Imitation der Städter, wobei der Vater als Einziger keinen wirklichen Respekt zeigte und als Anführer dieser unmündigen Familie mitging. Er hatte geölte Haare, die Frisur zeigte seine Weltläufigkeit, welche aus verschiedenen Tuberkulose-Aufenthalten in Spitälern in Zagreb und Varaždin bestand und aus Besuchen der Abendschule in Split. Auch seine Sprache und sein goldener Zahn konnten durchaus zu einem anderen Mann gehören wie auch die Kinder, die schon in der kleinen Küche ganz unpassend saßen, die Kinder, welche die Wörter flüsterten, weil sie nicht wussten, wie die richtige Stadt-Aussprache war und wie richtige Wörter auszusehen hätten. Ich konnte die herben Wörter der Erwachsenen aus Glück auswendig, aber für Split musste man sie waschen. Mutter trug eine Brille, was auf die Vererbung eines Sehfehlers mütterlicherseits hinwies. Diese Brille entfernte Mutter von den gesunden Bauern, aber sie brachte sie nicht in die Nähe der Städter, obwohl auch Städter Brillen trugen, aber die hatten andere, schönere Gestelle, nicht solche schwere schwarze. Gott sei Dank hatte Mutter ihre Zöpfe abgeschnitten, fürs Erste wurde eine halblange Version gewählt, weil es auch andere vergleichbare Frauen so hielten in diesem Wettbewerb der angleichenden Verwandlung, wobei keine zu schnell bei der Imitation der Stadtmenschen sein durfte. Das hat geholfen, dass die Mutter an diesem Tag nicht ganz wie Mutter war.

      Split bestand aus Vaters Hemden in den Schaufenstern, aus Tellern, Wintermänteln, Unterhosen, Schuhen, Uhren, Büchern, Küchen, diesen unglaublichen Dingen, die Stadtmenschen beseelen, weil sie Teil ihres Lebens sind. Der Gestank der Fische auf dem Fischmarkt Ribarnica störte unser Bild, gesalzene Sardellen in den Holztöpfen, davon hat Mutter, als sie mit mir schwanger war, sechs Stück gegessen. Die Steinkinder im Park, aus deren Fingerkuppen Wasser spritzte, all dies gehörte zu einer Erhabenheit der Stadtmenschen, welchen wir nicht angehören, aber wenn wir groß würden … Vater nannte uns die Namen der Ärzte, die Namen der Straßen: Solinska, Prvoboraca, Bosanska Firule, Bačvice und Meje. In Meje, sagte er, wohnten die, welche es geschafft hätten, in einer Vorzeit den Reichen alles wegzunehmen, von Volksfeinden was zu retten, richtige Kommunisten.

      Wir trauten uns fast nicht zu atmen, sondern schauten auf die Schuhspitzen beim Treppensteigen. Auch andere Familien stiegen stolz die Treppen hoch zum Marjan, wo der Zoologische Garten war, wobei ich nicht wusste, was Zoološki vrt bedeutete, nichts wusste, abgesehen von dem Wort. Ich stellte mir Tiere vor, die eingepflanzt wie Rebstöcke oder Bäume im Garten wuchsen. Am meisten liebte ich unseren Hund, der ständig bellte. Ich wollte immer eine andere Familie, einen Park, ein gelbes Haus, einen Papagei, Lackschuhe, ein schönes Kleid, Locken am Kopf. Zeichnungen, andere Zeiten, andere Menschen standen im Fortsetzungsroman auf der letzten Seite von Slobodna Dalmacija. Vater schlug den Bruder mehr als mich.

      Die andere Großmutter fragte mich, wo ist dein Bruder, ist er in lokva, in der Tränke? Und ich dachte, ich sah ihn, wie er ins Wasser ging, als die Kühe von der Weide kamen.

      »Er ist sicher in lokva«, sagte ich zu ihr. Großmutter rief nach den Nachbarn, zwei Männer nahmen die Schnur, sie suchten den kleinen Bruder im Wasser der Kuhtränke. Die Tante und die Großmutter weinten laut, plötzlich tauchte er an der Hand des Onkels auf, alle waren erleichtert, freuten sich, dass er nicht ertrunken war. Die Großmutter schlug mich, sagte: »Du hast falsches Zeugnis abgegeben, du Miststück, bist wie deine Mutter.« Ich weinte. Hatte Angst, dass die Großmutter das dem Vater erzählte, er mich auch schlagen würde.

      Es war dieselbe Kuhtränke, dort, wo damals die erhängte Freundin der Mutter hing.

      Mutter kam nach Hause vom Vieh-auf-die-Wiese-Treiben, sagte: »Besa hat sich bei der Kuhtränke erhängt, arme Besa.« Besa, die mit dreizehn Jahren aus ihrem Haus gestohlen und in derselben Nacht vergewaltigt wurde. Besa verlor den Verstand, ihr Mann nahm ihr dann zwei Kinder, arme, blöde Besa.

      Viel früher warf Mutter Schneebälle und lachte laut. Sie spielte wie ein Kind, sie war verliebt in einen wunderschönen Nachbarn, der öfter zu uns kam, ich sah es, ein Spaziergang mit ihm, ein Lachen im Duett, immer lachte sie mit ihm, glücklich. An einem Nachmittag aber redeten sie unbekannte Worte, sie wischte sich die Augen trocken. Er floh nach Frankreich. Sie verwelkte, wurde trüb, unberührbar, sie versteckte sich in Salatpflanzen. Ihre Schwiegermutter betrachtete sie misstrauisch.

      Sie war einundzwanzig, als das Lachen aus ihrem Gesicht verschwand.

      Jahrelang hörte niemand seinen Namen.

      Vater hatte zu der Zeit Tuberkulose, die ganze Familie war zu ernähren.

      Wir hatten tagelang Schlangeneier gesucht und nie gefunden. Und dann endlich? Der Bruder entdeckte


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