Liebe um Liebe. Dragica Rajčić Holzner

Liebe um Liebe - Dragica Rajčić Holzner


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der Vater suchte ihn, der kleine Bruder sei verschwunden, sagte er. Vater durchsuchte das ganze Grundstück, fragte die Nachbarn, niemand hatte ihn gesehen. Dann, ins Haus zurückgekommen, entdeckte er sein Versteck unter dem Bett, packte ihn mit beiden Händen unter den Armen, warf ihn aufs Kinderbett und rief: »Mit der eigenen Hand töte ich dich, du hast mir solche Angst eingejagt, nie mehr, nie mehr, hörst du.« Der Bruder war blau angelaufen vom Weinen. Die Großmutter sagte ganz leise: »Es sollen deine Hände abfallen, dabogda.« Ich beobachtete alles aus dem Versteck hinter der Großmutter und konnte nicht helfen. Ich wollte, Vater hätte mich geschlagen, ich schämte mich.

      Jesus auf der Zunge Juni 1967

      Ich musste mich winden, um mich nicht aufzulösen und irgendwo in der Dunkelheit hinter der Sonne zu verschwinden. Es fingen die kleinen Vögel an der Wand an, sich zu zeigen; ich hatte gesehen, wie Vater das Eigelb im weißen Mörtel auflöste, um dann mit den Rollern über die Wände zu fahren, bis überall dieselben Vögel, unzählige Vögel, geboren wurden. Nachdem die Wand getrocknet war und wir wieder im Zimmer schlafen durften, schauten die Vögel auf uns, immer wenn unsre Augen offen waren.

      Unglaublich, dass es ausgerechnet mir passierte, obwohl ich nicht »Glück« dachte, sreća, weil mir nur ein Wort für das Bevorstehende zu wenig war. Die sreće, Glücksgefühle, flogen und stießen einander und bedrohten die Hände und die Augen, wollten mich hinaustragen. Wenn meine Patin käme, die kuma, müsste alles an mir ganz sein, damit das weiße Kleid und die weiße Strumpfhose und die schwarzen Lackschuhe und die Handschuhe an meinem Körper befestigt werden könnten. Für die Vereinigung mit Gott musste mir das lange weiße Kleid gut stehen. Im Kopf alle Bilder gleichzeitig, da waren die Bonbons, das Krokant der Torte von der Hochzeit Markos, des Neffen des Vaters, die Bilder an der Kirchenwand, da hörte ich Julianas Stimme in der Katechismus-Stunde und mich beichten zur Reinigung der Seele hinter dem Paravent und die verschwitzte Stimme von Don Joso. Ich hörte das Geräusch des Windes, welcher Bäume umbog, sah das weiße Fell des Hundes und den Bauch, die Ziegenohren am Boden, die, dem Sprichwort nach, Kaiser Trojans Geheimnisse verrieten. Ich setzte das Huhn, das ich umgebracht hatte, Don Joso vor.

      Mutters Stimme: Ana, dignise, ihre Hand rüttelte mich. Neben dem Brunnen hing schon der Spiegel, der Himmel war auch da. Meer in der Ferne, blau. Mutters raue Stimme, die meine Haare verfluchte, weil keine einzige Locke geblieben war. »Maushaare, du hast wirklich Maushaare wie ich.« Die Haare waren zu kurz oder die Wickler zu breit. Mutter badete in Schweiß und ich traute mich kaum zu atmen, obwohl meine Augen beim Abnehmen der Wickler Sterne erblickten vor Schmerz. Die Wunde vom Brudersteinschlag erschwerte die Verschönerung erheblich, Mutter klebte ein neues Pflaster darauf, es werde dann unter dem Kranz und der Haube aus weißem Tüll verschwinden. Die Mutter benutzte selbst gekochte Schweineschmalzseife, die nach Vaters Strümpfen und Rasierwasser stank. Ich musste die Augen fest zudrücken, Mutter schrubbte meinen Oberkörper, wie sie einen Salatkopf wusch, verteilte die Seife hinter den Ohren und bohrte ihren Finger ins Ohrloch, weil der Schmutz sich dort am liebsten einnistete, dann trocknete sie mich mit gelben Tüchern, auf welchen Tvornica šećera Županja stand. Das Kleid, eine Leihgabe der heiligen Schwestern, hing am Fensterbrett und sollte kurz vor dem Gehen angezogen werden. »Du darfst das Kleid nicht beschmutzen, du weißt das.« Schon heute Abend würde es mit den Drohungen vorbei sein. Nur in Unterhosen stellte Mutter mich auf einen Stuhl, mit dem Befehl, ich solle ruhig abwarten, bis die Haare an der Sonne lockiger trockneten. Jetzt kam das andere Kind, der kleine Bruder, an die Reihe, er schrie, was ihm der Hals erlaubte, aber das ermunterte Mutter nur, noch mehr Seife zu nehmen. Der Bruder weinte, obwohl ihm Mutter ständig befahl, aufzuhören.

      Ich stellte mir vor, dass die Liebe zu Jesus zehnmal stärker sei als meine ljubav zu Juliana, wobei Julianas Gesicht sich in mir ausbreitete wie ein Ei in der Pfanne, und das Gelbe und das Weiße flossen ineinander, wenn ich mir ihr Lächeln vorstellte, ihr Lächeln, sobald ich mein Gedicht für Jesus aufsagen würde. Sah die großen dunklen Augen, jede Kontur ihres weißen Gesichts und die kleine Haarsträhne, die unter der weißen gestärkten Nonnenhaube hervorlugte. Dieses Gesicht ist das schönste, schöner als das der Mutter, und ihre Lippen erst, ihre Nase. Ich würde Nonne werden, jetzt aber die Kommunion. Aus der Ferne hörte ich das Bellen der Hunde, die Großmutter ging durch die Türe, das Weinen des Bruders tröstete mich.

      Jesus im Elternschlafzimmer hatte blaue Augen, so wie Vater. Jesu Vater saß im Himmel, aber mehr über ihn wusste ich nicht, Vaters Vater wurde im Zweiten Krieg erschossen. Großmutter war sehr böse auf Jesus und Gottvater, dass er das zugelassen hatte. Ich war überzeugt, je tiefer ich fiel, nach den zehn Geboten, desto höher würde ich zur Unschuld fliegen. Ich versuchte, meinen Kopf festzuhalten. Am Kopf waren Eisenwickler für die Locken und sie taten weh, so legte ich die Hände auf meinen Bauch. Ich sah zur Wand, wo Jesus auf sein Herz zeigte, Rosendornen um das rote Herz gewickelt. Wenn ich Jesus bekomme, dann reite ich auf dem weißen Pferd über den Berg zum Grab des Großvaters und wir wecken ihn auf. Von morgen an kein Böses mehr in mir, es wird keinen Grund mehr geben, mich zu schlagen.

      Könnte Jesus in letzter Sekunde seine Meinung über mich ändern? Der Stein, den ich vorgestern auf den Kopf bekommen hatte, den ich verdiente, weil ich meinen Bruder ausschimpfte, die Wunde, die immer noch wehtat, könnte Jesus die Wunde zum Anlass nehmen, mir doch zu verzeihen? Alle anderen Kinder waren besser und Jesus würde Gefallen an ihnen finden. Vielleicht würde die Kirche so voll sein und ich vor den Türen bleiben müssen wie bei dem Kartenspiel in der Ostaria, als mich der Großvater unter dem Tisch vergessen hatte. »Aber Jesus sieht alles«, sagte Don Joso immer wieder in der Messe, »er ist Gottes Sohn, er weiß alles, er kennt jeden Gedanken und jedes Geräusch und jeden Stein auf der ganzen Erde plus im Himmel.« Ich würde wie Juliana in ein samostan gehen. Ich sah mich in der Küche der Klosterfrauen, die blaue Kredenz und die Lilien mit dem betörenden Duft und das vergoldete Kreuz.

      Wenn sich das Gedicht jetzt für den Messe-Auftritt eingravieren könnte.

      Der Vater war nicht da, er ging, die Gäste abzuholen, weil sie mit dem Zug kommen und nicht wissen würden, wo wir wohnten. Ich hatte meine Patentante noch nie gesehen, Vater hatte sie ausgesucht, um die Freundschaft zu erhalten, sagte er zu Mutter. Mutter schüttelte den Kopf, Freundschaft zu erhalten, wiederholte sie. Die kuma wird eine Halskette aus Gold bringen oder eine Uhr, wie auch alle anderen Kinder eine bekommen. Eine Goldkette hätte ich am liebsten, wie Tante Nada eine hatte.

      Ich sah von meinem Stuhl aus zur Großmutter, dunkelblaue Kleider, die wie immer an ihr hingen. Großmutter sollte Ziegen zur Weide treiben, sie ging mit den Tieren zur Weide wie jeden Tag, sie schien unbeteiligt zu sein am ganzen Getue. Seit dem Tod des Großvaters ging sie nicht mehr in die Kirche. Nur am Abend betete sie mit uns Oče naš, koji jesi u nebesima, Amen, die Kinder sollten es von ihr lernen. Diese Verschwendung des Geldes für die Kommunion sei unnötig, der Einbruch der Tito-Zeit, sogar gefüllte Paprika gebe es zum Essen.

      Meine Augen füllten sich mit Tränen. Die abtrocknende Mutter merkte nichts, weil sie nur für die Einrichtung des Kindes nach außen hin zuständig war und tausend Sachen zu tun hatte, welche zu tun waren an dem Sommermorgen des glücklichsten Tages meines Lebens.

      Ich konnte nicht das Kleid hängen lassen und bei der Großmutter bleiben und mich in ihren Kleidern verstecken, ich musste durch diesen Tag zu Jesus, auch für die traurige Großmutter. Ich hörte Stimmen, der Vater und die schwarzhaarige Patin mit schwarzen Wimpern und Lockenhaaren und ihr Mann mit geölten Haaren, der einen Kopf größer als Vater war, kamen. Dem Mann spritzte beim Sprechen Schleim aus dem Mund, weil seine Lippen irgendwie schräg eingebaut waren und sich nicht verschließen ließen. Er war ein Militär-Kamerad des Vaters. Mutter zeigte Zähne und entschuldigte sich für die Unordnung und die nackten Kinder, sie bot den Gästen Sirup und Schinken an, seht ihr, wie eng wir wohnen, alles ist bei uns klein. Mutter hatte ihre Haare unter dem Tuch versteckt. Sie entschuldigte sich bei der kuma, dass sie ihre Haare nicht gewickelt habe, weil die Wickler in der Nacht auf meinem Kopf sein mussten, wo sie aber wegen der Maushaare auch keine Locken verursacht hätten. »So bleiben wir beide heute ohne Frisur, aber Hauptsache, ihr seid hier.« Kaum hatten sich die Gäste an den Tisch gesetzt, erzählten die Männer von der Kaserne, weißt du …


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