Die authentische Stadt. Stefan Lindl
Operationalisierung – Bewertung von Baubestand und Stadtentwicklungskonzepten
Bestandserfassung, Analyse, Taxierung, Entwicklung
Meiner Frau Cornelia Wild gewidmet
Vorwort
Dieses Buch wuchs in häuslicher Abgeschiedenheit im März 2020. Eigentlich wäre das nichts Besonderes. Wie sonst, wenn nicht in Ruhe und Einsamkeit, könnten Bücher geschrieben werden? Doch die Arbeit an diesem Buch vollzog sich anders als gewöhnlich. Ein wenig erinnerte Augsburg in diesen Wochen an die Atmosphäre Giovanni Bocaccios Decamerone. Die von ihm beschriebene Isolation in Fiesole während der ersten mittelalterlichen Pestphase transportiert ein ähnliches Gefühl: Unsichtbar war die Bedrohung in einer menschenleeren Stadt, in der Kirchturmglocken und Vögel den Ton angaben und für die markantesten Lärmemissionen sorgten. In dieser unwirklichen, leisen, bescheiden gewordenen Welt tippte ich Gedanken über den urbanen Raum und das Leitbild der authentischen Stadt auf die Festplatte. Das Buch wollte ich verstanden wissen als einen Vorschlag zur kulturellen Nachhaltigkeit, beziehungsweise einer Kultur der Nachhaltigkeit, in der Stadt der Zukunft. Ich ging davon aus, die urbane Zukunft sei leise, verzichtete auf den Lärm der Verbrennungsmotoren. Arbeit bedeute, so glaubte ich, am Computer im Homeoffice zu agieren und in Webkonferenzen zusammenzukommen. Fern, so dachte ich, seien diese Vorstellungen. Nun war diese Zukunft durch Ausgangsbeschränkungen unerwartet Gegenwart. SARS-Cov-2 hieß der Grund. Es war keineswegs ein Umdenken für den Klimaschutz, der diese Zukunft zum Jetzt gemacht hatte. Plötzlich verordnete ein Virus den radikalen Klimaschutz, den niemand für möglich gehalten hätte. Plötzlich wurden auch die enormen Verluste sichtbar, die ein radikaler Eingriff bewirkt. Obwohl die Möglichkeit des Klimaschutzes in greifbare Nähe zu rücken schien, wurde seine Ferne schmerzlich spürbar.
Das Virus und seine pandemische Verbreitung wirkten sich auf das Buch sehr wohl aus. In Bayern waren die Bibliotheken geschlossen, der Zugriff auf Literatur war nicht annähernd im gewohnten Maße möglich. So verzichtete ich weitgehend auf Fußnoten. Das Buch stellt die Weiterentwicklung meiner Habilitationsschrift dar. Sie wurde in Teilen publiziert. Im November 2016: Kategorien historischer Authentizität in Architektur und Denkmalschutz. Ein Jahr später folgte die grundlegende Methode im Passagen Verlag: Der Umgang mit Gewordenem. Signifikanten-Interaktionsanalyse (SIA). Nach vielen Lehrveranstaltungen und Vorträgen und den damit verbundenen Diskussionen erscheint Die authentische Stadt. Zwischen Klimaschutz und Denkmalkult. Das Buch unterscheidet sich teils erheblich von den Positionen der Habilitationsschrift Architekturen des Authentischen, wäre aber nicht ohne sie möglich gewesen. Mein Dank gilt deswegen den Mitgliedern meines Habilitationsmentorats Marita Krauss, Lothar Schilling und Anselm Doering-Manteuffel, die mich kritisch begleiteten. Winfried Nerdinger und der verstorbene Michael Petzet beeinflussten mich mit ihrem kritischen Denken und ihren analytischen Blicken auf die Rekonstruktion.
Ohne die vielen Diskussionen mit Studierenden wären die entscheidenden Weiterentwicklungen nicht möglich gewesen. Ich danke deswegen allen voran den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Vorlesung im Wintersemester 2019/2020. Die vielen Diskussionen und Anregungen waren überaus hilfreich. Die kritischen Nachfragen brachten mich immer wieder in Erklärungsnöte. Diese wöchentlichen Auseinandersetzungen waren wichtig für Gestaltung und Aufbau des Buchs, aber auch für die mehrfache Überarbeitung der hier vorgestellten historischen Werte. Raphael Huppmann danke ich für die wöchentlichen Diskussionen und Anregungen. Nicolas Pols versorgte mich zielsicher mit Literatur und Beispielen. Unermüdlich telefonierte er mit Ämtern und Behörden, um an Materialien aktueller Projekte zu kommen.
Meinen Schwiegereltern, Christa Grune-Wild und Frank Wild, gilt ebenso mein Dank. In deren Garten entstand das erste Kategoriensystem der historischen Werte. Das Buch atmet die anregende Atmosphäre des Nordschwarzwalds unter dem Hausberg Baden-Badens, dem Merkur.
Die Tage des Schreibens waren geprägt von Gesprächen mit meiner Frau Cornelia Wild. Die Relationen von Authentizität als ästhetische Kategorie, Körper, Leib und Emotion beruhen auf den Schwerpunkten ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Erst diese Worte und Begriffe ermöglichten es mir, den Argumentationsstrang zu vervollständigen.
Die universelle Denkmaltheorie des Wiener Kunsthistorikers Alois Riegl steht Pate für das Leitbild „Authentische Stadt“. Riegls Denkmalwerte ermöglichten es, eine Reihe von historischen Werten abzuleiten, die teils losgelöst von der Materie im sozial-konstruierten Raum siedeln. Der Kulturabteilung der Stadt Wien danke ich für die Druckförderung.
Augsburg, am 25. April 2020
Stefan Lindl
Einleitung
Resilienz urbaner Räume
Zwischen Klimaschutz und Denkmalkult will dieses Buch eine Stadtentwicklung skizzieren, die auf Weiterentwicklung des (historischen) Baubestands basiert. Nicht Neubauen, sondern Weiterbauen ist das Grundverständnis der authentischen Stadt. Als Leitbild versucht sie, vor allem eine ästhetische Ausprägung von Resilienz im urbanen Raum zu entwerfen. Es soll eine soziale Konstruktion der Identität, der historischen Positionierung und des emotionalen Wohlbefindens erzeugt werden. Gleichzeitig entspringt die Forderung nach Weiterbauen statt Neubauen einer Kultur der Nachhaltigkeit, die kulturelle Nachhaltigkeit gewährt. So möchte das Leitbild der authentischen Stadt psychische Stabilität durch eine Semiotik historischer Verbundenheit erzielen. Diese ästhetische Resilienz beruht auf Identität, Integrität, Positionierung in Zeit und Raum. Sie erwirkt emotionale psychische Zustände, die Rückhalt bieten, weil sie ein festes Bezugssystem darstellen.
Das Leitbild der authentischen Stadt ist eine Reaktion auf die notwendige Forderung nach Resilienz im urbanen Raum, die mit ästhetischen und epistemologischen Mitteln antwortet und aus der Vergangenheit schöpft. Folglich werden mit diesem Leitbild weiche Faktoren in den Resilienz-Diskurs eingeführt.1 Die Schlüsselforderungen bestehen darin, historische Werte zu schaffen. Damit werden Authentizitätszuschreibungen möglich, um in der Folge emotionale Zustände aufgrund der Rezeption des Authentischen zu erschaffen und zu steigern. Das Leitbild der authentischen Stadt will ästhetisch wirken und Wohlbefinden im urbanen Raum auf einer epistemologischen Grundlage generieren. Das heißt verkürzt: Wohlbefinden durch weiterentwickelten historischen Baubestand und die Anwendung von Wissen darüber. Oder: Wohlbefinden und Resilienz aufgrund der sozialen Konstruiertheit des urbanen Raums.2
Die Stadt im 21. Jahrhundert
Für Klimawandel wie Klimaschutz besetzen die städtischen Räume Schlüsselpositionen des 21. Jahrhunderts. Seit dem Jahr 2008 wohnt über die Hälfte der Menschheit in Städten. In den Industrieländern liegt die Zahl der Stadtbewohner weit über dem globalen Durchschnitt: in Deutschland 77 %, in den USA über 82 %. Die UNO geht von einer fortwährenden Urbanisierung vor allem in Asien und Afrika aus. Laut einer Schätzung wird sich die Stadtbevölkerung weltweit bis 2050 durch Migration und Binnenmigration verdoppeln.3 Der Zuzug wird auch durch klimabedingte Binnenmigration den Druck auf urbane Räume erhöhen. Vor allem der Anstieg des Meeresspiegels zwingt absehbar zur Aufgabe urbaner Räume an den