Die authentische Stadt. Stefan Lindl

Die authentische Stadt - Stefan Lindl


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– sind Originale oder original Materie nicht zwingend notwendig. Sie befördern die Empfindung des Authentischen, aber notwendig sind sie nicht. Das Authentische einer Stadt lässt sich mit verschiedenen Formen historischer Werte steigern. Sie können in die Konzeption von Bauwerken, aber auch in die Konzeption von Stadtentwicklungskonzepten eingebunden werden. Der Klimaschutz ist, so eine Hauptthese, kein Hinderungsgrund für die historisch wertvolle und authentische Stadt, sondern deren explizite Chance. Neue Urbanistik im Zeichen des Klimaschutzes wird die historischen Dimensionen der Städte durch die Kultur des nachhaltigen Bauens stärken können. Auch für die Ausprägung ästhetischer Formen von Resilienz dient dieses Vorgehen als Vorschlag.

      Geschichte von Bauwerken ist fraglos gewichtiger Bestandteil allgemeinen Interesses. Immobilienwerte werden aus Geschichte geschöpft, gleichgültig ob dies ehemalige Kirchen, Industriegebäude um 1900 oder Wohngebäude der 1970er-Jahre betrifft. Eine Konservenfabrik und eine mechanische Weberei, die zu Wohnraum konvertiert werden, lädt der Immobilienhandel mit Erzählungen über ihre industrielle Funktion historisch auf. Sie bekommen dadurch den Reiz der besonderen Wohnkultur, die sich vom geschichtenlosen und geschichtslosen Neubau unterscheidet. Auch den Stadt-Tourismus begründet die authentische Stadt.6 Sie erzeugt eine bestimmte Atmosphäre. Tel Aviv hat eine unverwechselbare Atmosphäre des International Styles des 20. Jahrhunderts. Es ist die Bauhausstadt, der keine andere gleicht. Rom steht für eine Stadt der Geschichte, die durch das Nebenher von Monumentalbauten mehr als zweier Jahrtausende gekennzeichnet ist. Rom ist zugleich eines der prototypischen Beispiele des Weiterbauens einer Stadt. Dubai setzt hingegen auf einen kontemporär-ubiquitären Stil mit radikalem Gestaltungswillen, der offenbar keinerlei Begrenzungen kennt. Weder der Himmel noch das Meer scheinen Hindernis zu sein. Der Altstadtbereich al-Bastakiyya, der weitgehend Ende des 19. Jahrhunderts mit lokalen Baumaterialien und -techniken errichtet wurde, ist nicht zu entwickeln und sollte auch nicht entwickelt werden, um dem ubiquitären Neubauen etwas Historisch-Lokales entgegensetzen zu können. Das Neubauen ist das Authentische dieser Stadt am Persischen Golf.

      Besucher ziehen alle urbanen Typiken und Einzigartigkeiten an, deswegen zahlt sich das Leitbild der authentischen Stadt ökonomisch aus. Wer aber bestimmt die historischen Werte und die Authentizität der Bauwerke? Die Bauforschung kann dies einerseits bezüglich der materiellen Bauhistorie tun. Der Denkmalschutz erstellt Gutachten über die Bedeutung der historisch-materiellen kunsthistorischen und historischen Zeugenschaft mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Materie und Originalen. Bauforschung wie auch Denkmalschutz bedienen vor allem materielle Teilbereiche der Geschichtskultur. Das Immaterielle, die sozialen Konstruktionen des Bauerbes, und seine Zeichenhaftigkeit werden jedoch zu wenig erfasst. Aber sie sind überaus bedeutend, denn sie wirken auf Materie stärker ein, als Materie auch nur ansatzweise die soziale Konstruktion bedingen könnte. Ihre Bedeutung wird in den nun folgenden Kapiteln vielfach und aus mehreren Perspektiven dargestellt. Dazu gehört ein Verständnis der Vergangenheit von der Antike bis in die jüngste Vergangenheit, denn vor allem Wissen, soziale Konstruktion und nicht nur Objekte machen urbane Räume attraktiv. Materie und Wissen gehören zusammen. Wissen macht Dinge – das ist der konstruktivistische Grundtenor dieses Buches.

      Es beschäftigt sich mit der Entwicklung von Analysemethoden der historischen Wertermittlung und der Authentizitätsbestimmung von Kulturerbe. Regional- und landesgeschichtliche Forschung sowie Befunde der Bauforschung, des Denkmalschutzes und der Kunstgeschichte werden interdisziplinär vereint, um Grundlagen für eine historisch argumentierende Stadtentwicklung zu erarbeiten, die auf geschichtskulturelle Nachhaltigkeit zielt. Das Buch möchte die geschichtskulturelle Dimension in der Diskussion um die nachhaltige Entwicklung urbaner Räume stärken und mithilfe der Zeichentheorie dem bestehenden Denkmalschutz Lösungen für die Zukunft der urbanen Räume zwischen Klimaschutz und Denkmalkult anbieten.

      Ausgangspunkt sind die Positionen Alois Riegls zur Denkmaltheorie. Er ist einer der einflussreichsten Kunst- und Denkmaltheoretiker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie prominenter Vertreter der kunsthistorischen Wiener Schule. Riegls universalistischer Denkmalbegriff und seine Kategorien der Gegenwartswerte und Erinnerungswerte des Denkmals erfahren eine Reflexion an den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen der New Urban Agenda. Neben Riegls Gebrauchswert und relativem Kunstwert sowie historischem Wert und Alterswert wird hier der historische Wert differenziert aufgeschlüsselt und um historische Authentizität als ästhetische Kategorie sowie als Zuschreibungsnarrativ erweitert. Historische Authentizität ersetzt Wort und Begriff des Originals, das im 20. Jahrhundert als wichtigster und höchster Wert in Kunstgeschichte, Denkmalschutz und Denkmalpflege gesetzt worden war. Mit der hier vorgestellten aufgefächerten Kategoriensystematik lassen sich verschiedenste Phänomene des Umgangs mit Kulturerbe erfassen, klassifizieren und taxieren.

       Aufbau des Buchs

      Das Buch gliedert sich in fünf Argumentationsschritte. Zu Beginn werden die Grundlagen der Argumentation erläutert und grundlegende Begriffe aus der Perspektive des Konstruktivismus dargelegt. Soziale Konstruktion, historischer Wert werden skizziert und eingeordnet. Darauf folgt eine Betrachtung von Wissen, Wert und Diffusion. Sodann wird Kultur als Umwelt definiert.

      Als zweiter Teil folgt eine Phänomenologie des Historischen, in der das materielle Original zugunsten der Zuschreibungspraktiken und Sprechakte dekonstruiert wird. Aus dieser Dekonstruktion werden Indikationen für Originale exzerpiert. Identisch wird die Rekonstruktion betrachtet. Es folgen die Hommage, die Kopie und das Denkmal. Aus den daraus abgeleiteten Indikationen werden in einem vierten Teilschritt Kategorien historischer Werte exzerpiert, die Spielarten des Originals, also Rekonstruktion, Hommage, Kopie oder Denkmal, obsolet machen. An einem allbekannten Beispiel, dem Schloss Neuschwanstein, wird der Mehrwert dieses Klassifizierungssystems durch die historischen Werte erläutert. Zwar ist Neuschwanstein nicht für den urbanen Raum repräsentativ, doch ist es als ein prominentes, sehr komplexes Bauwerk mit verschiedensten historischen Werten ein dienliches Objekt für die Analyse der historischen Werte. In einer Transferleistung kann dieses Beispiel auf Stadtviertel, Ensembles oder Einzelbauwerke angewendet werden.

      Im fünften Schritt folgt die semiotische Bestimmung der Authentizität und des Authentischen ab dem 18. Jahrhundert und ihrer kontemporären Bedeutungsformen. Das Problem des historischen Authentischen und der historischen Authentizität besteht in der Unmöglichkeit, sie unmittelbar zu analysieren. Deswegen werden die zuvor erarbeiteten historischen Werte in ihrer Korrelation zum Authentischen dargelegt. Durch den Umweg über sie lässt sich das Authentische analysieren. Schließlich werden Authentizität und das Authentische als ästhetische Kategorien dargelegt und erläutert. Das Authentische wird hier als Ersatz für den Begriff des Originals vorgestellt, weil das Original zu sehr von den Bedeutungen des 20. Jahrhunderts bestimmt ist. Das Authentische lässt sich wesentlich unideologischer anwenden als das Original. Im sechsten Teilschritt werden die Herleitungen operationalisiert, um sie für Stadtentwicklungsprojekte anwenden zu können. Ein pseudonymisiertes Beispiel eines typischen Projekts einer Stadtviertelentwicklung verdeutlicht die Operationalisierung.

      Der konstruktivistische Blick

       Soziale Konstruktion und das Historische

      Am Anfang aller Dinge steht deren soziale Konstruktion. Mag ein Gegenstand auch wahrnehmbar sein, sichtbar, fühlbar, hörbar, riechbar, so genügt das nicht, damit er benannt sowie in Funktions- und Handlungsabläufe einbezogen werden kann. Er muss intentional werden, unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und kognitiv präsent sein. Darüber hinaus muss er in Wissensformationen eingebettet werden, die abrufbar sind, um für Handlungsentscheidungen nützlich und nutzbar zu sein.7 Wissen macht Dinge! Erst das Wissen, das Sprechen, das Austauschen, das Verhandeln über einen Gegenstand erschafft ihn als Bestandteil gesellschaftlichen Lebens. Zuvor ist das Ding einfach nur ein Ding, ob materiell oder immateriell – dinglich und nutzlos! Soziale Konstruktion generiert Bedeutungen, Gebrauchsanleitungen, Handlungsanweisungen, Wertzuschreibungen. Kommunikation über die Schar der Objekte konstruiert die Dinge, generiert sie, konstituiert sie, normativiert sie, gewährleistet ihre soziale Verfasstheit und Wertigkeit. Im kommunikativen Handeln


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