Die authentische Stadt. Stefan Lindl

Die authentische Stadt - Stefan Lindl


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Giorgio Vasaris Le Vite de’più eccellenti pittori, scultori et architettori.12 Vasari stilisierte Leonardos Mona Lisa zum Ideal der mimetischen Kunst. „Wer sehen wollte, wieweit es der Kunst möglich sei, die Natur nachzuahmen, der erkannte es ohne Schwierigkeiten an diesem Kopfe. Denn alle kleinsten Einzelheiten waren darin dargestellt, die man mit aller Feinheit nur malen kann.“13 Entscheidend für die deutsche Vasari-Rezeption war Ludwig von Schorn, der die Künstler der Renaissance ins Deutsche übersetzt herausgegeben hatte.14 Aber der Vasari-Mona-Lisa-Diskurs und die historische Entourage der Mona Lisa ermöglichten nicht annähernd die Prominenz, die das Bild am Beginn des 20. Jahrhunderts erlangen sollte. Nicht künstlerischer Qualität, nicht Leonardo, nicht Franz I. noch Ludwig XIV., Napoleon I. und schon gar nicht den Historisten gelang die narrative Wertschöpfung, die durch einen unbekannten italienischen Migranten erfolgte, der weder durch geschickte Kriegsführung und Schlachtenglück noch durch künstlerische Genialität auffallen hatte können. Vincenzo Peruggia arbeitete als Glaser und hatte berühmte Gemälde des Louvre mit Glasplatten versehen, um ihnen Schutz vor den Besuchern zu gewähren.15 Die Ortskenntnis und das Wissen um die Bilder verhalfen ihm, den bis dahin spektakulärsten, weltweit wahrgenommenen Kunstraub am 21. August 1911 auszuführen. Gerade durch die diskursive Wertsteigerung der Vasari-Rezeption war die Mona Lisa zum Objekt der Begierde geworden. Er versteckte zwei Jahre lang das Kunstwerk in seiner Wohnung. Während dieser Zeit gab es eine Reihe von prominenten Verdächtigen. Der Lyriker Guillaume Apollinaire und Pablo Picasso gerieten aufgrund von Denunziation unter Verdacht; Apollinaire wurde verhaftet, Picasso nur verhört. Zwei Jahre nach dem spektakulären Kunstraub bot Vincenzo Peruggia die Mona Lisa einem Florentiner Kunsthändler an, der informierte den Direktor der Uffizien, Giovanni Poggi. Gemeinsam überzeugten sie sich von der Echtheit des angebotenen Tafelbildes. Sie informierten die Polizei. Peruggia wurde verhaftet. Im Verhör gab er an, aus Nationalgefühl gehandelt zu haben. Er wollte das berühmte Bild in seine Heimat Italien schaffen. Als freier Mann ging Peruggia aus dem Gerichtsgebäude, weil er seine Strafe bereits in der Untersuchungshaft abgesessen hatte. Es blieb nicht aus, dass Italien Vincenzo Peruggia als Nationalheld verherrlichte und feierte. Über Mailand kam das Gemälde im Dezember 1913 wieder zurück in den Pariser Louvre. Mona Lisas unruhige Geschichte ging weiter, eine Flucht vor Hermann Görings Kunstleidenschaft, ein Aufenthalt im Schloss Chambord, die Rückkehr in den Louvre. Doch dann brachte die Ausstellung des Kunstwerks in New York weitere soziale Konstruktionen hervor. Vor allem ihre Überführung durch Andy Warhol in die Reproduzierbarkeit seiner industrialisierten Kunstproduktion durch Siebdruck machte die Mona Lisa zu einer Ikone der Populärkultur, die sich ablöste von der elitären Kunstschwärmerei des 19. Jahrhunderts. Gegenwärtig ist die Mona Lisa das bekannteste Gemälde der Welt. Es ist nicht von sich aus prominent erschaffen worden. Vasari hatte entscheidenden Anteil daran, aber auch seine Rezipienten, die seine Texte über Leonardo da Vinci in die Moderne trugen, und natürlich Peruggia und Warhol. Nur durch diese soziale Konstruktion konnten die Prominenz und der gewaltige historische Wert entstehen, ganz zu schweigen von dem ökonomischen und dem kunsthistorischen. Was wäre gewesen, hätte Vasari nicht dieses Werk als mimetisches Ideal gelobt? Das 19. Jahrhundert hätte die Mona Lisa möglicherweise nicht entdeckt. Und vielleicht wäre es, wie so viele Kunstwerke, im Louvre der breiten Masse der Touristenströme entgangen: Beispielsweise Gian Lorenzo Berninis Matratze des Schlafenden Hermaphroditen aus weißem Marmor von 1620. Ebenso ein grandioses Stück mimetischer Kunst. Leider war es nicht einfach zu stehlen und Giorgio Vasari war schon längst gestorben, als Bernini auf die Welt kommen sollte. Aber auch die Hochzeit zu Kana von Paolo Veronese gehört zu den nicht ganz so weltberühmten Kunstwerken des Louvre. Es ist ein Bild größter Ausmaße: Vor lauter Mona Lisa, obgleich im selben Saal gegenüber der Berühmtheit aufgehängt und keineswegs seiner schieren Größe wegen zu übersehen, ist dieses Kunstwerk aufgrund mangelnder sozialer Konstruktion nicht mit annähernd ähnlichem Wert ausgestattet. Zum Wert gehört Wissen, verpackt in eine aufregende Geschichte.

      Jede soziale Konstruktion bildet sich in einem spezifischen kulturellen Rahmen aus; sie ist kulturabhängig, heißt, sie ist soziale Konstruktion, die nur für eine soziale Gruppe (im weitesten Sinne) gilt. Besucherinnen und Besucher des Louvres, die kunsthistorisch gebildet oder gar ausgebildet sind, werden die Werte ganz anders verteilen, weil sie über anderes Wissen verfügen als die breite Masse des Besucherstroms. Wieder generiert Wissen die Dinge.

      Wissen bestimmt die Qualität eines Objekts und darauf ruht dessen Wert. Aber der Grad der Wissensverbreitung trägt erheblich zur Wertschöpfung eines Objekts bei. Je weiter verbreitet die soziale Konstruktion des Werts eines Objekts ist, desto prominenter, erhabener und wertvoller erscheint das Objekt. Je weniger das Wissen um die Qualität eines Objekts diffundiert, wie der Fall des Bildes von Paolo Veronese zeigt, desto geringer ist sein Wert und sein Ansehen. Die Reichweite, beruhend auf der Diffusion von Wissen, scheint ein erheblicher Faktor der Relation Wissen / Wert zu sein. Soziale Konstruktion und deren Diffusion sind erheblich wichtiger als das Objekt selbst, auf das sie sich bezieht.

       Kultur

      Bislang war die Rede allgemein von Wert, ein noch unbestimmter Wert der Dinge, eine soziale Konstruktion. Bezogen auf die authentische Stadt weist Wert einige Spezifika auf. Ohne bereits auf das Authentische oder die Authentizität eingehen zu wollen, bleibt der Blick auf Bauwerke, die eine Stadt einzigartig machen. Durch sie wird die Individualität der Stadt sinnlich wahrnehmbar erzeugt. Das mag in Bekundungen ästhetischen Erstaunens münden, wie „Tolle Atmosphäre!“, „Ach, wie schön!“ oder einfach nur: „Wow!“. Aber diese scheinbare Spontaneität überschwänglicher Überwältigungsbekundungen für prominente Kulturdenkmale ruht auf diffundiertem Wissen und ästhetischer Präpositionierung durch Reiseblogs, Filme, Fotos, Erzählungen, Reiseliteratur. Die Stadtsilhouette von Florenz, der Markusplatz in Venedig, der Hradschin in Prag, die Pyramiden von Gizeh, die Golden Gate Bridge bei San Francisco, die Chinesische Mauer sind solche prominenten Beispiele, mit denen die Betrachtenden auf ihre soziale Präpositionierung der Bauwerke zurückgreifen können, um auf die sinnliche Wahrnehmung mit Lauten des Erstaunens reagieren zu können. Sollte tatsächlich ästhetische Überwältigung spontan vor bislang völlig Ungesehenem und Unbekanntem geschehen, so ist deren gewaltige Empfindung bereits durch ähnliche Ansichten, Eindrücke durch soziale konstruierte Ästhetik-Werte vorgeformt und ein Bewertungsmuster vorgegeben. Die bewusstseinsunabhängige Welt der Dinge ist also keineswegs so bewusstseinsunabhängig, wie der erste naiv-realistische Blick vermeint intuitiv belegen zu können. Sie sind bis zu dem Zeitpunkt nur für sich und bewusstseinsunabhängig, zu dem sie intentional eingebunden werden in kollektiv verbreitete, individuell verfügbare Wissensformationen. Dann transformieren sie sich in eine hohe Form der Bewusstseinsabhängigkeit. Die authentische Stadt ist eine sozial konstruierte Stadt und sie beruht auf spezifischen historischen Werten. Um sie geht es: die historischen Werte des Bau- und Kulturerbes. Es gibt mehrere historische Werte, die sich auf materielles und immaterielles Kulturerbe anwenden lassen. Kulturerbe wird hier im weitesten Sinne verstanden. Kultur ist nicht das römisch-antike dichotome Gebilde des Antonyms natura, dem Wilden, dem Belassenen, außerhalb der römischen Zivilisation. Kultur wird als eine sich wandelnde Umwelt verstanden, in der jeder Bereich des Lebensvollzugs eine bestimmte zeittypische Ausrichtung bekommt. Kultur ist also eine zeitautonome Erscheinungsform, sie entwickelt innerhalb einer bestimmten Zeitspanne ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, generiert ihre Unverkennbarkeit in Sprache, Wirtschaft, Politik, Jurisprudenz, Religionsausübung, Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaften, Ingenieurswesen, Produktdesign, Mode, Ernährungsgewohnheiten. Die Gegenwart, in der dieses Buch geschrieben wurde, eignet verschiedenste Kulturen, die parallel in jenem Raum existieren, in dem es verfasst wurde: Mitteleuropa. Es lässt sich das Nebenher der weit verbreiteten Kulturen der Partizipation, des Pluralismus, der Gender-Race-Egalität, des Dekonstruktivismus, des Konstruktivismus, der Nachhaltigkeit und des Nationalismus, Rassismus sowie Faschismus analysieren. Darüber hinaus ließen sich noch viele weitere Kultur-Umwelten ausmachen. Sie sind alle Denkweisen, die in sich handlungslegitimierend und handlungsweisend sind, die sich wiederum in einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit positionieren müssen. Ihren Handlungsmöglichkeiten weist die Kultur der Rechtsstaatlichkeit Grenzen auf, legitimiert und delegitimiert sie. Kulturen produzieren Ästhetik und Habitus


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