Die authentische Stadt. Stefan Lindl

Die authentische Stadt - Stefan Lindl


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Untergang geweiht, sollte es nicht transloziert werden können. Langfristig bedroht der Anstieg des Meeresspiegels jede fünfte UNESCO-Weltkulturerbestätte.4 In den kommenden Jahrzehnten erhöht sich folglich aus den verschiedensten Gründen der Druck auf die Städte. Das bedeutet, neue Wohnräume müssen erschlossen, entsprechende urbane Konzepte entwickelt werden, um voraussehbare soziale Konflikte abzuwehren und allgemein die Resilienz urbaner Räume zu erhöhen. Um den Druck zu mildern, gibt es keine Alternative zu neuem Wohnraum. Doch gerade darin liegt eine nicht ganz unwesentliche Gefahr, die zuerst effiziente Ressourcenökonomie, sodann den Klimaschutz betrifft. Ressourcenökonomisch ist das Problem sofort evident: Wohnungen benötigen Raum, der wie alle Ressourcen knapp ist und viele Städte vor ein Problem im urbanen und suburbanen Bereich stellt. Schnell wird deswegen eine ethische Frage virulent: Welchen neuen Wohnraum wollen wir in Zeiten des Klimawandels?

      Es wäre möglich, auf Brachflächen oder anstelle bautechnisch ineffizienter Bauten neu und stark verdichtend zu bauen. Eine auf den ersten Blick gute Idee. Wäre da nicht ein keineswegs marginaler, sondern gewaltiger Haken. Neubauten befeuern den Klimawandel: Keine Branche emittiert so viel wie das Bauwesen, keine produziert mehr Abfall, keine geht so verschwenderisch – und damit unmoralisch – mit Ressourcen um. Alle drei Punkte, verminderte CO2-Emissionen, Reduktion des Deponiegutes und effizient-moralische Ressourcennutzung, sollte die Baubranche in Zukunft unbedingt anvisieren. Ohne systemisch-normative Eingriffe wird es kaum möglich sein, diese notwendigen Klima- und Ressourcenschutzziele zu erreichen. Aber auch weniger komplex könnte die Baubranche agieren, um nachhaltiger zu werden. Eine Kultur der Nachhaltigkeit müsste tradierte Formen des Bauens überwinden: Wiederverwertung sowie Weiterentwicklung des bestehenden Baubestands könnten die zukünftigen Leitlinien der Bauwirtschaft werden. Dazu kommt die Notwendigkeit, klimaneutrale und recycelbare Baustoffe zu verwenden. Wir benötigen neue Werte des Bauens und andere Arten der Wohnraumerschließung in der Stadtentwicklung. Auf die Frage, welchen neuen Wohnraum wir in Zeiten des Klimawandels wollen, gibt es folglich eine einfache Antwort: Die Kultur des Neubauens kollidiert mit einer Kultur der Nachhaltigkeit. Neue Urbanität sollte das Neubauen durch Weiterbauen ersetzen und CO2-neutrale Baustoffe verwenden.

      Der historische Blick in die vorfossile Vergangenheit kann einige Konzepte des Weiterbauens und Weiterentwickelns im urbanen Raum entdecken. Sie waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Standard im Städtebau. Zu teuer und zu aufwendig war der Abriss von Architekturen. Deswegen wurden mehrere Bestandshäuser zusammengefasst und mit einheitlichen Fassaden versehen, um ästhetische Gesamteindrücke zu erzeugen. Erst fossile Energieträger ermöglichten die Kultur des Neubauens, weil der Maschineneinsatz Abbrucharbeiten kostengünstig machte. Auch der Abtransport von großen Mengen Bauschutt konnte erst dann effizient erfolgen. Die Kultur des Neubauens erweist sich als fossiles Kind der Industrialisierung. Neue Urbanität könnte sich an den vorindustriellen nicht fossilen Konzepten des Bauens ein Beispiel nehmen. Aber das wäre nur einer der vielen Punkte, die Neue Urbanität berücksichtigen muss: Zukünftig ruht sie auf CO2-neutralen Energiekonzepten, sie ordnet und organisiert Mobilität neu, nutzt Räume, die gegenwärtig dem Automobilverkehr vorbehalten sind, aktiviert und initiiert Grünflächen, vermeidet Lärmemissionen, strebt die Abkehr von der gegenwärtigen Form der Konsumgesellschaft an. Die Stadt der kurzen Wege wird Eigentum hinterfragen. Nutzen statt Besitzen wird nicht nur die Mobilitätskonzepte kennzeichnen. – Im Oktober 2016 wurden diese Eckpunkte in der „New urban Agenda“ der United Nations Conference on Housing and Sustainable Urban Development in Quito als Handreichung für die zukünftige Stadtentwicklung zusammengefasst.5

      Eine Baukultur der Nachhaltigkeit, die sich das Weiterbauen als eines ihrer Prinzipien erwählte, wirkte sich direkt auf das bauliche Kulturerbe aus, das sich mehrheitlich im Urbanen befindet. Bauliches Kulturerbe wird hier im weitesten Sinne verstanden. Es bezieht sich auf alle Bauwerke und nicht nur auf kunsthistorisch wertvolle Baudenkmale. Dieses bauliche Kulturerbe in seinem großen Spektrum soll weiterentwickelt werden. Doch mit dem Konzept des Weiterbauens wird etwas virulent, das bislang in der Baubranche oft als lästiger Bestandteil abgetan wurde, weil er Rücksichtnahme und Planung erfordert: Weiterentwicklung bedeutet Wandel, der nicht ohne eine historische Reflexion erfolgen kann. So rückt aus Klimaschutzgründen jenseits des Zerstörens und Neubauens das Historische als gewichtige Größe in Stadtentwicklungskonzepte und deren Gestaltungsaufgaben. Jedes Weiterbauen vermeidet CO2.

      Sobald mit Bestand gearbeitet werden soll, stellt sich zwingend die Frage nach der historischen Funktion und Bedeutung der Gebäude. Gleichgültig ist es, ob sie dem Denkmalschutz unterliegen oder nicht, beziehungsweise aus welchem Jahrzehnt sie stammen, ob ihnen kunsthistorischer Wert zugesprochen wird oder ihnen mit Gleichgültigkeit begegnet wird. Stets fordert der Umgang mit Bestand die Frage nach effizientem moralischem Handeln heraus: Was wollen wir aus dem Bestand machen? Welche Verpflichtung haben wir ihm gegenüber? Welche Rechte haben wir, die wir von ihm fordern dürfen?

      Hauptgegenstand des vorliegenden Buchs sind die Klassifizierung des historischen Wandels des Bestehenden und die daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten in der Transformation des Baubestands. Weniger trifft dieser Wandel die kunsthistorisch bedeutenden Bauwerke, die Kathedralen, Rathäuser, Ordenskirchen, Schlösser, Bürgerhäuser der Frühen Neuzeit oder Stadtmauern. Sie sind oft Teil der identitätsstiftenden wertvollen urbanen Musealisierungsstrategien im öffentlichen Raum und müssen als kunst- oder kulturhistorisch wertvolle Zeugnisse gesondert geschützt werden. Das Augenmerk liegt vor allem auf dem historischen Erbe, das den Großteil des Bestands ausmacht: aufgegebene Industrieanlagen, mittelständische Gewerbebauten, ehemalige Kasernen, die unzähligen Mehrfamilienwohngebäude und Einfamilienhäuser aus den letzten Jahrzehnten. Auch sie sind Kulturerbe des Bauwesens, Erbe verschiedenster Kulturen unterschiedlicher Zeiten, die sich ästhetisch äußern.

      Wie soll dieser Bestand bewertet und klassifiziert werden, unter welchen Gesichtspunkten soll er analysiert und letztlich im nächsten Schritt entwickelt werden? Dem Denkmalschutz fehlen hierzu die Kapazitäten. Der hier anvisierte historische Bestand interessiert den Denkmalschutz per se nicht, weil innerhalb des Bestands bislang kaum Verknappung eingetreten ist, also kein Schutzgedanke angebracht wäre. In absehbarer Zeit ist er keineswegs zu erwarten. Deswegen versucht das vorliegende Buch, jenseits des Denkmalschutzes und seiner Neigung das Original zu schützen, Werkzeuge anzubieten, die der historischen Wertermittlung dienen. Mit ihnen sollen sich bauliches Kulturerbe und der Umgang mit diesem Erbe analysieren lassen. Dies soll im Sinne des Leitbilds der hier vorgeschlagenen Stadtentwicklung geschehen, mit dem Leitbild der authentischen Stadt.

       Leitbild authentische Stadt

      Unverkennbar, einzigartig, nicht reproduzierbar ist die authentische Stadt mit einem hohen historischen Identifikationspotenzial. Sie besteht aus zwei Komponenten, dem historischen materiellen Baubestand und seinen vielen sozialen Konstruktionen. Sie enthalten Geschichten, Erzählungen, Anekdoten vom historischen Wandel des Baubestands. Es ließe sich sagen, Baubestand verfügt über eine materielle und eine sozial konstruierte Komponente. Wie wichtig letztere für die materielle ist, sei im Weiteren in besonderem Maße hervorzuheben. Sie verleihen der Stadt ihre Eigenschaft der Einzigartigkeit und Unverkennbarkeit. Dinge und Wissen machen die Stadt historisch wertvoll und dadurch authentisch. Historischer Wert und das Authentische bedingen sich wechselseitig. Historischer Wert wird Objekten zugeschrieben – so die hier vertretene konstruktivistische Sichtweise –, das Authentische wird als ästhetische Kategorie verstanden, die durch das Intentionalwerden historischer Werte empfunden werden kann. Das Authentische einer Stadt wird also nicht als Eigenschaft, als Authentizität gedeutet, die Objekte von sich aus eignen, sondern zuerst als ästhetische Kategorie, die emotionale Zustände hervorruft. Das Authentische und die Eigenschaft Authentizität vollziehen sich in einem Sprechakt: „Das Objekt sei authentisch!“

      Sechs Arten von historischen Werten, mit denen sich historischer Baubestand taxieren, aber durch Zuschreibungen auch aufwerten lässt, werden aus einer Phänomenologie des Historischen abgeleitet und als Analyse- sowie Zuschreibungswerkzeug vorgeschlagen: die epistemische, materielle, temporale, lokale, ästhetische und idealistische historische Wertzuschreibung. Je mehr historische Werte den Bauwerken einer Stadt zugeschrieben


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