Die authentische Stadt. Stefan Lindl
Wissensformen besteht, die über Jahrhunderte angewachsen sind und weiterhin ständigem Wandel unterliegen, ohne dass ihre Wurzeln gänzlich unterdrückt werden oder verschwinden könnten. Für die stete Neupositionierung der Gesellschaft in den folgenden Gegenwarten ist die diachronhistorische Selbstreflexion unumgänglich. Positionierung beruht immer auf Differenz. Die Differenz zum Jetzt ist Vergangenheit wie Zukunft. Das, was wir erreicht haben, und das, was wir wollen. Deswegen sind Historie, Selbstreflexion und Genese des Werdens von Wissen ein so wertvoller Bestandteil des Lebensvollzugs und seiner Handlungsentscheidungen. Ohne die historisch-kulturelle Bedingtheit der Werteordnungen zu kennen, können sie nicht effizient hinterfragt und umgestaltet werden. Keine Risikoabschätzungen ließen sich erzielen, gäbe es nicht die historische Reflexion des Gegenwärtigen.
Darüber hinaus wissen wir: Nichts ist langweiliger als die Gegenwart! Wird sie lediglich als Solitärerscheinung, ohne ihre Historie betrachtet, verfügt sie über nichts anderes als ihre akute Ästhetik. Oberflächlich könnte eine solche ahistorische Betrachtungsweise genannt werden. Es fehlten dabei Gedächtnis und Erinnerung. Für Gesellschaften könnte kaum etwas gefährlicher sein, als vegetative Formen sozialen Lebens anzunehmen, weil sie vermeinten, auf Gedächtnis und Erinnerung verzichten zu können. Es folgte daraus der Verlust des Rechtsstaats, der im Vegetativen keinen Platz im tristen Hier und Jetzt hätte. Sozial relevant sind Reflexionen des Wandels, die historische und gegenwärtige Zeitschichtungen ver- und abgleichen. Sie sind entscheidend für das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft und formen die Grundlagen der einzigartigen, unverwechselbaren authentischen Zustände unserer jeweiligen Gegenwarten. Ohne die Erinnerung an das Historische wäre die Umwelt, in der wir uns befinden, bedrückend eindimensional. Die soziale Konstruktion reichert die Wahrnehmungsebene entscheidend mit Wissen an, das wiederum grundlegend für die Wertzuschreibungen der Dinge ist und das Volumen der Dinge vervielfacht. Vergangenheit ist soziale Konstruktion und Gegenstand des historischen Blickens zugleich. Dieser sozial konstruierte Anteil der Dinge ist wichtiger als die Dinge selbst. Er entscheidet darüber, ob die Dinge durch die Zeiten Bestand haben, ob sie bleiben, ob sie gehen, ob sie echt sind oder Fälschungen, ob wichtig oder unwichtig. Das alles bestimmen nicht die Dinge über sich selbst; ihnen ist das nicht vergönnt. Vielmehr regiert und richtet über sie als Souverän die soziale Konstruktion in Form von Sprechakten: Dies sei echt. Dies sei falsch. Dies sei wichtig. Dies sei unwichtig.
Aus konstruktivistischer Perspektive besitzt demnach kein materielles oder immaterielles Objekt Wert, ohne dass wir ihn zuvor konstruiert hätten. Anders gesagt: Jedes Objekt ist absolut wertlos, solange soziale Konstruktion es nicht kultiviert und sozialisiert. Dazu ein Beispiel aus der Zeitgeschichte: Als die Taliban-Milizen die Buddha-Statuen von Bamyian ab dem 12. März 2001 zerstörten, erfolgte dies – so eine bis heute gültige Deutung – als ein ikonoklastischer Akt, der sich gegen die sozialen Konstruktionen der Weltgemeinschaft richtete. Jene Destruktion hatte mit Gewissheit die politische Dimension sehr wohl explizit zu machen, die Werte der anderen seien nicht die Werte der Taliban. Die Weltgemeinschaft hatte die Statuen mit dem Titel Weltkulturerbe sakrosankt erklärt. Damit wurde ihnen Unantastbarkeit durch ein soziales weltweit gültiges Wertekonstrukt verliehen. Es beruht auf der UNESCO-Welterbekonvention vom 16. November 1972, der bislang 193 Staaten beigetreten sind.8 Dieses vertragliche Wertekonstrukt greift aber nur so weit, wie seine Verbindlichkeit empfunden wird. Es ist schließlich nur menschlichen und nicht göttlichen Ursprungs. Weil die Statuen in der Auslegung des Korans durch Taliban-Milizen gegen das Bilderverbot verstießen, durften und mussten sie zerstört werden, so rechtfertigten sich die Sprengmeister und deren Hintermänner. Nebenbei konnte politisch agiert werden, um mit einem in den Augen der Weltgemeinschaft skandalösen Akt Macht, Autonomie, Souveränität zu demonstrieren. Eine soziale Wertekonstruktion, die Auslegung des Bilderverbots im Koran, führte zur Zerstörung von Symbolen einer anderen Religion. Es war also die Zuschreibung eines Unwertes, der das destruktive Handeln innerhalb der Gruppe der Zerstörer rechtfertigte, vermeintlich im Sinne Allahs und dadurch scheinbar sogar von allerhöchster Stelle göttlich-normativ abgesichert. Der Wertegemeinschaft der Weltgemeinschaft, die sich der UN und besonders der UNESCO verpflichtet hatte, standen göttliche Worte und die daraus abgeleitete soziale Konstruktion gegenüber. Ein Kräftemessen der Normative, das auch besagt: Ohne soziale Konstruktion keine Handlung, die stets innerhalb von Werteordnungen vollzogen wird, mitunter gegen die Konventionen der Weltgemeinschaft, die solche destruktiven Akte juristisch kaum ahnden kann.
In einer spielerisch-erdachten Welt-Wertegemeinschaft des 19. Jahrhunderts, die Kunstwerke verwaltet, hätte es den Aufschrei bezüglich der Buddha-Statuen von Bamyian nicht gegeben. Künstler des 19. Jahrhunderts hätten sie, dankbar für die Zerstörung der nicht mehr schön erhaltenen Statuen, in der Perfektion des Neuwerts wiedererrichtet. Das 19. Jahrhundert erachtete neuwertige Rekonstruktion als obersten Wert. Das Original hingegen hatte keinen Wert. Sie abzureißen entsprach nicht einem Sakrileg, weil die historische Ästhetik und nicht die Geschichtlichkeit der Bauwerke in der Bewertung überwog. Deswegen wurden unter diesen Voraussetzungen völlig legitim Burgruinen abgetragen und wieder neu errichtet, wie im Falle von Neuschwanstein im Auftrag Ludwigs II. von Bayern oder in Teilen die Burg Dankwarderode in Braunschweig. Aber auch der Kölner Dom ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie im 19. Jahrhundert agiert wurde: Er musste fertiggebaut werden. Ohne Zweifel eine großartige Leistung des 19. Jahrhunderts. Trotzdem lässt sich heute sagen, es wurde der authentische historische Bestand des Doms, der auf das 19. Jahrhundert gekommen war, zerstört.9 Spuren der Entwicklung des Kölner Doms wurden einem ästhetischen Ideal und Gesamteindruck geopfert, der nur mit industriellen Mitteln möglich war. Das trifft auch für das Ulmer Münster oder den Dom von Regensburg, ebenso für Notre Dame de Paris zu. Hunderte andere originale Kirchen aus der Spätgotik wurden zerstört und im reinen spätgotischen Stil wiedererrichtet. All das wäre nach 1900 nicht mehr denkbar gewesen. Eine neue Kultur, die Kultur des Originalen, hatte die Deutungshoheit und Deutungsmacht des Historischen übernommen. – Andere Kulturen, andere Werte. Werte sind und bleiben volatil.
Wert, Wissen, Diffusion
Wert bedeutet also Wert für eine soziale Gruppe zu einer bestimmten Zeit. Wert siedelt auf Wissen. Gibt es kein Wissen über ein Objekt, kann es auch nicht wertvoll sein. Zuerst folgt Wert dem Wissen. Daraufhin setzt sich ein zirkulärer Prozess in Gang. Wissen und Wert bedingen sich wechselseitig. Je wertvoller ein Objekt, desto mehr wird versucht, Wissen darüber zu generieren. Je mehr Wissen über ein wertvolles Objekt gewonnen ist, desto höher klettert sein Wert. Das kulturelle Kapital lässt sich transformieren in ökonomisches. Ein unbekannter Künstler mit weniger kulturellem Kapital wird sich nicht in die Höhe des ökonomischen Kapitals transformieren lassen, wie ein Werk von Angelika Kaufmann, deren symbolische Prominenz den ökonomischen Wert taxiert. Die soziale Konstruktion erntet einen Wald und macht aus ihm eine Bibliothek inklusive OPAC-System unserer Dinge. Soziale Konstruktion ist Namensgeber, bestimmt Position, Funktion, Bedeutung, Wert und erinnert den Wandel, die Dynamik dieser sozialen Größen im Laufe der Zeit.
Am Beispiel eines prominenten Kulturerbes, der Mona Lisa, wird deutlich, warum dieses Bild einen erheblichen kunsthistorischen Wert erlangte. Obgleich das Wissen über die Mona Lisa nicht allgemein präsent ist, hat es dazu geführt, dass das Gemälde eine geradezu kultische Verehrung genießt. Dieses Wissen um die Wertschöpfung des Gemäldes scheint keinesfalls notwendig für seine Huldigung zu sein. Aber es hilft zu erläutern, warum es diese extrem ausgeprägte Ikonodulie der Mona Lisa gibt und warum sie Grund ist, nach Paris zu fahren.10
Leonardo da Vinci, der Schöpfer des im langwierigen Sfumato lasierten Gemäldes, verbrachte seine letzten zwei Jahre, 1518–1519, auf Schloss Clos Lucé in Amboise. Von Franz I. war er eingeladen und mit Heim und Rente versorgt worden. Nach Clos Lucé hatte er neben den Bildern Anna selbdritt und Johannes der Täufer auch Mona Lisa mitgenommen. Franz I. kaufte die Mona Lisa, je nach Spekulation vor oder nach des Universalgelehrten Tod. Damit beginnt Lisas Reise. Von Schloss Amboise nach Fontainebleau, von dort nach Versailles in die Kunstsammlung Ludwigs XIV. Die Revolution transportierte das Bild in den Louvre, der als Muséum central des arts de la République am 10. August 1783 eröffnet worden war.11 Napoleon verbrachte es in seine Privatgemächer. Nach seiner Verbannung