Selamlik. Khaled Alesmael

Selamlik - Khaled Alesmael


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wurde die Fernsehsendung unterbrochen, und das bekannte Gesicht eines Geistlichen erschien auf dem Bildschirm. Sein rundes Gesicht mit den dicken Backen war jeden Freitagmorgen im Fernsehen zu sehen, ich kannte es, seit ich ein kleines Kind war. Er starrte in die Kamera, und sein grauer Schnurrbart schien die Worte, die aus seinem Mund kamen, zu bürsten. Doch jetzt zitterte er wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Seine sonst heisere Stimme war ein unverständliches Piepsen geworden.

      Meine Schwester kam mit der Lunchbox ins Wohnzimmer. Sie blieb mitten im Raum stehen und flüsterte: «Hafiz al-Assad ist tot.» Ich nahm die Fernbedienung und stellte den Ton lauter.

      «Syrer und Araber! Heute ist unser mächtiger Führer von uns gegangen, der stets das Recht unserer Nation und unseres Landes verteidigt hat! Der Führer ist von uns gegangen … er, der all unsere Werte und Ideale verkörperte! Der Führer ist von uns gegangen!» Seine Stimme brach. «Der Führer ist von uns gegangen – er, der mehr als ein halbes Jahrhundert für die Einheit der Araber und ihr Ansehen in der Welt gekämpft hat, für ihre Freiheit und ihre Rechte! Er, der die Hurrikans besiegte!»

      Erschrocken und verwirrt begann mein Körper wieder zu schwitzen. In der linken Hand hielt ich einen Schuh, und in meinem Kopf brodelten die verschiedensten Gedanken. Eigentlich hätte ich mich freuen sollen, denn dies war das Ende von dreißig Jahren Unterdrückung, doch ich machte ein enttäuschtes Gesicht. Meine Schwester spürte das und fragte mich, ob ich traurig sei. Ich sagte nichts; im wirbelnden Durcheinander in meinem Schädel quälte mich vor allem der Gedanke, was für ein Pech ich hatte: «Verdammt, warum muss er ausgerechnet heute sterben?»

      Ich schüttelte den Kopf und verließ den Raum, ging im Flur auf und ab wie ein Tier im Käfig und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich trug nur einen Schuh, den anderen hielt ich noch immer in der Hand. Schließlich ging ich ins Badezimmer und schloss mich ein. Die Stimme des Geistlichen verfolgte mich: «Heute ist ein Tag der Traurigkeit in jedem syrischen Heim, jeder Schule, Universität, Fabrik, jedem Bau-ernhof und jedem Laden», rief er. «Alle Herzen sind voll Trauer, gleich ob Mann, Frau oder Kind. Der Gewaltige, der uns verlassen hat, war ein Stück unseres Herzens.»

      Zurück im Wohnzimmer. Mein Schwager leistete meiner Schwester schweigend Gesellschaft, beide verfolgten die Übertragungen zum Ende der dreißigjährigen Präsidentschaft von Hafiz al-Assad. Die Nachrichten wurden unablässig wiederholt; das immer gleiche Mantra würde in den nächsten fünf Tagen zu jeder vollen Stunde zu hören sein.

      Der Geistliche schluchzte wie ein Kind. Er trocknete seine Tränen und blickte in die Kamera: «Wir schalten nun zur Volksversammlung nach Damaskus.»

      Dann verschwand er.

      Todesstille erfüllte den Parlamentssaal; die Abgeordneten vergruben sich in ihre Sessel und warteten. Niemand rührte sich. In der Totale eingefroren wurde die Kamera zum unwandelbaren Zeugen des feierlichen Szenarios. Ich stand vor dem Bildschirm und vertiefte mich in die Einzelheiten. Die Wände waren mit wundervollen Damaszener Ornamenten bedeckt, ein sorgfältig handgefertigtes, perfektes Mosaik. Den Boden bedeckte ein auffällig roter Teppich. Von zwei Beisitzern flankiert, verkündete der Vorsitzende der Volksversammlung in feierlicher Pose den Tod des Präsidenten, al-Assad, genannt der Löwe. Die Kamera schwenkte langsam nach rechts und zeigte andere Abgeordnete, ruhte dann auf den Ministern für Gesundheit und Wirtschaft; beide schienen zu weinen und bemühten sich, die heilige Stille nicht durch ihr Schluchzen zu stören. Ein alter Mann in traditioneller syrischer Kleidung stand hinter ihnen, in tiefste Trauer versunken. Der Vorsitzende rief: «Ich bitte um Ruhe!» Seine Stimme klang nun pompös und kräftig. Heute, siebzehn Jahre später, verstehe ich die bedrohliche Bedeutung seiner Mitteilung. «Ehrenwerte Abgeordnete, ich habe soeben die förmliche Petition von mehr als dreißig Prozent dieser Versammlung erhalten, den Artikel 83 * der Verfassung der Syrischen Arabischen Republik zu ändern. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zu dieser Ergänzung, um sie im Protokoll der heutigen Sitzung niederzuschreiben. Stimmen Sie alle zu?», fragte der Vorsitzende.

      Langsam hoben die Abgeordneten erst die gesenkten Köpfe und dann die Hände als Zeichen der Zustimmung. Erleichtert verkündete der Vorsitzende: «Nach Abschnitt 187 der Geschäftsordnung hat die Mehrheit des Präsidiums beschlossen, ein Komitee einzusetzen, um die Änderung der Verfassung vorzubereiten.» Er nannte einige Namen. Aus gutem Grund war ich furchtbar enttäuscht von diesen Nachrichten, die wahrscheinlich die Aussicht vereitelten, ihn heute wiederzusehen. Ich ging auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. Noch immer erregt, zog ich den Schlüssel aus der Tasche; das daran befestigte Schild trug die Nummer 333.

       ZWISCHEN RAUM 334 UND 333

      Der Tag zuvor, 9. Juni 2000, um drei Uhr nachmittags. Ich war in meinem Zimmer im Flügel der männlichen Medizinstudenten. Das Wohnheim war genau so, wie ich mir ein Selamlik immer vorgestellt hatte, ein Ort, an dem die Männer sich frei fühlen konnten, mit bloßem Oberkörper, nur in Unterwäsche oder mit einem Handtuch um die Hüften herumliefen und über ihre sexuellen Sehnsüchte und sogar die Größe ihrer Schwänze redeten.

      Das Studentenwohnheim war neu, denn wir waren die ersten Studenten in diesem Jahr. Es lag in Furqan, einem der schicksten Stadtviertel im Westen Aleppos, wo die reichen Händler mit ihren Familien lebten. Eigentlich wollte ich nicht zur Universität von Aleppo, aber ich musste das erste Jahr dort studieren, bevor ich nach Damaskus ging.

      Ich fühlte mich träge, verschwitzt und geil, wie ich so auf dem Bett lag. Für den Kurs über englische Literatur mussten wir Engel und Narren lesen, einen Roman des britischen Schriftstellers E. M. Forster, der die Geschichte einer englischen Dame erzählt, die sich auf einer Reise durch die Toskana in einen Italiener verliebt, der viel jünger ist als sie. Ich hatte mehrere Anläufe unternommen, das Buch zu lesen, doch es begann mich zu langweilen. Ich benutzte es nur noch als Fächer, um mir frische Luft zuzufächeln. Die Luft in dem winzigen Raum war bereits stickig, also öffnete ich das Fenster. Da hörte ich, wie die Tür zum Nachbarzimmer aufgeschlossen wurde, und unerwartet drang derselbe frische und scharfe Duft in meine Nase, den ich schon einmal gerochen hatte, als ich im Flur beinah mit meinem Zimmernachbarn zusammengestoßen war.

      Ich hatte ihn schon oft gesehen und spürte, dass er einen besonderen Platz in meinem Leben einnehmen würde. Wie ich herausgefunden hatte, studierte er Dermatologie; seine Zimmernummer war 333.

      Ich zog schnell die Shorts zurecht, schnappte mir das Buch und ging in den Flur; einige Studenten liefen lachend ohne Hemd herum, mit einem Handtuch über der Schulter unterwegs zu den Duschen, denn die Zimmer hatten keine Badezimmer. Auf die weiße Tür nebenan war die Nummer 333 gemalt. Ich hörte, wie meine Faust nervös gegen das Holz klopfte. In meinem Kopf überschlugen sich die Vorstellungen, wie er auf mein Eindringen reagieren würde; ich versuchte, mir die Worte zurechtzulegen, die ich sagen würde … die Tür öffnete sich.

      Ich errötete bei seinem Anblick. Über den breiten Schultern das bärtige, dunkle Gesicht mit großen dunklen Augen unter buschigen Brauen – so anders als die anderen Medizinstudenten. Er knöpfte sein weißes Polohemd zu und sah mich erstaunt an. Mit einem schnellen Blick sah ich, dass er ein Handtuch und Seife in der Hand hielt. Ich stöhnte «Mir wird schlecht» und sank zu Boden.

      Er beugte sich über mich, um mir aufzuhelfen. Ich klammerte mich an ihn, den Kopf auf seiner Schulter, und roch seinen verschwitzten Körper. Unwillkürlich reckte ich mich empor, bis meine Nase sein Ohr berührte. Seine Hände hielten meinen Oberkörper, und unsere Augen trafen sich. Ich war verlegen. Seit ich ihn das erste Mal in der Eingangshalle der Universität gesehen hatte, träumte ich von ihm. Ich spürte seine große Hand auf meiner Stirn. «Komm rein; hast du Fieber?» Er setzte mich auf sein Bett. Mein Herz schlug immer schneller. Ich klammerte mich mit einer Mischung aus Verlangen und Furcht an mein Buch. Er legte Handtuch und Seife auf den Tisch und ging hinaus, ließ mich allein zurück. Ich ertrank in meiner Sehnsucht, ihn zu küssen.

      Im Zimmer standen zwei Einzelbetten, von denen nur das eine gemacht war. Auf dem anderen lag die nackte Matratze. In der Ecke stand ein kleiner, halb voller Koffer. Ich öffnete ihn und schaute vorsichtig hinein; seine Unterwäsche und Kleidung waren sorgfältig gepackt. Es war Donnerstag, der


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