Selamlik. Khaled Alesmael

Selamlik - Khaled Alesmael


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Ich stand auf, trank etwas Wasser und verließ die Unterkunft für einen Spaziergang – nicht zum Vergnügen, sondern um die unendliche Langeweile zu bekämpfen. Nur wenn ich abends erschöpft war, konnte ich schlafen.

      Ich schlenderte zum Friedhof auf der rechten Straßenseite. Gegenüber stand eine Ansammlung einstöckiger Häuser, die ich für ein Altenheim hielt. Ich fand es merkwürdig, dass die Regierung den älteren Dorfbewohnern den Weg zum Tod derart abkürzte. Ich ging den Hügel hinauf und bemerkte einige Holzhäuser, die in Pastellfarben gestrichen waren. Sie erinnerten mich an die Zeichentrickfilme, die ich als Kind gesehen hatte. Das Dorf selbst wirkte verlassen und leblos, wie versteinert. Wohin ich auch ging, alles sah wie ein Stillleben aus. Bei Wikipedia hatte ich gelesen, dass die Einwohnerzahl von Åseda 2430 betrug; ich hatte das merkwürdige Gefühl, das sie alle verstorben waren.

      Ich ließ die letzten Häuser hinter mir zurück und ging in den Wald, in dem es geheimnisvoll ruhig war. Die tödliche Stille wurde nur durch meine Schritte und meinen Atem durchbrochen. Ein Fischadler drehte seine Kreise über dem Dach aus Koniferen; seine gleichmäßigen Bewegungen faszinierten mich. Wir waren beide aus demselben Grund hierher geflohen, zu diesem sicheren Hafen, einem schönen Ort mitten im Nirgendwo und ohne Bezug zur Welt. Selbst an diesem sonnigen Tag war der Boden feucht und dumpfig. Stundenlang streifte ich durch den Wald, ohne zu wissen, wo ich war, wie ein Kind auf der Suche nach dem Lebkuchenhaus. Von Zeit zu Zeit streifte eine sanfte Brise mein Gesicht und meine tropfende Nase. Diese Wanderung ließ mich das gespenstische Bild des Friedhofs vergessen. Als bei Sonnenuntergang der Tag zu Ende ging, kehrte ich zu meinem Bett zurück und legte den Kopf auf das Kissen, noch immer überwältigt von lebhaften Erinnerungen an mein früheres Leben, das unter all diesem Schutt begraben ist.

      «Die Flitterwochen sind vorbei», hörte ich eine Stimme sagen. Ich stand draußen auf dem Küchenbalkon und sah hinab auf den leeren Spielplatz. Ich schaute mich um und sah Abu Halab, meinen Nachbarn, der eine Zigarette rauchte. Er erwartete keine Antwort; wir nahmen die Gegenwart des andern zur Kenntnis, lebten aber zurückgezogen in unseren inneren Welten. Er war Mitte zwanzig, trug einen schwarzen Bart und einen dicken Schnurrbart; er war nicht direkt schön, aber seine dicken Augenbrauen und langen Wimpern über den dunklen Augen ließen ihn attraktiv wirken. Obwohl er noch so jung war, verkörperte er eine spezielle Art männlicher Schönheit. Sein Kopf war rasiert wie bei vielen Männern hier, denn das Honorar des Friseurs betrug beinahe die Hälfte der Unterstützungszahlung für Asylbewerber. Abu Halab war einige Monate vor mir angekommen und erzählte mir, schon nach wenigen Wochen habe die schöne Landschaft begonnen, ihn zu langweilen. Zu Anfang fand er es aufregend, im Wald spazieren zu gehen und die Umgebung zu genießen. Doch seit einiger Zeit blieb er lieber in seinem Zimmer, lag im Bett, aß, masturbierte oder schlief. Schließlich bekam er die Erlaubnis, sich in Schweden niederzulassen, aber er fand keine Wohnung, um den Stall, wie er die Asylbewerberunterkunft nannte, verlassen und seine Frau aus Aleppo holen zu können.

      Ich ging in die Küche, bereitete mir einen Tee und zog mich in mein Zimmer zurück; schloss den Vorhang und öffnete das Fenster. Mir wurde klar, dass Abu Halab recht hatte: Die Tage wiederholten sich monoton, die Schönheit verlor ihren Zauber, und die hässlichen und scheußlichen Dinge wurden vertraut. Der deprimierend dunkle Vorhang war jetzt praktisch, denn er schützte vor dem Licht der weißen Nächte. Der Friedhof kam mir nicht mehr unheimlich vor, ich sah die Grabsteine als kleine Statuen mit geometrischen Mustern. Ich schaute die Blumen an, die liebevoll vor jeden Grabstein gestellt wurden, und bald wartete ich geradezu auf das Eintreffen des Mannes mit Hut, der jeden Morgen mit seinem Jack-Russell-Terrier den Friedhof besuchte; wenn er einmal nicht kam, vermisste ich ihn. In Schweden sehen Friedhöfe wie Parks aus, in denen man spazieren geht, während in Syrien die Gärten und öffentlichen Parks zu behelfsmäßigen Friedhöfen geworden sind, weil sonst kein Platz ist, die Toten zu begraben.

      Ich erwachte spät aus meinen Träumen, zitternd, zog den Vorhang zur Seite und sah, dass das Fenster an den Rändern von einem Spitzenmuster aus Raureif überzogen war. Ich schaute hinaus; das Laub der großen Eichen war gelb, rot und orange geworden und fiel zu Boden, ein Abschied vom Sommer. Die Blätter schwebten sanft zu Boden, ohne jedes Geräusch. Nur die immer noch grünen hielten sich stur an den Zweigen fest. Getrocknetes Laub bedeckte den Friedhof. Im Lauf der Nacht war die Temperatur abrupt gesunken, deshalb rückten die Toten zusammen und umarmten sich, um ihre Seelen zu wärmen. Im Herbstkostüm wirkte der Friedhof intimer. Eine sanfte Brise strich über die Gräber und fuhr unter die trockenen Blätter, dass es aussah, als würden sie an diesem kalten, aber sonnigen Morgen tanzen. Ich wandte mich vom Fenster ab und suchte nach jemandem, mit dem ich diesen flüchtigen Glücksmoment teilen könnte, aber ich sah niemanden. Alles war so ruhig, als würden die Bewohner noch schlafen. An der Wand der alten Kirche lehnte ein Fahrrad, die Kette hing hinab auf den Boden. Die Uhr oben am Turm zeigte immerzu Viertel nach zehn. Wie an jedem Morgen war nur eine kleine Gruppe von Enten auf der Straße unterwegs.

      Ich zog meinen roten Mantel an und wickelte mir einen braunen Schal um den Hals. Die linke obere Ecke des Spiegels war abgebrochen, sodass ich nur mein halbes Gesicht sehen konnte. Als ich die Treppe hinabging, stellte ich mir vor, das ganze Haus würde nach dem Parfum duften, das ich nur zu besonderen Anlässen auflegte. Sobald ich draußen war, spürte ich die kalte Luft an den Fingerspitzen und Augen. Ich erinnerte mich, wie in Damaskus die Sonne auf das alte Haus schien, in dem ich wohnte. Ich konnte den Duft frisch gebackenen Brots am Morgen riechen und den würzigen Geruch von Geflügel mit Kichererbsen und Kumin. Ich drang immer tiefer in das Reich der Erinnerung ein und hörte Teelöffel und Teller beim Frühstück klappern. Das Gesicht meiner verstorbenen Mutter sah mich lächelnd an. Reisen in die Vergangenheit brauchen weder Pass noch Visum. Der Tagtraum war die einzige Hand, die sich mir zum Tanz entgegenstreckte.

      Natürlich wusste ich, wo ich war; die Google Map auf meinem Smartphone zeigte einen Punkt «mitten im Nirgendwo», wie ein Freund sagte, als ich die Karte über Whats-App mit ihm teilte. Tatsächlich war ich in Småland, in der Provinz Kronoberg. Hier stand ich am Friedhof von Åseda, umgeben von einem bunten Teppich aus Herbstlaub. Plötzlich legte sich der Wind, und die Vögel verstummten. Alles um mich herum versank in Schweigen, wie auf einer Party, wenn alle Gäste ohne Abschied gegangen sind. Ich blieb lange stehen, während der Regen durch die Bäume niederfiel. Hinter den Grabsteinen hatte sich ein Rinnsal gebildet, über dem zwei Libellen um die Blumen flirrten. Als ich näher heranging, stieg vom feuchten Boden ein angenehmer Geruch auf. Im Gras neben einem Grabstein wuchsen Pilze; sie sahen aus wie die Zehen einer Leiche. Von Weitem zerstörte ein Rasenmäher den friedlichen Moment. Ich schlenderte zwischen den schwarzen Grabsteinen umher, auf denen Namen eingemeißelt waren wie die Signatur des Künstlers auf einer Statue. Mir fiel auf, dass die meisten Nachnamen auf «son» endeten; einer nach dem anderen, wie ein Museum der Geschichte des Todes. In der ersten Reihe schienen die ältesten Gräber zu liegen. Ihre Inschriften nannten Daten vor dem Ersten Weltkrieg, und die Todestage lagen nah beieinander, nach einem langen Leben. Zwischen diesen Toten fühlte ich mich wie ein Fremder; die meisten von ihnen lebten und starben, bevor ich geboren war.

      Als ich den Süden des Friedhofs erreichte, rief der Geruch eines vertrauten Gewürzes die Erinnerung an die kleine Statue der Schmerzhaften Mutter wach, die in einer Ecke der Ananias-Gasse in der Altstadt von Damaskus steht. Ich dachte, der Geruch käme von der Kirche im Norden des Friedhofs, aber ich hatte mich geirrt. Ich ging zu dem kleinen Grab, auf dem in einem Schälchen Weihrauch brannte und eine dünne Rauchsäule aufsteigen ließ, daneben ein Klumpen von hartem, staubigem Wachs und ein Strauß roter Rosen, den man auf den weißen Marmor gelegt hatte. Auf dem Grabstein war das Foto eines jungen Mannes zu sehen, mit blauen Augen und schönem Lächeln, und einer Matrosenmütze auf dem langen, blonden Haar – ein Bild jugendlicher Lebensfreude. Er war 1996 geboren worden und 2014 gestorben. Unter dem Datum war ein Epitaph in den Stein gemeißelt, das ich nicht verstehen konnte. Der Anblick löste ein inniges Gefühl in mir aus; dass der Tod soeben erst eingetreten war, weckte Erinnerungen an meine Träume, die der Krieg zerstört hatte und die ich seit Monaten zu unterdrücken versuchte.

      Ich schaute über die Gräber hinweg hinauf zu meinem Schlafzimmer. Der schwarze Vorhang wehte durch das offene Fenster. Mir wurde klar, dass ich an dem Grab stand, das der Mann mit Hut jeden Tag besuchte.

      Mit Tränen in den Augen ging ich fort.

      Von


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