Selamlik. Khaled Alesmael

Selamlik - Khaled Alesmael


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sein, als jemand an die Tür klopfte und etwas rief. Ali war schon wach; er flüsterte: «Keine Angst, er soll uns nur wecken.» Er kam zu meinem Bett und setzte sich zu mir. Der Mann draußen ging weiter und klopfte an alle Türen. «Aufwachen, aufwachen, kommt zur Übertragung der Trauerfeier!»

      Die Stimme war immer noch in der Ferne zu hören, als Ali sein Handtuch nahm und die Tür öffnete. Jemand hatte ein Plakat mit dem Porträt von Hafiz’ Sohn Baschar an die Tür geklebt; als Ali direkt daneben stand, sah es aus, als befände sich eine dritte Person zwischen uns beiden. Er witzelte: «Nein, wir machen keinen Dreier.» Ich trat in den Flur. Das Bild von Baschar al-Assad, umrahmt von der Nationalflagge, klebte auf jeder Tür. Ali sagte: «Geh wieder rein, wir sind hier, um uns zu lieben, nicht um zu trauern.» Dann schloss er hinter mir die Tür.

      Ich verbrachte den ganzen Sommer mit Ali in Zimmer 333. Es war meine erste Liebesaffäre, bevor ich im September zurück nach Damaskus ging, um mein Studium fortzusetzen.

       IM BUS

      Einige dieser Ereignisse gingen mir jetzt wieder durch den Kopf. Es war der 10. Juni 2014, der Jahrestag von Hafiz al-Assads Tod und damit des Tages, an dem die «Ewigkeit» seiner Herrschaft endete. Ich saß mit anderen Asylsuchenden im Bus auf einer endlosen Fahrt nach Norden.

      Ich verfolgte unsere Fahrt auf Google Maps und sah, wie der blaue Punkt einer gelben Linie folgte, hin zu unserem Ziel irgendwo in Südschweden. Im Bus saßen ungefähr zwanzig junge Leute, die sich fragten, wohin die Reise ging, aber der Fahrer blieb stumm. Der Bus hielt an einem großen See zwischen hohen Bäumen vor einem kleinen roten Haus. Ein Beamter der Migrationsbehörde stieg in den Bus und bat eine Frau mit Kindern auszusteigen. Sie weigerte sich und rief voller Angst: «Ich hasse Wasser, meine Kinder und ich haben genug davon.» Im Bus wurde es still. Der Beamte verstand nicht, was sie auf Arabisch gesagt hatte, und trug eines ihrer Kinder aus dem Bus. «Auf Wiedersehen», sagte die Frau. Die Fahrt ging weiter. Die Landschaft blieb immer gleich, wir fuhren zwischen hohen Bäumen und ich langweilte mich. Mit der Kamera in meinem Handy machte ich ein Selfie von mir in der letzten Reihe des Busses und schickte es meiner Schwester in Aleppo. Ich schrieb: «Alles in Ordnung. In Malmö hat man meinen Fingerabdruck genommen, und nun bringt uns der Bus der Migrationsbehörde in unsere Unterkunft. Ich halte dich auf dem Laufenden. Wünsch mir Glück.»

      * Mit einem Sternchen gekennzeichnete Begriffe werden im Glossar am Ende des Buches erläutert.

       KAPITEL 2

       DER FRIEDHOF VON ÅSEDA

      «Die Stadt heißt Åseda», sagte die Beamtin der Migrationsbehörde; wir waren zwei Stunden von Malmö hierhergefahren. Sie forderte mich auf, den Bus zu verlassen, und sprach dann mit dem Fahrer. Ich stand vor einem dreistöckigen Gebäude mit mehreren Balkonen, das hellgrün gestrichen war. Davor lagen hunderte von Zigarettenkippen auf dem Boden. Auf jedem Balkon sah man die dunklen Gesichter neugieriger Kinder, die durch die Stäbe des Geländers schauten. Die Männer und Frauen auf der Veranda starrten mich an. Ich blickte ihnen in die Gesichter und erkannte Menschen aus verschiedenen Ländern, von denen jeder eine Geschichte zu erzählen hatte. Im zweiten Stock sah ich einen einzelnen Mann und spürte, dass er Syrer war.

      Die Beamtin gab mir einen Plastiksack, so strahlend blau wie der Himmel an diesem Tag. Aus dem Bus holte sie einen Karton, einen gewöhnlichen Pappkarton ohne besondere Merkmale. Das blasse Braun erinnerte mich an die karge Landschaft der endlosen Wüste wischen Deir ez-Zor und Damaskus. Ich nahm den Karton; er war nicht so schwer, wie ich vermutet hatte. Sie bat mich, ihr zu folgen, und als wir die Treppen emporstiegen, sah ich, dass sie einen Schlüsselbund in der Hand hatte. Wir betraten das Gebäude. Ein starker Duft nach Curry und Öl wehte durchs Treppenhaus, außerdem der vertraute Geruch eines arabischen Gerichts namens Muluchiya *. Die Mischung dieser starken Gerüche war abstoßend; um meine Verwirrung zu überwinden, drückte ich den Karton und den blauen Sack fest an die Brust und ging die Treppen hinauf.

      Wir gingen in den zweiten Stock; die Beamtin schaute sich um, um sicherzugehen, dass dies die Wohnung war, die sie gesucht hatte. Ich stand ein kleines Stück hinter ihr und blickte auf ihren Rücken, mein Kopf war vollkommen leer. Sie klopfte mehrmals an die Tür und wartete. Von drinnen war nichts zu hören. Wir standen schweigend, während sie den richtigen Schlüssel suchte. Ich betrachtete die ungewohnte Umgebung und sah auf der Wand den schlecht gezeichneten Umriss einer Katze, die eine Ratte fing. Wahrscheinlich eine Warnung an die Bewohner, keinen Abfall im Treppenhaus liegen zu lassen. Nach mehreren Versuchen gelang es ihr, die Tür aufzuschließen, und wir gingen in die Wohnung. Der Flur war zugestellt mit Kartons und kaputten Möbeln. Ich sah in einer Ecke ein schmutziges Sofa und anderen aufgestapelten Müll. Die Beamtin der Migrationsbehörde war nicht überrascht von diesem Anblick. Sie führte mich in den Raum, in dem ich schlafen sollte, stieß die Tür mit dem Fuß auf und trat zur Seite, um mich eintreten zu lassen, während sie auf ihr Handy schaute. Wiederwillig betrat ich den Raum mit dem Karton und dem Plastiksack. Ich kam mir vor wie ein Gefangener.

      Mit Ausnahme von zwei Bettgestellen ohne Matratzen war der Raum schmucklos und leer. Ein Bett stand unter einem großen Fenster mit einem quadratischen Stück schwarzer Baumwolle anstelle des Vorhangs.

      «Dies ist Ihr Zimmer», sagte die Beamtin. «Hier bleiben Sie, bis Sie erfahren, was wir entschieden haben. In den nächsten Tagen wird jemand den Raum mit Ihnen teilen.»

      Ich bat um einen Schlüssel für das Zimmer. «Asylsuchende haben nicht das Recht, ihre Türen abzuschließen», erwiderte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, und gab mir eine Mappe voller Papiere. Auf dem Deckel standen auf Arabisch die Worte «Willkommen in Schweden».

      «Sie haben Glück, dass Sie im Sommer in Schweden eingetroffen sind», sagte die Beamtin und ging.

      Ich starrte auf die Wände, die gelb von Nikotin waren, und eine Welle von Gefühlen schlug über mir zusammen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ich schließlich den Plastiksack öffnete, den ich bekommen hatte. Darin befanden sich eine Matratze, ein blaues Handtuch und Bettwäsche. Dann öffnete ich den Pappkarton und fand einen Kochtopf, einen weißen Plastikteller, einen Becher, eine Gabel, einen Löffel und ein gezacktes Küchenmesser. Instinktiv entschied ich mich für das Bett unter dem Fenster und schob den Karton mit dem Fuß unter das Bett. Ich rollte die Matratze aus und legte Kissen und Decke auf das Bett. Das Tuch vorm Fenster hing schief; es war nur teilweise an der Schiene befestigt und kaum länger als das Fenster selbst. Als ich es zurechtzog, stieg eine Staubwolke auf; ich musste husten und öffnete das Fenster, um frische Luft zu schnappen. Erstaunt blickte ich direkt auf einen Friedhof. In dem Moment wurde mir klar, welchen Titel die Geschichte über meinen Aufenthalt in diesem Raum tragen würde.

      Beim Blick auf die Gräber ließ ich mutlos die Schultern sinken; schon wieder war der Tod mein Nachbar. Wusste die Frau von der Migrationsbehörde nicht, woher ich kam? Natürlich nicht. Wie sollte sie wissen, dass mein Weg nach Schweden mit Leichen gepflastert war? Ich war über Tote hinweggestiegen, hatte mich unter Leichen versteckt und neben ihnen geschlafen, das noch frische Blut gerochen, das aus ihren Mündern lief. Nein, die Beamtin wusste nichts über meine Begegnungen mit dem Tod, über mein Leben, bevor wir uns in der Migrationsbehörde getroffen hatten. Sie konnte nicht wissen, dass ich als Kind meinen Vater im Sarg gesehen hatte und dass ich meine Mutter behelfsmäßig in einem Park beerdigen musste. Auch meine Freunde hatte ich auf einem provisorischen Friedhof zurückgelassen. Mein Geist ist ein Friedhof voller Erinnerungen an die Toten, ihre Geister verfolgen mich, wohin ich auch gehe.

      Ich schloss das Fenster, zog das Tuch davor und setzte mich in frischer Trauer auf mein Bett. Auf der Suche nach ein wenig Hoffnung strich ich mit der Hand über die Zimmerwand, dann rollte ich mich auf der neuen Matratze zusammen, um die Gedanken in meinem Kopf zu beruhigen. Immer wiederkehrende Albträume verwirrten mich, machten mich müde und hungrig. An der Zimmerdecke sah ich eine feuchte braune Stelle, sie sah aus wie eine Landkarte von Syrien. Ich starrte sie an, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Schließlich vertrieb ich diese Halluzination.

      In den nächsten


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