Selamlik. Khaled Alesmael

Selamlik - Khaled Alesmael


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war. Seine Brille rutschte ihm fast von der großen Nase. «Ich komme aus Deir ez-Zor», erwiderte ich. Er stellte sich als Doktor Omar vor. «Sieht so aus, als gingen die meisten der alawitischen Studenten zurück in ihre Dörfer in den Bergen.» Er grinste. «Sie sind traurig, dass ihr unsterblicher Held gestorben ist, und haben Angst vor dem, was jetzt passieren könnte. Es ist sicherer, die Stadt erst einmal zu verlassen, meinst du nicht auch?» Wegen seines starken Akzents nahm ich an, dass er aus der Provinz Idlib stammte. Was er sagte, klang verdächtig nach Muhabarat, deshalb schlich ich mich davon, ohne zu antworten.

      Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Die zufällige Begegnung mit einem Fremden machte mir klar, dass sich Gefahr und Anspannung im gesamten Gebäude ausbreiteten.

      Meine Tasche stand noch mitten im Raum und starrte mich an. Ich spürte das Bedürfnis, sofort abzureisen. Mich erotischen Fantasien über einen Mann wie Ali hinzugeben war äußerst gefährlich. Er kam aus einer berühmten Alawitenfamilie und könnte mich und meine Familie in den Fokus der Geheimpolizei bringen. Ich ging hastig die Treppen hinunter und hinüber zur Telefonzelle am Eingang, in der linken Hand fest umklammert mein Buch. Die Sonnenstrahlen trafen erbarmungslos jeden, der sich ihnen aussetzte, mein Kopf begann wieder zu schwitzen. Ich hob das Buch, um mich vor ihnen zu schützen. In der Telefonzelle stand ein riesiger bärtiger Mann und rief: «Der Löwe ist tot, hast du verstanden, du Hurensohn? Bist du jetzt glücklich? Wir werden dich schon kriegen!» Er warf den Hörer auf die Gabel, knallte die Tür zu und stieg schnell in den Bus.

      «Schön, dich zu sehen!» Ali lächelte breit. Die Sonne brannte, ich konnte kaum die Augen öffnen. Er hatte sich zwei Tage lang nicht rasiert und sah noch männlicher aus. «Lass uns wieder reingehen, hier ist es zu heiß», flüsterte er. Er trug ein hellgraues Shirt und eine dunkelgraue Hose. Ich hatte Angst davor, mich der Gefahr auszusetzen, die er jetzt darstellte, aber das Verlangen nach ihm war stärker.

      Unser Raum war wirklich sehr klein, ohne Badezimmer und mit nur einem Sessel unter dem offenen Fenster, durch das warme Luft hereinkam. Ali zog die Jalousie hinunter. «Bei dieser Hitze machen wir sie lieber zu, okay?» Bei den Worten fing er an, sein Hemd aufzuknöpfen. Die letzten beiden Tage waren für mich eine Achterbahn der Gefühle gewesen; die Vorstellung, mit ihm allein zu sein, hatte mich erregt, aber jetzt schämte ich mich, weil er merken könnte, dass ich in seinem Bett geschlafen hatte. Er zog das Hemd aus; sein muskulöser Körper und die braune Haut waren eine enorme Versuchung. «Du bist solch ein schöner Junge», sagte er und ging zum Schrank, um sein Hemd aufzuhängen. Ich blickte starr auf meine Reisetasche; mein Verlangen zu bleiben war stärker als der Wunsch, aus Furcht wegzulaufen. Ich hatte das Buch in der Hand zusammengerollt; meine verkrampften Finger pulsierten in elektrischen Zuckungen, aus Furcht, mich meinem sexuellen Verlangen hinzugeben. Bevor ich etwas sagen konnte, nahm Ali meine Hand und zog mich zum Bett. Instinktiv wich ich zurück, aber er hielt meine Handgelenke fest im Griff; seine warmen Lippen küssten meinen Nacken. Seine behaarte Brust rieb sich an meinem Rücken, und mit der linken Hand streichelte er mir den Kopf. Als sein Atem heftiger wurde, schloss ich fest die Augen. Er zog mich an den Haaren und fuhr mit dem Bart über meine Lippen, wie ein Tier, das seine Beute begutachtet, bevor es sie verschlingt. Mein Körper zitterte bei dem Gedanken, dass das, was wir taten, äußerst gefährlich war. Er führte meine Hand an seine Leiste und gab mir mit dem Kopf das Zeichen, ihm den Reißverschluss zu öffnen. Meine Hand war erstarrt und mein Verstand kurz davor zu implodieren; alles sträubte sich dagegen, die Grenze zum unbekannten Territorium der Lust zu überschreiten. Ich legte die Hand auf seine Hüfte. Er schob mich zum Bett und flüsterte: «Hab keine Angst.» Dann öffnete er selbst den Reißverschluss. «Nur zu, fass ihn an.»

      Unsere nackten Körper lagen auf dem Bett, bedeckt mit Samen und Schweiß. Meine Schulter berührte Alis Rücken, braun und glatt. Er schlief, doch sein ruhiger Atem konnte meinen Verstand nicht davon abbringen zu denken, dass das, was wir gerade getan hatten, haram * war. Der Roman lag auf dem Boden, er war aus dem Bett gefallen, als Ali mir die Shorts ausgezogen hatte. Ich fragte mich, ob Gott nach dem, was ich getan hatte, meine Literaturprüfung segnen würde. Plötzlich nahm Ali meine Hand und legte sie auf seine Brust. «Ich habe immer davon geträumt, einen Zimmergenossen wie dich zu haben.»

      «Meinst du, sie würden uns einsperren?», fragte ich. Er stand auf und ging zum Tisch, nahm die Teekanne und schüttelte sie. «Zieh dich an und hol Wasser, damit ich Mate kochen kann.» Ich drehte mich im Bett nach ihm um. «Ich meine das ernst, meinst du, sie würden uns einsperren?» Er stellte die Teekanne wieder auf den Tisch. «Wenn du die Geheimpolizei meinst, die sind so dumm, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, zwei Männer könnten Sex haben. Sie verfolgen heterosexuelle Männer, die Frauen belästigen.» Er lachte und fuhr fort: «Wusstest du das? Ich habe gehört, dass Studenten sich Burkas angezogen haben, um sich in den Mädchenflügel zu schleichen und dort Sex zu haben.»

      Ich fragte ihn nach Gott. Er meinte: «Welcher Gott würde dich bestrafen, weil du Liebe gefunden hast?» Ich nahm die Teekanne und ging in die Küche.

      Am Nachmittag schoben wir die beiden Einzelbetten zusammen. Ali merkte, wie ich ihn beobachtete, als er die Matratze und die Kopfkissen bezog. Ich spürte, dass er der Mann war, den ich wollte. Das Zimmer fühlte sich plötzlich wie ein Zuhause an, obwohl kaum Möbel darin standen. All meine Ängste waren verflogen, doch ich bat ihn, keine Musik zu spielen und die Staatstrauer zu respektieren. «Ich hoffe, du sagst das nicht, weil du weißt, dass ich zur selben Konfession gehöre wie die Familie al-Assad. Aber ich werde mein Lieblingslied spielen.» Er drehte die Lautstärke des CD-Players so weit hinunter, dass wir fast nichts mehr hören konnten. Wir lachten beide über die absurde Situation, hielten uns aber die Hand vor den Mund, damit uns niemand hörte. Ich holte meine Kopfhörer und wir setzten uns nebeneinander auf das schmale Bett, um Erlöse mich zu hören. Ali summte mit und küsste mich sanft auf die Stirn.

       IN RAUM 333, TEIL 2

      Nachts um elf ging ich mit bloßem Oberkörper zum Fens-ter und schaute hinaus. Unten in der Amir-al-Schuaraa-Straße stand ein junger Mann unter einer Laterne, wie es viele Studenten in den warmen Nächten vor den Sommerferien taten. Das Licht der Laterne fiel in den dunklen Raum, denn wir hatten das Licht ausgeschaltet. Ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und sah Alis Silhouette den Raum betreten. Er zog sich aus und kam auf mich zu. Ich spürte seinen warmen, nackten Körper an meinem Rücken. Ich schloss das Fenster und gab mich ihm hin.

      Das Quietschen des Betts beim Ritual des Sex war so laut, dass man es bestimmt noch im Nachbarzimmer hören konnte. Ali hielt ein und gab mir ein Zeichen, die Matratze auf den Boden zu legen. Ich erlebte den ersten Sex auf einer schmalen Matratze auf dem Boden im orange flackernden Licht einer Laterne. Er war sehr erfahren und reagierte behutsam, als er spürte, dass ich nicht wusste, wie ich mich bei diesem Initiationsritus verhalten sollte.

      Ein Klappern auf dem Flur ließ uns erstarren. Ali drehte sich zum Nachttisch, um auf die Uhr zu sehen, es war drei Uhr morgens. Der eigenartige Lärm wurde immer lauter und verstummte plötzlich direkt vor unserem Zimmer; durch den Spalt unter der Tür sahen wir einen Schatten. Der Gedanke, jemand könnte uns erwischen, versetzte mich in Panik. Zum ersten Mal verzog sich Alis schöner Mund zu einer Grimasse. Draußen bearbeitete jemand heftig die Zimmertür. Ich hielt die Luft an, vor Angst, er könnte die Tür aufbrechen. Plötzlich verstummte der Lärm.

      Ich atmete auf.

      Schweigend stand ich auf und legte meine Matratze wieder auf das Bettgestell; dann zog ich die Hose an. Danach zog auch Ali sich an. Er kam zu mir und gab mir einen sanften Kuss, aber ich sah die Angst in seinem erschrockenen Gesicht. Wir lagen jeder in seinem Bett und versuchten, ein wenig zu schlafen. Von den Moscheen erklang der Aufruf zum al-Fadschr *. Von einem Minarett auf dem Hügel, auf dem sich das Studentenwohnheim befand, hörten wir die tiefe Stimme des Muezzin: As-salat chairun min an-naum *. Die Worte flogen über die Dächer der Villen davon. Ich starrte mit offenen Augen an die Decke, die von den Straßenlaternen erhellt war; ein eigenartiger Impuls überkam mich, ich sprang auf, wusch mich und betete. Nach dem Adhan * rief der Muezzin: «Betet für al-Assads Seele.»

      Der Ruf war beendet, und ich hörte Ali schnarchen.


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