Birdie. Tracey Lindberg

Birdie - Tracey Lindberg


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sie den Geist berührt, von dem sie weiß, dass er in Bernice ist. Ihre Tochter ist reich, reich an Möglichkeiten und Lebenswillen. Maggie wird davon erfüllt, der ganze Raum wird davon erfüllt, und einen Moment lang verstummen alle vor Ehrfurcht, während es durch sie und über sie hinwegzieht. Ihr Mädchen ist voller Gefühle, die Maggie erst jetzt empfindet, an diesem Ort.

      Sie fühlhört Klappern und Klatschen, als jemand die Bar betritt. Es ist Kohkom, zeremoniell gekleidet. In roten High Heels.

      Und zum Tanzen bereit.

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      WER SIE IST

      nayahcikewiyiniw: jemand, der/die sich Dinge auf die Schultern lädt

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       pawatamowin 1

      Er zeigt nach draußen, auf Pimatisewin, und sagt in Cree: »Was sie braucht, ist Tiramisu.«

      Bernice besitzt zwei Paar Schuhe. Sie findet, dass Schuhe eine Menge über ihre Besitzer verraten. Sie hat ein Paar Sneaker für die Arbeit und ein Paar High Heels, die sie in einem Laden der Heilsarmee gefunden hat. Beide erfüllen einen Zweck. Keins der beiden Paare, findet Bernice, verrät irgendetwas über sie, außer wie sie ihre Zeit verbringt. Über die meisten Leute verraten Schuhe eine Menge, findet Bernice.

      Wie sie ihre Zeit verbringt, ist ihr immer öfter ein Rätsel. Stunden verrinnen, ohne dass sie es mitbekommt. Ab und zu ertappt sich Bernice dabei, dass sie so still und stumm dasitzt, als würde sie schlafen. Aber das ist es nicht. Sie weiß nicht genau, was sie da tut, aber was sie nicht tut, weiß sie ziemlich sicher. Und. Schlafen. Tut sie nicht.

      Dass etwas mit ihr passierte, sagte ihr anfangs nicht ihr Kopf, sondern ihr Körper. Manchmal bekam sie Krämpfe in den Beinen. Davon, dass sie zu lange unbeweglich dagesessen hatte. Oder. Vielleicht. Von der Kraft, die es kostete, nicht zu sein, wo sie war. Sie wusste es nicht. Manchmal passierte es, wenn sie nicht allein war. Auch dann wusste sie nicht, was sie tat, aber fast immer bekam sie den Moment mit, in dem sie »zurückkam«. Wenn sie es tat. Damals, als sie es noch tat. Dann schnipste jedes Mal ein ungeduldiger, unfreundlicher Jemand mit den Fingern, stieß mit dem Fuß nach ihr oder schrie sie, einmal zumindest, an. (»Ey, Matschbirne, ich rede mit dir!«)

      Manchmal saß sie (reglos, vermutlich) so lange in der Kälte oder im Wind, dass ihre Narben knittrig und ihre Augen trocken wurden.

      Damals, als sie noch zurückkam, setzte sie sich öfter in den Park, schaute den Fischerbooten zu und blickte über das aufgewühlte Wasser. Unbeweglich und bewegt zugleich, saß sie einfach nur da, schaute und starrte sich in ihre Zeit hinein. Das war nichts für zu Hause. In Edmonton hätte sie es nie probiert. Aber Gibsons ist gerade so sicher. Genug.

      Den meisten Menschen, denkt sie, wäre diese … diese Leere ihres Selbst beunruhigend oder erschreckend vorgekommen. Bernice nicht. Die Leere, die sie verspürte, war irgendwie anziehend; sie verschluckte alles um sie her und machte sie leichter. Jetzt, in ihrem Bett, betrachtet sie diese Phase als die Zeit, in der sie zu verschwinden lernte. Es wurde Teil von ihr, eine langsame Veränderung, breitete sich aus, bis alles in ihr beweglich und biegbar wurde: Erinnerungen. Schlimme Gedanken. Die Zeit. Es war, wie wenn ein Stein über das Wasser springt, deshalb erschrickt sie nicht einmal, als sie untergeht. So lange ist schon alles seltsam, dass sie nicht ansatzweise sagen könnte, wie sich Normalität anfühlt. Aus ihrer Zeit zu sich selbst zurückzukommen, das fühlte sich normal an. Dieses Gefühl war das eine, aber wenn sie dann zerkratzte Fußsohlen oder blaugeschlagene Hände hatte oder als sie das eine Mal mit Blut im Mund, aber ohne Verletzungen zurückkam, da fragte sie sich schon, wo sie gewesen war. An jenem Tag, dem letzten Tag mit den Booten auf dem Wasser, schaute sie an sich herab und entdeckte in ihren vernarbten und frisch verschorften Händen einen Notizzettel:

       Muskeg

       Grapefruit

       Zitrone

       Kumin

      Es ist nicht ihre Handschrift. Ist es nie. Allerdings würde sie ihre eigene Handschrift auch nicht mehr erkennen. Mit den Pflastern an den Fingern wäre ihr das Schreiben sowieso schwergefallen. Bevor sie untergegangen ist, hat eine Art Pilz ihre Haut besiedelt. Erst wurden die Stellen wund und bildeten Krusten. Jetzt, im Licht ihres Zimmers, ähneln sie dem Blasenrost, der sich zu Hause an die Stämme der Küsten-Kiefern heftet. Als es anfing, zupfte und kratzte sie die raue, schrundige Haut säuberlich erst nur von den Ellbogen, dann von den Waden, Knien, Hüften, dem linken Schenkel und neuerdings von den Fingern. Die immer wieder abgepellte und nachgewachsene Haut ähnelt jetzt nicht mehr einer frisch verheilten Verletzung. Sie sieht aus wie ein geschältes Stück Grapefruit, bei dem das Gewebe mit seinen säuberlich geordneten Schichten bloßliegt. Anstatt dass die Pusteln sie ihrem Körper entfremden, fühlt Bernice sich wohler in ihrer Haut. Als passte sie jetzt besser dazu, wie sie sich darunter anfühlt.

      Je mehr sie kratzte, desto schneller schien der Pilz sich auszubreiten. Ihr machte das nichts aus; sie kommt sich wohnlich vor. Fühlt sich begehrt. Vor allem fühlt sie, dass aus ihr etwas wird. Irgendetwas. Neues.

      Es war nicht einfach, ihre Hände vor Lola zu verbergen, und jetzt ist sie erleichtert, dass sich niemand mehr für so etwas wie wunde Stellen interessiert. Bevor sie – sich veränderte? Erkrankte? Unterging? Davor hat sie sich morgens für die Arbeit die Finger verbunden, lange Ärmel getragen, Lola die Seite ihres Halses ohne Ausschlag zugewandt und gehofft, dass es ihr nicht auffiel. Bernice hasst Konflikte, und Lola hätte ganz sicher ein Problem damit gehabt, dass sie mit ihren braunen und schreiend roten Händen das Gebäck, den Teig und die Rührschüsseln berührte. Lola hat zu allem eine Meinung und hätte garantiert nicht gezögert, sie ihr zu sagen. Bernice schaudert – von außen betrachtet wirkt es wie ein kleiner Tremor –, bei dem Gedanken daran, was Lola davon halten würde, dass sie nur wegen der Strandpiraten-Serie nach Gibsons gekommen ist.

      Sie weiß selbst nicht, wann diese … diese Obsession, muss man wohl sagen, angefangen hat. Irgendwann jedenfalls im Laufe ihres Lebens (vor der Academy, vor den Ingelsons, vor Edmonton und lange vor Gibsons) ist Pat John ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Nicht dass sie es je übertrieben hätte, das nicht. Sie findet ihn einfach richtig nett. Dass er zum Beispiel Verwandte als Komparsen eingeschleust hat, wenn sie bei den Strandpiraten mehr Indianer brauchten.

      Wie alle anderen auch, lernte sie ihn beim Serienstart Anfang der Siebziger als Jungen mit dürren Armen und abgeschnittenen T-Shirts kennen. Sie wartete darauf, dass er sich verlieben würde, was er nie so richtig tat. Und ja, auch in den Achtzigern hatte sie ihn im Blick, als er sich anscheinend nur noch von Zucker und Stärke ernährte. Aber aufgeblüht war ihre Liebe zu Pat John, als er den jungen Jesse spielte. Zwanzig Jahre älter als sie, aber nicht unerreichbar: ein gesunder indianischer Mann mit einem festen Job.

      Deswegen also ist sie hier gelandet, in Gibsons, B.C. Oder besser gesagt hat sie es Lettie aus Sechelt zu verdanken. Letties Mann war zur selben Zeit in der Anstalt wie Bernice. Die beiden hatten ihr in der mintgrünen Cafeteria beim Mittagessen etwas Räucherlachs angeboten, und obwohl sie kein Wort gesagt, sondern nur zugehört hatte, bekam Bernice mit, dass sie in Sechelt lebten. Nach ihrer Entlassung und als sie wusste, was zu tun war, erschien es ihr naheliegend, bei ihnen anzuklopfen. Ob Lettie es seltsam fand, dass eine massige Cree-Frau, die nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte und im Vorjahr mit ihrem Mann in der Psychiatrie gewesen war, plötzlich vor ihrer Tür stand, war ihr nicht anzumerken. Sie (ihr Mann war auf Fischfang) bat Bernice herein, gab


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