Birdie. Tracey Lindberg
Als es an der Zeit war, als der Zorn ihrer Vergangenheit ihrer Zukunft vorauspreschte, legte sie sich einfach hin.
Von ihrem Bett aus stellt sie sich manchmal ihre Mom auf den alten Bildern von Indianerinnen vor, die sie in Geschichtsbüchern und anthropologischen Texten gesehen hat. Gut passt sie dort hinein – so dunkel und ernst, mit zwei schwarzen Zöpfen, die lang und dick an ihrem Rücken hinunterhängen. Sie hatte richtig schokoladenbraune Haut, keine milchkaffeebraune wie Bernice. Sie war ständig in Bewegung und hätte sicher nur einen kurzen Moment für die Aufnahme stillgehalten: ein zierlicher Wirbelwind auf lichtempfindlichem Film.
Manchmal kann Bernice beim Blick in den Spiegel Maggies Knochen erkennen. Meist sind sie allerdings eher wie Fischgräten, unsichtbar und trotzdem da. Diese tief in ihr vergrabenen Knochen beschützen sie, ohne dass es jemand ahnt.
Da ist Bernice anders als ihre Cousinen oder Tanten, die ihre Knochen wie eine Rüstung tragen. Die Knochen von Cousine Freda stechen überall hervor. Sie sieht aus, wie man sich die typische Indianerin vorstellt. Wie eine Kriegerin. Wangenknochen, Hüftknochen, Schlüsselbeine, sie alle ragen bedrohlich hervor. Auf Bernice wirkt es, als seien Fredas kleine Knochen wütend. Nimm mich wahr! Nimm mich wahr! Nimm mich wahr!
Bernice und Auntie Val sind nicht der Typ, den man fotografieren würde – der Typ, an den man sich erinnert und erinnern möchte. Eine fette Indianerin mag niemand. Na ja, die Männer schon, aber niemand druckt sie auf Postkarten oder andere Andenken für die Lieben daheim. Vielleicht galt Fett einfach nicht als edel. In gewisser Weise war Bernice sogar stolz darauf. Sie und ihre Tante ähnelten den Pionieren, die »allein Neuland betraten«, denkt sie und legt sich die Hand auf den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken, das Freda und Lola ein Stockwerk weiter unten darauf aufmerksam machen könnte, dass sie in ihrem Körper anwesend ist.
Diese Bilder laufen vor ihrem inneren Auge ab. Äußerlich ganz ruhig, ist Bernice innerlich aufgewühlt, lebendig. Eine aufgeladene Batterie in einer pausierenden Maschine, nur ihr Körper wartet im Leerlauf. Auf ein Zeichen. Auf Erfüllung. Auf den Moment. Wenn sie sicher ist. Bilder und Erinnerungen verschwimmen miteinander wie bei einer Diaschau. Val und Freda aktiv, ihre winzige Mom passiv, sie fällt fast aus dem Rahmen. Eine Aufnahme ihres Vaters, der sich entfernt. Während Bernice sich an sie erinnert, immer und immer wieder, schreitet sie die Grenzen ihres emotionalen Ground Zero ab, geht nie weit genug darauf zu und schaut nie direkt hin, doch sie hofft Überlebende des Ortes zu finden, dem sie entkommen ist.
Ein anderes Bild. Ein heißer Sommer in Alberta, als ihre Mom und Auntie Val ziemlich angetrunken waren, und laut, lauter, richtig laut wurden nach einem alkoholisierten Abend. Sie konnte diese Verbindung zwischen dem Trinken und der Freude, die aus der Küche strömte, nicht richtig verstehen und malte sich die beiden Schwestern aus, wie sie nah beieinandersaßen und wie beste Freundinnen über fast leeren Gläsern miteinander lachten. Die Flasche Canadian Club stand in ihrer Vorstellung zwischen den beiden, während sie abwechselnd kicherten, die schwarzen Haare über die Schulter zurückwarfen und sich vor Lachen krümmten.
Sie waren so ehrlich in ihrer gegenseitigen Wertschätzung und Liebe zueinander, dass Bernice sich ganz benommen fühlte. In jener Nacht hatte sie überlegt, Freda zu wecken, damit auch sie diese Freude sah, aber Freda schlief den süßen Schlaf des reinen Gewissens. Das sie nicht hätte haben dürfen, wie Bernice sich selbst in Erinnerung rief.
Sie hatte den Stimmen aus der Küche gelauscht und sich vorgestellt, wie die Frauen einander die Haare flochten und sich Geheimnisse zuflüsterten, wenn es still im Zimmer wurde. Sie presste ihr Ohr gegen die Wand, die die Küche von ihrem winzigen Zimmer trennte, und hörte:
Ihre Tante, die voller Gefühle sagte: »Schwester, wirst du mir die Kinnhaare zupfen, wenn ich alt bin? Versprich es mir!«
Maggie antwortete daraufhin mit dem Ernst einer Braut vor dem Altar. »Ja, Schwester. Das werde ich.«
An diesem Abend lernte Bernice zwei Dinge. Erstens: Sie würde vermutlich im Alter ein Gesichtshaarproblem bekommen. Das war in Ordnung, sie hatte schließlich auch eine Schwester (also Skinny Freda eben). Außerdem würde sie lernen müssen, in ihrem Leben etwas für eine andere Person zu tun. Sie würde jemanden finden, mit dem sie feierliche Versprechen austauschen konnte, wenn sie angetrunken war. Damit auch sie in ihrer Erinnerung lebendig wären.
Das Geklapper aus einer anderen Küche und die aufsteigende Backofenhitze lassen sie auf ihrer Erinnerungsreise einen Augenblick innehalten. Sie macht eine Bestandsaufnahme. Keine Inventur, das Ganze gleicht eher einer Patchwork-Decke. Wo sie auch beginnt, mit ruhigem Körper und regem Kopf, die Gefühle in Alarmbereitschaft, sie endet immer in Loon. Fredas wildes Lachen bahnt sich einen Weg die Treppe hinauf, landet erwartungsvoll auf ihrer Bettdecke. Bernice bewegt sich nicht, will es nicht spüren. Wird es nicht unter der Decke willkommen heißen. Sie kennt dieses Lachen.
Das Aufheulen der Rennboote hat sie noch immer im Ohr. Wasser. Sonnenschein. Auntie Val. Freda. Vor ihrem inneren Auge laufen wechselnde und sich auswechselnde Bilder ab. Diese lenken ihre Aufmerksamkeit auf das Wasser. Sie sieht, wie der Motor wütenden Schaum aufwirbelt, auf dem ein geröteter Mann entweder mit furchtloser Geschmeidigkeit oder leichtsinniger Gleichgültigkeit dahinhüpfte. Eine junge Frau in einem bunten Bikini feuerte ihn an – das Aufblitzen weißer Zähne, weißer Haare und brauner Haut, brauner als die Haut von Bernice. Der Skifahrer klatschte spektakulär ins Wasser, sein Körper wurde abrupt und vollständig abgebremst, als er sich in einen Wellenkamm pflügte. Sie erinnert sich an diesen Tag.
»Lass’as Seil los!«, riefen Auntie Val, Skinny Freda und Bernice wie aus einem Mund.
Bernice schälte eine Orange und versuchte die blonde Bikini-Frau telekinetisch von ihrem Sitz, auf dem sie gesund und ihre Haarpracht schwenkend saß, in das aufgewühlte Kielwasser hinter dem Außenbordmotor zu befördern.
»Echt ’ne schlimme Sache mit Willie Belcourt, findet ihr nicht?«, sagte da gerade Skinny Freda, wodurch der blonde Bikini einen Augenblick lang vor Bernice’ Zorn in Sicherheit war.
»Hä?« Auntie Val zog eine Augenbraue hoch. Skinny Freda war zwar eigentlich ihre Nichte, zugleich aber Valenes beste Freundin und adoptierte Tochter und dafür bekannt, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen, wenn sie einer guten Geschichte im Weg stand. Val bot ihr einen Keks an und bedeutete Skinny Freda, fortzufahren. Bernice erinnert sich noch mit besonderem Entzückentsetzen an den silbrig glitzernden Zweiteiler, den ihre Tante stolz und mit einer Selbstverständlichkeit trug wie andere Leute ein Büffelfell.
Bernice beachtete den Keks nicht und wandte ihre geschlossenen Augen der Sonne zu. Sie hatte sieben Pfund abgenommen, am meisten davon an den Beinen, und an diesem Tag wagemutig eine kurze Hose angezogen. Sie war seit einem Monat in Loon und musste erst in sechs Wochen wieder an die Christ’s Academy. Und das auch nur, wenn sie bis dahin das Geld für ein weiteres Schuljahr zusammenbekämen. Sie hoffte, dass der Gewichtsverlust und die gebräunten Beine ihr die anderen vierzehnjährigen Mädchen vom Leib halten würden.
»Also«, begann Skinny Freda, ganz die geübte Geschichtenerzählerin, »er ist mit dieser weißen Frau nach St. Albert.« Freda sagte das mit dem ihr eigenen singenden Tonfall und vollkommen wertfrei. Sie selbst hatte sich schließlich auch mit ein paar moniawak4 verabredet, seitdem Val ihr erlaubt hatte auszugehen. Bernice schielte zu ihr hinüber; ihre Schwestercousine kam ihr wie ein Gegenbild ihrer selbst vor. Bernice war immer davon ausgegangen, dass Freda unter ihren Wangenschatten und spitzen Knochen vor Selbstbewusstsein überfloss. Dass eine Mischung aus graziler Sicherheit und dem Dürrenglück der Zeitschriftenmodels genau da aus ihr heraussickerte, wo Bernice unter all dem Schweigen und der Polsterung etwas fehlte. Erst mit den Jahren verstand sie, dass der Zerrspiegel ihrer gemeinsamen Kindheit bestimmte, wie sie sich selbst wahrnahmen, und verbog, was andere in ihnen sahen.
»Jetzt erzähl schon, Freddy.« Bernice’ Worte klangen ungeduldiger, als sie war. Sie erinnert sich an den verstohlenen Blick ihrer Tante, die sich vermutlich über ihre Erregung wunderte.
»Also«, sagte Skinny Freda betont langsam, »er lässt Flora wie jedes Jahr allein, aber dieses