Birdie. Tracey Lindberg
Bernice die Kinder. Trotz ihres Schweigens und obwohl sie in dieser Zeit lernte, ihren Körper zu verlassen, schätzte Lettie ihre Gesellschaft. Einmal nahm Lettie sie mit zum Sechelt Inlet, und während die Kinder herumtobten, ließ Bernice das Wasser, die Berge, die Luft auf sich wirken. Es roch so frisch. Den Geruch von Luft und Wasser, Tier und Leben hatte sie ganz vergessen.
Letties Leute wohnten über vier kleine Dörfer verteilt, ein Reservat konnte man es kaum nennen. Viele der Männer arbeiteten als Fischer oder für Fischereien, und einige Frauen hatten wie Lettie Jobs in der Stadt. So sehr es Bernice dort gefiel und so sehr die Kinder an ihr hingen, sehnte sie sich doch manchmal nach Ruhe. Sie war ein bisschen erleichtert, als Letties Mann heimkehrte. Für sie war es das Zeichen, weiterzuziehen. Ihr war sowieso nicht wohl dabei, mit ihm unter einem Dach zu wohnen, also fuhr sie am nächsten Tag auf Jobsuche nach Gibsons. Ein Aushilfe-gesucht-Schild in einem blitzsauberen Schaufenster, auf dem in geschwungenen Lettern »Lola’s Little Slice of Heaven« stand, wies Bernice nicht nur den Weg zu einem Job, sondern auch zu einem neuen Zuhause. Lola ließ Bernice zur Probe ein Blech Kekse backen, dann stellte sie sie ein und bot ihr auch an, über dem Laden zu wohnen. Dass Bernice beim Bewerbungsgespräch nur stumm lächelte und nickte, schien sie nicht zu stören; wahrscheinlich hatte sie es nicht einmal bemerkt. Lola war, wie sich herausstellte, ziemlich geschwätzig. Also zog Bernice in die Wohnung über dem Café um (mit der Aer-Lingus-Tasche, einer Posterrolle und einem abgewetzten Koffer, der den Charme eines ausrangierten Sofas hatte). Genau drei Monate waren vergangen, seit sie die Anstalt hinter sich gelassen hatte. Drei Monate unterwegs. Drei Monate seit ihrem Traum.
Der Traum. In dem Traum hatte Jesse, Pat John, aus einem Baum einen Ring geschnitzt und sie eingeladen, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen. Am Morgen nach diesem Traum hatte sie die Klinik verlassen. Und weil in Gibsons das Molly’s Reach stand, in dem Jesse in der Serie arbeitete, war sie jetzt dort.
Sie weiß, dass sie Glück hatte, diesen Job zu bekommen, besonders, weil Lola in ihrem Little Slice of Heaven nie viel mit »Brownies« zu tun bekommen hatte, wie sie alle Menschen nannte, die ebenso spärlich pigmentiert waren wie Bernice. Es war sogar erträglich. Sie musste Lola allerdings ins Gewissen reden, ihre »Süßen Squaws« in Karamell-Cremeschnitten umzubenennen. Und Lola war gar nicht, oder eigentlich doch, so schlimm, wie man hätte meinen können. Aber Bernice findet, dass Lola ein großes Herz und ein Händchen für Zahlen hat. Diese Eigenschaften kann man anerkennen, denkt sie, ohne sie deshalb gleich zum Abendessen einladen zu müssen. Solchen Lolas ist sie schon öfter begegnet. Sie trugen andere Namen und waren manchmal sogar Männer, aber es war trotzdem ein und dieselbe Person. Lolas waren immer ganz fasziniert von ihr, weil sie noch nie echte Indianer kennengelernt hatten.
Wie fasziniert sie wohl wäre, wenn sie wüsste, dass ich keine elf war, als mich zum ersten Mal jemand gefickt hat?, denkt Bernice. Dass ich täglich gekifft habe, dass ich jeden einzelnen Roman von Jackie Collins gelesen habe, auch die schlechten? Nein, ihr geht es nur um die edle Wilde.
Einmal hatte Lola sie sogar als »stoisch« bezeichnet. Bernice hatte gelacht, eine freundliche Grimasse geschnitten und der alten Schnepfe in den Kaffee gespuckt, sobald die sich dem Telefon zugewandt hatte.
Ihre kurze Zeit in der Bäckerei ist also nicht reibungslos verlaufen. Aber sie sagt sich immer wieder, dass sie mit einem festen Ziel hergekommen ist und dass sämtliche Entbehrungen es eines Tages wert sein werden. Manchmal malt sie sich die Szene aus – Jesse, wie er auf ein Stück Mokka-Käsekuchen oder einen Snack vorbeikommt. Später korrigiert sie sich in Gedanken – bloß, weil er in Gibsons gearbeitet hat, ist nicht gesagt, dass er auch dort wohnt.
Aber vielleicht kommt er ja mal zu Besuch, denkt sie.
Meistens jedenfalls stellt sie sich vor, wie er allein im Jeep unterwegs ist und gegenüber im Starbucks einkehrt (der Bens Café Bean There, Done That ersetzen müsste). Er ist dann kurz davor, wieder in den Jeep zu steigen, als er unwillkürlich einen Blick in Lolas Bäckerei wirft. Er überquert die Straße mit demselben Gesichtsausdruck wie damals, als er beschlossen hatte, das Molly’s Reach hinter sich zu lassen. Ernst und entschlossen, so las Bernice diesen Blick. Ernst und entschlossen betritt er Lolas Bäckerei.
Ratlos und zerrissen (was beinahe so gut ist wie ernst und entschlossen) tritt er mit dem Kaffee in der Hand über die Schwelle. In den Strandpiraten war er nie ratlos oder zerrissen, aber es ging ihr ja auch um den echten Menschen. An der Stelle unterbrach sie sich immer, weil sie für Pat John, wie er heute aussehen müsste, nichts empfindet. Sie ist so alt, wie er es beim Serienstart war. Heute muss er fünfundvierzig oder fünfzig sein, wenn nicht älter.
Sie hat mit niemandem über die Sache mit Jesse geredet. Klar, ihre Familie wusste Bescheid – wegen der akribisch eingehaltenen Sendezeiten und ihrer Postersammlung. Aber sonst ahnte niemand etwas von ihrer Liebe zu Jesse. Am allerwenigsten die Jungs, mit denen sie damals ausging. Wenn einer von ihnen die Haare lang trug, kniff sie manchmal die Augen halb zu und schaute durch die bewimperten Schlitze, und dann sah er fast ein bisschen aus wie Jesse in dieser einen Folge, in der er zwei ganze Sätze aufsagen durfte. Zwei Verben und sogar ein Adverb.
In Gibsons gibt es niemanden, der Jesse ähnelt. Hier sind alle stark gebräunt – viel dunkler als Bernice. Und alle haben gute Zähne. Lola hat gesagt, in Gibsons sei Fluorid im Wasser, und oben im Norden wäre das vermutlich anders. Bernice nimmt sich immer vor, irgendjemanden danach zu fragen, aber das geht nicht. Sie will Auntie Val nicht noch mehr Kummer machen – die war schon völlig fertig, als Bernice gegangen ist. Als der Entschluss gefasst war, hat sie nur die Bilder von Jesse von den Wänden genommen, die sie seit ihrem elften Lebensjahr besitzt (und die sie von der Eingangstür des CBC Edmonton hat mitgehen lassen), hat ein paar Sachen eingepackt und war weg.
Wenn sie jetzt daran denkt, wie sie sich fühlte und wie sie die Sachen packte, um Pat John näher zu sein, kommt sie sich albern vor. Schließlich muss er inzwischen ein alter Mann sein. Würde sie die Augen öffnen, könnte sie ihn vom Bett aus auf einem der Poster sehen. Es hängt an den ehemals kahlen Wänden der kleinen Wohnung über der Bäckerei.
Als sie dort ankam, hatte die Wohnung eine Verschönerung bitter nötig. Bernice zögerte, bevor sie die Bilder aufhängte – sie fragte sich, ob die Poster das Problem waren oder ob erst das Problem da war und dann die Poster. Eine Ordnung hineinzubringen war nicht einfach, und Bernice fragte sich, ob sie eine Zukunft vorwegnahm, in der sie die Poster nicht mehr haben wollen würde, oder ob sie sie brauchte wie ein Nachschlagewerk.
Eins ist dabei, von dem sie gleich wusste, dass sie es nicht aufhängen würde, das sie noch nie aufgehängt hat – Jesse in einer Folge von 1983, in der er aus lauter Wut auf Relic auf eine Wand eingedroschen hat. An die Folge und die ganze Staffel erinnert sie sich deutlich, weil die Serie von dem Jahr an eine halbe Stunde später gesendet wurde. Bernice musste immer noch zu ihrem Onkel, obwohl ihre Mom nicht mehr zum Makramee ging. Jetzt fuhr sie sonntags stattdessen mit Auntie Maisie zum Bingo, während Onkel Larry allein auf Bernice aufpasste. Ihre Mutter und Tante steckten in jenem Jahr in einer Pechsträhne. Von dem Makramee-Kurs waren nur knubbelige Wandbehänge, knubbelige Blumenampeln und knubbelige Platzdeckchen geblieben. Bernice’ Dad war längst weg, und sie verbrachte viel Zeit in Gedanken an die Cunninghams, die Partridges und die Bradys. Ihre weiße Haut, ihre weißen Zähne und ihre makellosen weißen Wände.
Das war das Jahr, in dem Onkel Larry mehr von ihr wollte, als dass sie auf seinem Schoß saß und sich befingern ließ. Daher fragte sie sich, ob die Fotos von Jesse wegen ihres Onkels da hingen oder ihm zum Trotz. Oder damit etwas Befremdliches sich normaler anfühlt. Aber das glaubte sie nicht; sie weiß, dass daran überhaupt nichts normal war, nicht an der Sache und nicht an ihm.
Nicht an Denen.
Ein leiser Seufzer entweicht ihr, wie wenn ein Baby träumt. Sie stellt sich vor, wie er mit einem dumpfen Schlag neben dem Bett auf dem Boden auftrifft.
Einmal, als Maggie sie nach dem Bingo abgeholt hat – im Winter, glaubt sie –, hat Maggie Bernice angeschaut und sie gefragt, ob alles okay sei. Bernice hat auf dem gesamten Heimweg kein Wort mit ihr geredet. Von da an weigerte sie sich, das Haus ihrer Onkels zu betreten, egal, wie sehr ihre Mutter sie drängte. Eine Zeit lang ging sie regelmäßig zu ihren Nachbarn, Mr und Mrs Olson. Mr Olson