Birdie. Tracey Lindberg

Birdie - Tracey Lindberg


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Larrys Frau, Auntie Maisie, kam eine Weile später, um mit Bernice zu reden. Sie schenkte ihr ein Tiger-Beat-Heft mit einem Fonzie-Poster. Das Heft hatte sie in einen nachgebauten kleinen Briefkasten der Canada Post gesteckt. Vermutlich waren solche Kästen nach Weihnachten bei der Post im Sonderangebot gewesen. Als Bernice sah, dass das Ding abschließbar war, schleuderte sie es in ihrem Zimmer zu Boden, so sehr empörte es sie, dass ihre Tante Larrys Geheimnis-Tuerei scheinbar mittrug.

      Jahrelang stand der Briefkasten in einer oberen Ecke ihres Schranks. Er war schwer und aus Metall – heutzutage wäre so etwas wohl aus Plastik. Irgendwann nahm Bernice ihn herunter, schloss ihr Tagebuch darin ein und hängte sich den Schlüssel um den Hals. Und irgendwann später war sie aus der Sache herausgewachsen.

      Jetzt habe ich wohl größere Geheimnisse, denkt sie.

      Manchmal macht es sie noch immer wütend, dass seine Frau ihr dieses Geheimnis-Geschenk gemacht hat. Dann wieder beschließt sie, nicht so hart zu ihr zu sein. Es kann nicht sein, denkt Bernice, dass eine Frau von so etwas weiß und dann nichts tut. Männer hat sie mehr oder weniger abgeschrieben, aber für Frauen hält sie in ihrem Herzen noch immer einen Platz frei.

      Bei der Arbeit in Lolas Laden hat sie sich manchmal gefragt, was passiert wäre, wenn sie damals schon mit Schlachtermessern hätte umgehen können. Dann verdrängte sie den Gedanken; das musste sie, denn sonst zitterten ihr die Hände, und sie musste ihren Inhalator benutzen. Aber was auch immer das war, es verzog sich meistens wieder.

      Tja, meistens.

      Sie steigt die Treppe hoch, mit wummerndem Herzen. Ihr Kopf fühlt sich wattig an, ihr Brustkorb prallvoll. Sie probiert, an drei Dinge zu denken, wie sie es in der Anstalt gelernt hat. Drei Dinge, die sie beruhigen sollen. Etwas, das sie hört: Das Brummen der Klimaanlage, die in der Wohnung die Hitze von den Öfen mildert. Etwas, das sie sieht: Die Posterrolle im obersten Schrankfach. Etwas, das sie fühlt: Das Schlachtermesser, das da, wo sie sitzt, ihre Matratze ausbeult. Sie beruhigt sich kein bisschen.

      1Traum

      2Leben. Kurz für: Baum des Lebens

      2

      ZUHAUSE

      witokemakan: jemand, der/die mit der Familie lebt

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       pawatamowin

      Vier Nächte in Folge wiederholt sich der Traum von der Eule. Voller Liebe wacht sie am vierten Morgen auf. Als habe sie sich über Nacht verliebt. Sie fühlt sich umarmt und fragt sich, ob sie einen Traum mit Jesse vergessen hat. Es kommt ihr jedoch irgendwie anders vor, sie hat schließlich schon oft von ihm geträumt und ist dann ganz verliebt aufgewacht. Diesmal fühlt sich die Wärme an, wie ein Zuhause sich in ihrer Vorstellung anfühlen sollte. Irgendjemandes Zuhause zumindest.

      Wenn sie sich an ihre Mutter erinnert, ist Maggie meistens in der Küche. Leichtfüßigkeit, sämige Soße und Schweigen. Traurige Seufzer. Es fällt schwer, sich Maggie als junges Mädchen vorzustellen, das in dem viel zu großen, geerbten Kleid zum Abschlussball geht. (»Das Kleid ist zu alt für dich«, hatte ihr Begleiter gesagt. Bewundernd und vorwurfsvoll zugleich.) Sie ist sehr zierlich, vogelartig, ihre schmalen Knochen hat auch ihre Tochter geerbt, zart angeordnet und schon früh unter immer neuen Fettschichten versteckt. Ihre zierliche Statur wurde dem Raum, den sie einnahm, nie gerecht. Oder eher dem Raum, den ihr Geist einnahm. Zu leben forderte so viel Kraft von ihr und erschöpfte sie sichtlich. Hinzu kamen Kinder, Nichten, Neffen und eine Tochter, und trotz ihrer innigen und reinen Liebe, spürten sie alle die Last. Im Weg zu sein.

      Der Bereich, den sie für sich beansprucht, lässt sich nicht räumlich festlegen, aber Bernice spürte es deutlich, wenn sie an etwas rührte, das ihre Mutter für sich haben wollte. Leere Schokoriegelverpackungen in einer Handtasche, deren köstlicher Inhalt nie zu Hause ankam. Oder noch schlimmer. Aufgefuttert wurde, wenn niemand zugegen war. Bernice kam das vor wie Verrat, dieses Hamstern von Leckereien, die sie niemals zu Gesicht bekommen würde. Niemals probieren würde. Es war wie ein Verleugnen der Mutterrolle, das Bewahren eines Geheimnisses.

      Aus dunklen Winkeln krochen weitere Geheimnisse hervor. In hitzigen Schimpftiraden wurden sie wie Schrot auf jeden bedauerlichen Mann abgefeuert, der gerade in der Nähe trank; Maggie schrie, sie halte es mit »diesen verdammten Kindern« nicht mehr aus. Als sei Bernice gar nicht ihr eigenes Fleisch und Blut. Als wären die Nichten und Neffen nicht mit Maggie verwandt. Nicht ihre Verantwortung. Ihr »diese Kinder« trieb einen Keil zwischen sie. Oder wenn ihre Mom betrunken in Erinnerungen schwelgte und ihr offenbarte, dass sie doch damals bloß ihren Freund aus Jugendjahren hätte heiraten sollen (war es der, der ihr Abschlussballkleid als zu erwachsen empfunden hatte?, fragte sich Bernice), dann wäre sie jetzt ein kleines spanisches Baby. »Aber dann wäre ich doch gar nicht ich, Mom, oder?«, hatte Bernice die stumm vor sich hin brütende Maggie gefragt.

      Das alles fügte sich zu der – so tief wie die Schokoriegelverpackungen in der Handtasche vergrabenen – Erkenntnis, dass Maggie sich etwas Anderes wünschte. Ein Anderes. Ein anderes Leben. Mit weniger Nichten, Neffen und Bernicen um sich. Mit weniger lauten Kindern. Mit einem Kind, das sie nicht eines Abends nach dem Essen dabei erwischte, wie es sich händeweise Kartoffelbrei einverleibte, sodass ihr die abgelegte Kinderkleidung von der Verwandtschaft nicht passte und sie jedes Mal, wenn sie wieder zugenommen hatte, neue Sachen brauchte. Und das geschah häufig.

      Wenn es dieses Andere gäbe, hätte Bernice sie vielleicht nicht allabendlich auf dem Rücken liegend im Bett entdeckt, den Blick starr auf die Zimmerdecke gerichtet, als könne sie diese nicht sehen, von dem Leben träumend, das sie hätte haben können. Vor Bernice’ innerem Auge ziehen wie Schnappschüsse Erinnerungsbilder von wichtigen Momenten vorbei. Glücklicherweise kann sie diese Bilder jederzeit aufrufen. Seitdem sie untergegangen ist, fließt sie mühelos durch Vergangenheit und Gegenwart wie Wasser durch ein Regenrohr. In den Tagen zwischen Edmonton und Gibsons hat sich die Zeit verflüssigt. Bernice hat keine Erinnerung daran – sie kann darauf nicht zurückblicken wie auf ihre Zeit in Little Loon. Nicht wie auf das Leben in der Anstalt. Es ist anders. Die Zeit fließt, aber nicht mit der Eile eines Flusses. Sie driftet dahin wie ein Bächlein, das Bernice mitnimmt, sie kann zurückpaddeln und mit einer anderen Strömung wieder von Neuem beginnen. Gibsons war eine Art Nebenfluss, der von dem tosenden Strom ihrer Vergangenheit abzweigte. Träge lässt sie sich treiben, wird von irgendwelchen Strudeln mitgerissen. Nach Gibsons brachte sie ein sanfter Nebenfluss des reißenden Gewässers, das von Loon nach B.C. rauschte. Sie in Lolas Café schwemmte. Dort paddelte sie auf der Stelle, bis Freda kam und begann, neben ihr in der kleinen Bäckereiwohnung Wache zu halten. Bernice spürte ihre Cousine neben sich, die versuchte, ihr Halt zu geben – eine feste Gestalt aus zierlichen Knochen, die Biegung ihres Rückens neben ihr auf dem Bett. Bernice liegt im Bett, bewegungslos, aber sie bemerkt die sanfte Strömung des Wassers, als sie ihren Weg flussaufwärts antritt. Vorbei an ihrer Vergangenheit. Es fühlt sich friedlich an. Sie weiß, dass sie sich manchmal den Weg flussaufwärts wird erkämpfen müssen. Bislang schwebt sie, fühlt sich frei. Bislang, das weiß sie, reicht es aus, weiterzugleiten, nur nicht unterzutauchen. Bislang bleibt sie im Bett, und keine der um sie versammelten Frauen ahnt etwas von ihrer Reise. Bernice spürt tief in ihrem Inneren, dass sie unterwegs ist. Ob sie sich auf einen Ort zu oder davon wegbewegt, vermag sie nicht zu sagen. Sie weiß nur, dass Wasser weiblich ist. Schützend. Sie fürchtet sich nicht, unterzugehen. Nicht, weil es nicht passieren könnte, sondern weil es ihr lieber wäre als offenes Gelände. Lola hat es natürlich bemerkt. Sie muss Freda angerufen haben. Freda, die nie in Panik gerät, muss Auntie Val verständigt haben. Und jetzt wechseln sich die drei ab, sie sitzen auf, stehen bei oder warten an der Matratze. Sich ins Bett (»ihr


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