Birdie. Tracey Lindberg
vier wacht sie auf und spürt, dass weder Lola noch Skinny Freda da sind. Sie überlegt, ob sie um fünf den Fernseher anschalten sollte, entscheidet sich aber dagegen. Wenn sie sich zu viel bewegt, das weiß sie, werden die anderen sie bald nicht mehr beachten. Freda wäre besonders gewissenhaft unaufmerksam – ihre Gleichgültigkeit in Krisensituationen ist legendär.
Als ihr kein Abendessen gebracht wurde, wusste sie, dass im Café etwas im Gange war. Von draußen sind Gelächter und das Gekreisch ungezügelter Heiterkeit zu hören, und Bernice fragt sich, ob es ein Feiertag ist. Schwer zu sagen, denn der Frugal Gourmet macht keine Themensendungen und wird ohnehin endlos wiederholt, aber der Himmel war hell und hatte nicht mehr diesen Farbstich, diesen matten Bernsteinton wie bei kaltem Wetter.
Zuhause war der Frühling üppiger und freundlicher als hier an der Küste. Man konnte eine andere Sorte Eis unter den Füßen knacken hören und daraus folgern, dass es nicht mehr schneien würde. Oder ein bestimmtes Kaninchen ließ sich kurz blicken, und das bedeutete, dass der Frost vorbei war.
Außerdem wusste man, dass es Frühling wurde, wenn man zum ersten Mal beinahe Fredas Titten sehen konnte, denkt sie und verkneift sich ein Grinsen. Es stimmte zwar, dass mit dem Frühlingsanfang für ihre Cousine eine Zeit der hohen Absätze, kurzen Röcke und tiefen Ausschnitte anbrach, aber es war nicht nett, das zu denken. Oder zu denken, dass es leichter war, einen Blick auf Fredas Arsch zu erhaschen als auf ein gerade erwachtes Murmeltier, Ersteres aber genauso verlässlich den Wechsel der Jahreszeit anzeigte.
Die beiden Cousinen hätten unterschiedlicher kaum sein können. Sie haben, wie Bernice weiß, beide ihre Stärken. Und sind beide auf eine Weise gnadenlos, die Val und Bernice’ Mutter fremd ist. Wenn die vier Frauen eins gemeinsam hatten, dann, dass sie sich nur auf sich verließen. Da sie mitangesehen hatten, wie Väter und Ehemänner aus ihrem Leben verschwanden (mit einer Pulle oder einer Brünetten im Arm), wussten sie aus erster Hand um die Notwendigkeit weiblicher Solidarität. Sie verließen sich ausschließlich auf andere Frauen, und das schloss mit ein, dass sie Probleme auf eine Weise angingen, die von Frau zu Frau weitergereicht wurde, mit weiblichen Methoden. Deshalb konnten sie alle vier, obwohl Freda fest der Hiebe-statt-Liebe-Denkschule angehörte, um der Familie und ihrer Gemeinschaft willen mühelos Geschlossenheit demonstrieren. Eine schäbige Geschlossenheit vielleicht, aber zumindest verlässlich. Auf jeder von ihnen lastete eine übergroße Verantwortung, als bezahlten sie für die Bürde, welche die Männer ihnen vor die Füße fallen ließen, mit einem Verlust an Haltung und an emotionalem Reichtum, der noch nicht zu beziffern war.
Bernice fragt sich, wie lange schon, seit wie vielen Generationen die Frauen die Verantwortung für Kinder, Familie, das Zuhause und die Versorgung tragen. In ihrer Gemeinschaft gingen die Männer weg. Manche in die Stadt. Um zu arbeiten. Oder auch nicht. Manche ins Gefängnis. Zu Recht oder zu Unrecht. Manche gingen einfach nur so, und man hörte jahrelang nichts mehr von ihnen.
Manchmal glaubt Bernice, es war besser so. Als ihr Dad wegging, hat Bernice (in dem Augenblick) nicht geglaubt, dass es so besser war. Immer, wenn sie an ihren Vater denkt, spürt sie einen Kloß im Hals. Kein Vergleich zu dem Schmerz in der Brust, den sie beim Gedanken an ihre Mutter empfindet. Es ist ein Unterschied wie zwischen einem Penny, der in eine Pfütze fällt, und einer Springflut.
»Finger weg, Mädchen, ab fünf Uhr gehört Cola in den Whisky!«, hatte Onkel Louis sie angeschnauzt.
Sie war zusammengeschreckt, und alle Erwachsenen hatten gelacht, als sie die Flasche wieder losließ, einige ganz besonders laut. Wenn sie jetzt davon trank, musste später vielleicht jemand losgehen und Nachschub holen. Sie wusste, dass sie damit durchkommen konnte, eine schlagfertige Antwort zu geben und sich einzuschenken. Wenn sie die Erwachsenen nur zum Lachen brachte, würden sie ihr verzeihen. So dringend wollte sie die Cola dann aber doch nicht.
Ihr Onkel hatte verächtlich geschnauft. »Du solltest eh besser abspecken.«
Sie hatte im Rausgehen noch die Stimme ihrer Mutter gehört. »Also echt, Lou, auf ein Glas kommt es jawohl nicht an«, sagte sie.
»Die ist viel zu empfindlich«, hörte Bernice ihren Onkel murren.
Es tat ihr leid, den Raum verlassen zu haben. Als ihr Blick die Bücherstapel aus der Bibliothek streifte, die auf ihrem Zimmerfußboden lagen (der Teppich war von dieser Sorte, die sich anfühlen soll wie frisches grünes Gras), ging es ihr schon besser. Der Samstag war damals für sie so ziemlich der beste Tag der Woche. Vier Stunden brachte sie in der Bibliothek zu; dreieinhalb Stunden zu viel, wenn man Miss Robbins fragte. Miss Robbins musste mindestens siebzig sein, dachte Bernice. Und sie war fast sicher, dass Miss Robbins – Clara Robbins – rauchte. Sie hatte arthritische Hände und kannte in der Bibliothek von Grande Prairie jeden einzelnen Titel. Ihre gelblichen, fleckigen, pergamentenen Finger sprangen in erschreckender Geschwindigkeit von einem Buchrücken zum nächsten, wenn sie etwas aussuchte, das Bernice lesen konnte. Außerdem war die alte Frau mit den orange geschminkten Lippen – einem Orange, das in freier Natur nicht vorkam – in Bernice’ Erinnerung notorisch misstrauisch.
»Bernice Meetoos, das Buch ist zu erwachsen für dich. Judy Blume ist nichts für zehnjährige Kinder«, sagte sie einmal fast lauernd, gar nicht mit ihrer Bibliothekarinnenstimme, sondern mit einer anderen, einer in-krimi-nierenden Stimme, wie Bernice fand. Sie wusste nicht genau, was das hieß, aber es klang, als würde man etwas Kriminelles in jemanden reintun. Sie hatte das Wort im New Yorker gelesen (was Miss Robbins ein lauteres missbilligendes Schnalzen entlockt hatte als je zuvor). Bernice hatte sich zusammengereimt, dass Miss Robbins nun einmal dazu neigte, in die Vorlieben von Zehnjährigen etwas Kriminelles hineinzulegen.
Bernice’ Momma war der Ansicht, Bernice dürfe lesen, was sie wollte. Oder zumindest durfte sie mit nach Hause bringen, was sie wollte. Bernice ging davon aus, dass ihre Mutter das so hielt, weil sie am allerbesten beurteilen konnte, was Bernice lesen sollte, fast so gut wie Bernice selbst. Daran erinnerte sie Miss Robbins zum sechzehntausendsten Mal.
Miss Clara Robbins schnalzte mit der Zunge und sagte: »Die Mutter will ich ja mal sehen.«
Das klang in Bernice’ Ohren, als ob sie nicht einmal glaubte, dass Bernice eine Mutter hatte.
Sobald Miss Robbins ihr den breiten Bibliothekarinnenhintern zuwandte, streckte Bernice ihr die Zunge raus und machte sich, so beeindruckt sie auch von der Breite dieses Hinterns sein mochte, wieder auf die Suche nach dem perfekten Buch.
In dem perfekten Buch, fand Bernice, müsste es ein sauberes Haus geben, und in jedem freien Behältnis wären Blumen. Es gäbe keine Brandlöcher in grellbunten Teppichböden, keine leeren Flaschen, keine halbleeren oder ausgekippten Gläser auf dem Fußboden nach dem Wochenende und keinen ungebetenen Besuch von Freunden der Eltern. Niemand würde sie in ihrem Zimmer unter der Treppe behelligen, und sie würde nicht davon aufwachen, dass jemand die Stufen hochdonnerte (wenn es Streit gab) oder herunterpolterte (wenn jemand stürzte). Es gäbe nur strahlend glückliche Bewohner, die einander lächelnd in die Arme nahmen. Nie würden sie aufeinander rumhacken oder sich übereinander lustig machen, um andere zum Lachen zu bringen.
Sie würden in Disneyland Urlaub machen und als Familie zusammen spazieren gehen und gemeinsam essen und einander dabei Fragen stellen, deren Antworten sie brennend interessierten. Es gäbe auch eine etwas mollige, sehr schlaue und beliebte Tochter. Diese Tochter, die zufällig genauso alt wäre wie Bernice, würde Kleidung aus einem richtigen Laden tragen, sich die Haare in einem Salon schneiden lassen (dieses Wort liebte Bernice, und sie liebte auch »schwülstig«, »Nomenklatur« und »Konglomerat«) und bräuchte keine Bücher aus der Bibliothek auszuleihen, sie hätte nämlich ihre eigene Bibliothek. Guten Freunden würde sie manchmal Bücher leihen, aber Fremden niemals, und ihre Lieblingsbücher würde sie auch niemandem geben. Sie könnte Bücher lesen, so viel sie wollte, und müsste nie damit aufhören, weil Makramee-Kurs war oder weil Verwandte zu Besuch kamen – oder weil sie sich fragte, was da oben los war, wenn jemand auf den Boden krachte oder die Treppe herunterfiel.
Da sie das perfekte Buch nie fand, musste sie sich mit Geschichten über perfekt wirkende Familien zufriedengeben.
Ein