Birdie. Tracey Lindberg
unter der Treppe. Sie tippte leise mit dem Zeh gegen die Tür (was sie vom Bett aus schaffte; sie hatte dieses Manöver schon vor Jahren perfektioniert), um sie zu schließen, ohne dass es jemand bemerkte. Dann überlegte sie es sich anders, öffnete die Tür wieder und knallte sie zu, gerade laut genug, dass die anderen es hörten. Darunter schien das letzte wintrige Tageslicht hindurch, ein kleiner Spalt nur und eine Erinnerung daran, dass in perfekten Familien niemand mit den Türen knallen musste, um anderen zu sagen, dass sie heimgehen sollten.
Dem Türenknallen folgte verwaschenes weibliches Gelächter.
»Das war laut und deutlich, Kiddo!«, rief Terry, die Freundin ihrer Mom. Bernice’ Mom hielt sie zumindest für ihre Freundin, aber Bernice kannte ein Geheimnis. Terry wollte nämlich was von ihrem Dad. Eines Nachts, als sie sich ein Glas Wasser holte, sah sie, wie sich Terry in der Küche an ihrem Vater rieb. Ihr Dad atmete dabei so komisch. Daraus schloss sie, dass es ihn nicht besonders störte. Sie setzte sich auf einen Küchenstuhl und wartete stur, bis die beiden sie bemerkten. Terry lächelte und kam auf sie zugelaufen. »Was ist denn los, Süße, hast du schlecht geträumt?« Sie beugte sich über Bernice und strich ihr das Haar aus der Stirn.
Bernice wurde von Terrys Alkohol- und Zigarettenatem schwindlig. Sie schielte zu ihrem Dad hinüber und sagte sehr betont zu Terry: »Deine Bluse ist offen.«
Dann stand sie auf und ging, während ihr Vater Terry auslachte, die hastig ihre Kleidung in Ordnung brachte.
»So ein Miststück«, hörte Bernice Terry zu ihrem Dad sagen, als sie ihr Ohr an die Tür presste.
»Sie ist’n schlaues kleines Halfbreed«, antwortete er stolz, und obwohl Bernice lauschte, bis sie erschöpft einschlief, hörte sie aus der Küche keine weiteren Geräusche.
Das Wort »Halfbreed« gefiel ihr überhaupt nicht (wobei sie erst Jahre später richtig erfasste, was es bedeutete, so genannt zu werden). Vielleicht lag es daran, dass sie bei »breed« an »die intimste aller Begegnungen« denken musste. Bernice hatte im Frühsommer mit einem Harlequin-Romance-Heftchenroman begonnen, und darin wurde es so bezeichnet. Ihr Onkel Larry hatte es nicht so mit Intimität und nannte es »rammeln«. Das Wort mochte sie auch nicht. Es erinnerte sie an Kaninchen und daran, dass man ihnen das Fell über die Ohren zog. Bei der Vorstellung, wie Fett und Fleisch aufeinander klatschten, wurde ihr übel. Sie hatte einen empfindlichen Magen, und wenn sie nicht aufpasste, woran sie dachte, musste sie kotzen. Ein paarmal hatte sie das ausgenutzt, um aus der Schule wegzukommen, bis ihre Momma es durchschaute.
Sie ging aber sowieso nicht oft in die Schule. Manchmal hatte ihre Mutter eine dieser Kopfschmerzattacken, dann blieb Bernice zu Hause und verhielt sich leise. Wenn Maggie aufwachte, meist erst gegen elf oder zwölf, legte Bernice sich ins Bett und las, bis jemand sie bemerkte. Manchmal stellte sie sich auch krank, und es schien niemanden groß zu interessieren. Bernice fehlte öfter als alle anderen und hatte trotzdem ein ganz ordentliches Zeugnis. Ein paarmal war sie tatsächlich krank gewesen, und ihre Mutter hatte sie getröstet und versucht, ihre Leiden zu lindern, indem sie ihr ein Glas Ginger Ale gab, bei dem sie die Kohlensäure herausgerührt hatte, oder einen Tee mit viel Milch. Einmal allerdings hatte Bernice über Bauchschmerzen geklagt, und ihre Mom hatte ihr ein kleines Stück Seife in den Po geschoben. Daraufhin hatte sie sich das mit den Krankheiten und Ausreden gründlich überlegt.
Die Haustür ging auf und ließ die frostkalte Luft herein, Bernice merkte es sogar in ihrem Zimmer. Kurz darauf wurde es still im Haus, und bis auf die schweren Schritte ihrer Mutter (ein Geräusch, das zum Saubermachen nach einer Party fest dazugehörte) war nichts mehr zu hören. Ihre Anspannung löste sich ein wenig, und sie machte die Atemübungen, die ihr die Ärztin empfohlen hatte, damit sie besser Luft bekam, wenn das Asthma ihr zu schaffen machte. Es hing immer noch zu viel Rauch in der Luft, und vom tiefen Atmen wurde das Schwindelgefühl stärker. Trotzdem gefiel ihr das Haus gleich besser, wenn sie mit ihrer Mutter dort allein war. Freda war noch bei Kohkom; dort verbrachte sie inzwischen die meiste Zeit und würde erst am Montag wiederkommen.
Ihre Mom steckte den Kopf in den Raum unter der Treppe, ohne anzuklopfen. »Willst du jetzt eine Cola, mein Mädchen?«
Bernice folgte ihrer Mom in die Küche, die wieder erstaunlich ordentlich war, und schenkte sich ein Glas ein. Sie setzten sich zusammen an den Tisch, das war eins ihrer Rituale, und Bernice schaute ihrer Momma beim Zigarettendrehen zu. Manchmal wachte sie nachts auf und hörte das Tipp-Tipp-Tippen auf dem Tisch, wenn ihre Mom dafür sorgte, dass der Tabak bis zum Filter herunterrutschte. Dann saß sie nur da, stundenlang manchmal, und rauchte und starrte die Wand an. Ihr Schweigen ängstigte Bernice, die darauf angewiesen war, dass andere die Stille in ihr übertönten.
Trotz des Rauchs und des Bierdunstes roch ihre Mom nach Zwiebeln und frisch gebackenem Brot. Es war ein angenehmer Geruch, ein Zuhausegeruch, der an Tagen wie heute den ganzen Raum erfüllte, wenn ihre Mutter Brot, Bannockbrot und Brötchen für die Familie backte und einfror.
»Na, was treibst du da wieder in deiner Höhle?« Sie wies mit den Lippen in Richtung von Bernice’ Zimmer und erwartete die Antwort ihrer Tochter.
»Ich hab’ ein neues Buch angefangen.«
»Schon wieder? Meine Güte, wo lässt du bloß die vielen Wörter, Birdie?«
Ihre Mutter schaute sie ernst und nachdenklich an. Bernice, die es gewohnt war, sich jeder Aufmerksamkeit zu entziehen, wandte den Blick ab. »Du wirst die Erste von uns sein, die einen Schulabschluss bekommt. Um dich muss ich mir nie Sorgen machen, und ich weiß immer: Egal, was kommt, Bernice wird damit fertig. – Du siehst deiner Tante so ähnlich. Du kannst echt froh sein, dass du ihren Grips und ihr Aussehen hast«, fuhr ihre Mom fort. »Und ein Glück, dass du nicht ihre …« Maggie Meetoos zögerte. »Nicht die ganze Packung geerbt hast.« Sie lachte.
Bernice zuckte zusammen und hielt sich unwillkürlich die Hand vor den Mund. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Mutter sie hübsch fand. Für sie war immer Freda die Schönheit gewesen, die jedem auffiel. Außerdem fragte sie sich, was Auntie Vals ganze Packung war. Es klang nicht unbedingt nach etwas Gutem.
»Wusstest du, dass deine Tante früher auch ein Bücherwurm war?«, fragte ihre Mom.
Zwei Geheimnisse. Zwei Dinge, die sie bisher nicht wusste. Bernice wurde klar, dass ihre Mom getrunken hatte. Maggie hortete Geheimnisse, wie andere Konserven: gut versiegelt an einem dunklen Ort, bis man sie brauchte. Wenn ihre Mom betrunken war, versuchte Bernice ihre Angst und ihre Neugier im Gleichgewicht zu halten. Und Angst hatte sie zwar immer, einen Knoten im Magen und eine Anspannung im Rücken, aber es war wie in der Schwitzhütte: Die Leute waren kaum zu erkennen, aber man wartete gespannt, was sie als Nächstes von sich gaben. Das Problem war nur, dass Bernice immer nervöser wurde, je mehr ihre Mutter sich entspannte. Bei den seltenen Gelegenheiten – mit den Jahren weniger selten –, wenn ihre Mutter sich maßlos betrank, versteckte sich Bernice im Keller und las im Licht einer schulterhohen Lampe neben dem Trockner. Den Trockner schaltete sie an, um sich daran zu wärmen und um den Lärm der Erwachsenen über ihr auszublenden. Weißes Rauschen, das das braune Rauschen schluckte.
»Als du klein warst, iskwesis«, sagte ihre Mutter, »hat Auntie Val dich immer an sich gedrückt und zu mir gesagt, du wärst ihre Tochter.«
Maggie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, als wäre ihr vom Alkohol unwohl in ihrer Haut. »Das hatte ich noch nie erlebt, dass sich jemand so sehr in ein Kind verliebt, das nicht das eigene ist.«
Zu Bernice’ Erstaunen hatten sich die Augen ihrer Mutter mit Tränen gefüllt.
»Sie ist deine kee kuh wee sis, deine kleine Mutter.«
Drei Geheimnisse. Drei. Bernice hatte noch eine Mutter.
»Als Valene dann …« – Maggie suchte im Gesicht ihrer Tochter nach Anzeichen, was das kluge Mädchen bereits wusste – »weggegangen ist, weg von hier, da hat sie nie angerufen oder so. Ist einfach weg. Sie war sauer auf uns und wahnsinnig wütend auf die Welt. Als sie wiederkam, war sie nicht mehr dieselbe.«
Sie bemerkte den besorgten Blick ihrer Tochter und fügte hinzu: »Sie liebt dich immer noch genauso, Birdie, sie hat nur den Teil von sich verloren,