Unerhörte Nachrichten. Christian Müller Lorenz

Unerhörte Nachrichten - Christian Müller Lorenz


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möglicherweise ist sie auch nur auf einen Randstein gefallen.“ Prähausner bemühte sich um einen nüchternen Ton. Was war nun zu tun? Sollte er die Polizei benachrichtigen, das Rote Kreuz oder die Diakonie?

      Die junge Frau saß jetzt mit hängendem Kopf am Boden, ihr Haar filzte schwarz vor ihrem Gesicht. Die vollkommen überlasteten karitativen Organisationen würden gerade gar keine Freude mit einem Anruf haben.

      Frau Hirscher beugte sich vor und tippte der Fremden auf die Schulter, bis diese fragend aufschaute. „Ziehen Sie sich erst mal an! Anziehen!“, rief die Nachbarin des Redakteurs bestimmend laut. Sie brauchte nur auf die Jeans zu deuten, damit die junge Frau begriff. Langsam stand sie auf und zog dabei die Decke zwischen sich und den Journalisten. Er nahm ihr den muffig riechenden Stoff aus der Hand, dann spannte er ihn als Vorhang vor die Szene. Zwei weiß bekittelte Verkäuferinnen lehnten jetzt in der Eingangstüre des Supermarkts, sie ziehen eine Gardine aus Zigarettenqualm vor ihre Gesichter, eine Gardine, hinter der sie sich mit glotziger Selbstverständlichkeit verbergen können, mit Augen, die alles gierig inhalieren. Sie sind süchtig nach solchen Sensationen, sie werden nervös, wenn sie für ein, zwei Stunden nicht vor die Türe können, genauso süchtig nach Aufregung sind sie wie ihre Kundinnen und Kunden aus der Siedlung, die nichts lieber tun, als in der Redaktion der Grätzelnachrichten anzurufen, wenn sie irgendwo einen umgekippten Mülleimer oder eine angekratzte Zaunlatte entdeckt haben, „Missstände“, sagen sie dann, „berichten Sie über diese Missstände, diese unhaltbaren Zustände, das ist Ihre Aufgabe, Herr Prähausner. Wenn Sie es nicht tun, dann lese ich Ihr Blatt nicht mehr!“

      Es dauerte nicht lange, bis die Fremde in Hosen vor dem Journalisten und Frau Hirscher stand, in Hosen, aber wo waren ihre Schuhe? Sogleich nahm sie die Decke wieder aus Prähausners Hand. Wohlgefallen fältelte sich rund um Frau Hirschers Mund, als sie sie sorgfältig zusammenlegte. „Gut erzogen, das Mädchen! Und jetzt bedankt es sich sogar!“ Die junge Frau hielt die Decke in der linken Hand, die rechte legte sie sich auf die Herzgegend und verneigte sich leicht vor ihren Helfern, bevor sie das Tuch vom Boden aufhob. Die Bewegungen glucksten durch ihre Glieder, flossen für einen Augenblick als Dankbarkeit durch ihr Gesicht. Dann zeigte sie auf sich selbst, um gleich darauf die freie Hand auf ihren Bauch zu pressen.

      „Hat sie Hunger?“, fragte der Journalist.

      „Aber nein! Hören Sie denn nicht ihr drängendes Brummen? Sehen Sie nicht, wie sie ihr Gesicht verzieht?“, korrigierte Frau Hirscher. „Ihre Hand liegt nicht auf ihrem Magen, sondern weiter unten. Sie muss dringend auf die Toilette. Sehr anständig! Es fällt ihr nicht ein, einfach hinter den nächsten Busch zu machen!“ Prähausners Nachbarin presste sich nun ihrerseits eine Hand auf den Unterleib und deutete dann in Richtung Siedlung. „Toilette!“, sagte sie langsam und deutlich. „Kommen Sie mit! Ich wohne dort.“

      Die junge Frau schien zu verstehen. Nickend zeigte sie auf die nahen Wohnblocks.

      Frau Hirscher nahm ihren Einkaufskorb wieder auf. „Sie braucht etwas zum Anziehen. Einen Pullover und Schuhe. Vielleicht passen ihr ja Sachen von Ihrer Tochter?“

      „Ja, da wird sich schon etwas finden“, antwortete er. Franzis Kleiderschrank war übervoll. Auch an Schuhen wird es nicht fehlen. Schon seit Monaten stehen zwei Paar Sneakers, von denen sie sich nicht und nicht zu trennen vermag, in ihrem Zimmer. Sie läuft ständig mit zu kleinen Schuhen herum, weil sie sich unter keinen Umständen die schrecklichen fünf bis sechs Millimeter, um die ihre Füße pro Halbjahr wachsen, eingestehen will. Traumatische Erfahrung: Der Verkäufer im Schuhladen, der ihr Sandalen in Größe 39 bringt, Größe 39 mit dreizehn Jahren! Tagelanges tiefes Entsetzen über die Vorstellung, die Füße könnten nicht mit dem Wachsen aufhören und Spezialanfertigungen nötig machen, Größe 45 mit fünfzehn, Größe 52 mit siebzehn Jahren; der Ausschluss aus der Gemeinschaft der Teenager ist dann nur noch mit einer Operation, die allein ein teurer japanischer Spezialist für Lilienfüße durchführen kann, rückgängig zu machen.

      „Gut. Gehen wir. Vergessen Sie Ihren Rucksack und Ihren Käse nicht, Herr Prähausner!“

      Die Blicke der Fremden glitten schnell zwischen Frau Hirscher und dem Redakteur hin und her, bevor sie von seiner Nachbarin an der Hand genommen und in Richtung Siedlung gezogen wurde.

      3

      Franzi: Hi Pap.

      Prähausner: Hallo Franzi. Na, wie geht’s deinem Näschen?

      Franzi: Brennt ein bisschen. Aber das halt ich schon aus. Mam geht’s schlechter als mir. Sie hat kein Wort mit mir geredet, seit sie nach Hause gekommen ist.

      Prähausner: Tja, du weißt ja, dass bei ihr immer alles genau an der richtigen Stelle sein muss. Sogar der Schmuck.

      Franzi: Ich kann selbst entscheiden, ob ich mir Löcher in die Nase zwicken lasse oder nicht. Ich bin alt genug dafür.

      Prähausner: Wegen ein paar Nasenringen geht die Welt nicht unter – außer für deine Mutter natürlich. Franzi, ich stehe gerade vor deinem Kleiderkasten, weil ich für jemanden einen Pullover brauche.

      Franzi: Einen Pullover? Für wen?

      Prähausner: Für eine Frau. Sie hat nichts zum Anziehen. Sie ist vor unserem Supermarkt gelegen. Sie spricht kein Wort und hat kein Gepäck. Vielleicht kommt sie ja vom Bahnhof. Frau Hirscher hat sie zum Pinkeln mit in ihre Wohnung genommen. Wir haben überlegt, ob wir sie nicht für heute Nacht in deinem Zimmer …

      Franzi: Wow, das ist lässig von dir, Paps! Klar kann sie in meinem Zimmer schlafen. Sie soll sich einen Pullover aussuchen. Was hat sie für eine Figur? Passen ihr meine Pullover überhaupt?

      Prähausner: Die größten vielleicht.

      Franzi: Dann nimm den roten Wollpulli. Der ist schön weich und dehnt sich gut.

      Prähausner: Frau Hirscher kocht gerade Gulasch für die Frau. Gehört in ein Gulasch eigentlich Schweinefleisch? Vielleicht ist sie ja Muslimin.

      Franzi: Sie wird dir schon klarmachen, ob sie Fleisch isst oder nicht. Was machst du morgen mit ihr? Nimmst du sie mit in die Redaktion?

      Prähausner: Da habe ich noch nicht darüber nachgedacht. Bestimmt geht es ihr morgen wieder besser. Vielleicht geht sie zurück zum Bahnhof.

      Franzi: Glaube ich nicht. Die sind tagelang an irgendwelchen Gleisen entlanggewandert. Die müssen sich erst mal ausruhen. Vielleicht ist bei der Überfahrt ihr Kind aus dem Schlauchboot gefallen und ertrunken, und deswegen hat es ihr die Sprache verschlagen. Weißt du was, ich komme morgen Abend zu dir und bringe ihr Sachen von Mama.

      Prähausner: Untersteh dich! Du bist unter der Woche bei deiner Mutter, so ist es ausgemacht.

      Franzi: Beruhig dich, Paps! Ich bin fast erwachsen. Ich kann selber sagen, wohin ich will. Das hat sogar der Richter gesagt.

      Prähausner: Schon. Aber wenn du einfach zu mir kommst, dann wird deine Mutter …

      Prähausner: Gar nichts wird sie! Ich nehme einfach das Zeug, das Mama zu klein geworden ist. Seit sie mit dem Günther zusammen ist, ringelt sich das Fett um ihre Hüften. Aber mit dem Günther ist zum Glück eh aus.

      Prähausner: Mit dem Günther ist es aus?

      Franzi: Ja, seit vorgestern. Ich bin so was von froh, dass Mama sich endlich entschieden hat. Kaum ist Günther da, holt er schon die Yogamatte aus der Ecke. Er zündet eines von diesen stinkenden Räucherstäbchen an, hockt sich auf den Boden und sagt Namaste. Kann er nicht einfach Hallo sagen?

      Prähausner: Lassen wir das mit Günther. Die Frau braucht auch Unterwäsche. Sie ist gerade bei Frau Hirscher im Bad.

      Franzi: Gib ihr eines von meinen Schlafleibchen, die sind lang und weit. Hat sie einen dicken Hintern?

      Prähausner: Nein. Aber ganz so schmal wie du ist sie auch nicht.

      Franzi: Dann gib ihr einen String-Tanga,


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