Unerhörte Nachrichten. Christian Müller Lorenz

Unerhörte Nachrichten - Christian Müller Lorenz


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lobte den Appetit der jungen Frau, die sich zurückgelehnt hatte, das selige Lächeln einer wahrhaft Satten im Gesicht.

      Prähausner räusperte sich, es war ihm danach, so etwas wie eine Konversation nach Tisch zu beginnen. Gab es unter Schwerhörigen, unter Gehörlosen vielleicht ein besonderes Zeichen für derartige Gelegenheiten, ein visuelles Räuspern sozusagen? Während der Journalist noch überlegte, kam von der jungen Frau ein langes Gähnen, ein so hingebungsvoll lautes Gähnen, dass ihr Frau Hirscher sofort mit dem Finger drohte: „Das ist keine Art! Halten Sie sich wenigstens die Hand vor den Mund!“ Gleich demonstrierte Prähausners Nachbarin das richtige Benehmen, ohne Reaktion von Seiten der Fremden allerdings. Ihr Körper verstummte gerade, ihre Hände liegen auf dem Tisch und machen kein Geräusch mehr. Das Gesicht wird still, nur ihre Zungenspitze streicht noch für einen Augenblick über die Oberlippe, über den Amorbogen. Dann legt sie den Kopf etwas zurück, ihre Augen schließen sich, und nun ist kein Laut mehr, es ist etwas Schalldichtes um sie, um mich, ich stecke meinen Kopf in einen Kubus mit schmutzigweißen Bordwänden, zerkratzt und zerschunden von zahllosen Lasten. Einige Zurrgurte am Boden, und in einer Ecke ein Haufen zerwühlter Herrenmäntel, einige davon mit Krägen aus Kunststoffpelz. Direkt neben mir steht Hubert, er öffnet den Mund, ohne etwas zu sagen, er meint später, dass ich minutenlang in den Lastwagen gestarrt habe, ohne mich zu rühren, dass ich durch seine Fuchtelhand hindurchgesehen, dass ich erst reagiert habe, als er heftig an meinem Pferdeschwanz gezogen hat, und ich erinnere mich tatsächlich an eine Art von Klingelschmerz in der Kopfhaut, an ein heftiges haptisches Schrillen, das mich alarmiert herumfahren lässt, ich erinnere mich, wie ich hineinlaufe in den Wald, ohne auf Hubert zu hören, der hinter mir ist. Ich renne in immer größer werdenden Kreisen um die Lastwägen herum durch den schmutzig getretenen Schnee, da sind die Fichten rund um die morastige Senke und da ist der Wind, der kalt den Hang herunterzieht.

      „Sie muss ins Bett.“ Frau Hirschers Stimme kam aus weiter Ferne, aus dem weiß gestrichenen Technikerraum eines Aufnahmestudios, vor dessen Mikrofonen sich Prähausner sitzen sah, sitzen, ohne zu wissen, wie er es sagen, wie er beginnen sollte.

      Er merkte, dass ihm der Schweiß auf der Stirne stand. Das pfefferscharfe Gulasch hatte seine Zunge in einen brennenden Lappen verwandelt. Dieser Lappen schmerzte, als er sagte: „Wäre es nicht besser, wenn die Frau doch oben in Ihrer Garçonnière schlafen würde? Ich weiß nicht, ob sie sich wirklich wohlfühlt, wenn sie hier ganz alleine mit mir …“

      „Das ist ihr durchaus zuzumuten“, bestimmte Frau Hirscher. „Meine Wohnung ist klein und hier hat sie ein eigenes Zimmer.“ Sie stand entschlossen auf. „Sie können mich ja anrufen, wenn es Probleme geben sollte. Gute Nacht!“

      4

      „Morgen. Hast du’s schon gehört?“ Annabel stand mit dem Redaktionstelefon in der Hand vor ihrem Schreibtisch. „Ich habe gerade mit unserem Gebirgsjäger geredet. Ich wollte ihn hinschicken, aber er hat einen Termin auf der Uni. Bald ist Semesteranfang.“

      „Was? Wen? Wen wolltest du schicken?“ Prähausner, der eine Stunde später dran war als gewöhnlich, stellte den Rucksack neben seinen Schreibtisch und zog die Jacke aus.

      „Na, wen wohl. Johannes.“ Sie steckte das Telefon zurück in die Ladestation und strich sich ihr lockiges Brünett mehrmals mit der Hand zurück, wie immer, wenn sie aufgeregt war.

      „Ach so, den Gebirgsjäger. Was ist passiert? Ist jemand abgestürzt oder so?“ Prähausner setzte sich und schaltete seinen Computer ein. Das gewohnte Summen erst gab ihm das Gefühl, im Büro angekommen zu sein.

      „Sag bloß, du hast es noch nicht mitgekriegt? Vor zwei Stunden ist es das erste Mal gemeldet worden. Überall!“ Annabel lachte ungläubig. Sie setzte sich in gewohnt rundrückiger Haltung wieder an ihren Schreibtisch, der so nahe an Prähausners Arbeitsplatz herangeschoben worden war, dass sich die Längsseiten der Tischplatten berührt hätten, wenn nicht die Bildschirmkabel dazwischen hindurchgeführt worden wären.

      „Nein, habe ich nicht. Ich habe noch keine Zeit gehabt, die Nachrichten zu scrollen.“

      „Mal wieder Hertha“, stellte Annabel trocken fest. „Vier, fünf Jahre noch, dann hast du sie endlich los. Dann ist Franzi erwachsen.“

      „Ja“, sagte Prähausner, der von den Ereignissen der Nacht noch halb benommen war. Selbst die wichtigste Mahlzeit des Tages, sein Frühstück, hatte er ausfallen lassen.

      „Verkehrskollaps an der Grenze!“, rief Annabel. „Die Flüchtlinge belagern den Grenzübergang bei Freileichtheim. Es sollen schon mehr als vierhundert dort sein! Sie weigern sich, weiter in der Tiefgarage zu übernachten. Alle wollen vom Bahnhof zur Grenze. Die Polizei holt immer wieder welche von den Gleisen. Sie sind kaum zu stoppen.“

      „Oje. Auch das noch“, stöhnte Prähausner. Er stützte seinen Kopf mit der rechten Hand und massierte sich mit dem Daumen kurz die Schläfe.

      „Sag mal, was ist denn los mit dir?“ Annabel stand wieder auf, umrundete ihren Schreibtisch und beugte sich, echte Besorgnis im Gesicht, zu mir herunter. Ach, ich habe großes Glück mit meiner Kollegin. Sie beträufelt beinahe täglich die Zimmerpflanzen, die vor dem einzigen Fenster dschungeln, mit Wasser, sie gibt mir das schöne Gefühl, nicht in einem viel zu kleinen Büro, sondern im Urwald zu arbeiten, einem Urwald voller exotischer Gerüche, denn sie hat auch eine Schale für Duftöle aufgestellt, Bromelienauszug, Epiphytenöl, Papayaessenz, jeden Tag fragt sie mich danach, welches Aroma ich mir heute wünsche, und immer überlasse ich am Ende die Auswahl ihr. Ich nicke höflich, wenn sie sich eines ihrer Fläschchen vor die Augen hält und mir vorliest, welche Wirkung der Duft haben soll, entspannend, belebend, ausgleichend, euphorisierend; mir ist es gleich, aber ich schaue ihr immer zu, wenn sie ihre Schale beträufelt, und dann rieche ich den ganzen Tag doch nichts anderes als die Arbeit, nichts als das viele Papier, das sich hinter mir in den billigen Stellagen stapelt, Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, und, in schlecht verschlossenen Kartons, die Neuesten Grätzelnachrichten der letzten drei Jahre. Alle anderen Ausgaben, die ich verantwortet habe, setzen bei mir zu Hause im Keller Schimmel an, der Schimmel hüllt all die ehemaligen Neuigkeiten in seinen weißen Flaum, er flauscht sich zwischen die Seiten, streut seine Sporen auf die Fotos, auf die Köpfe der Politiker, Sportler, Künstler.

      Jetzt erzähle ich Annabel von der Fremden, ich erzähle ihr nichts von ihrem Amorbogen und schon gar nichts von ihrem sauren Waldgeruch, sondern davon, wie die schläfrige Stille aus ihren Gliedern weicht, als ihr klar wird, dass Frau Hirscher die Wohnung verlassen hat, ich erzähle Annabel, dass die junge Frau von ihrem Sessel hochfährt und mir mit ihren Händen, ihren Armen ein einziges lautes Nein! entgegenschreit. Ich verstehe sie, ich verstehe alles, und doch kann ich ihr keine Antwort geben, vollkommene Sprachlosigkeit im Gesicht, in den Gliedern, stehe ich da und sehe sie aus dem Zimmer, aus der Wohnung rennen, und ich verschweige Annabel, dass ich mich für fünf, für zehn Minuten nicht vom Fleck bewege, dass ich der Fremden nur in Gedanken nachrenne zum Bahnhof, wo sie ihre Familie wiedertrifft oder Leute aus ihrer Stadt, Gehörlose, denen sie endlich alles mitteilen kann. Ich berichte meiner Kollegin nicht, dass ich mich erst danach dazu zwinge, hinaufzugehen in den dritten Stock und bei Frau Hirscher anzuläuten, ich berichte, dass das offene Haar der Nachbarin spinnwebgrau um ihren Kopf steht, als sie öffnet, dass sie sich aber trotzdem, noch im Bademantel, sofort auf die Suche nach der Fremden macht. Dass sie sie nur wenige Minuten später findet, weil sie nicht zum Bahnhof oder in den Park gelaufen ist, sondern schluchzend auf dem Rasen vor dem Wohnblock sitzt, die Hände verzweifelt auf das Gesicht geschlagen. Ich berichte, wie es Frau Hirscher nach längerem freundlichem Zureden gelingt, die junge Frau wieder zurück ins Haus zu führen, zurück in meine Wohnung, wo sie sich nach und nach beruhigt, als die Nachbarin Bettzeug aus ihrer Garçonnière holt, auf der Couch im Wohnzimmer ausbreitet und sich dort niederlegt.

      „Warum hat der Gebirgsjäger keine Zeit?“, fragte Prähausner plötzlich. Er merkte, dass er auf den Bildschirm starrte, ohne etwas zu sehen. Kurz rieb er sich mit der Hand über die geschlossenen Augen und blickte dann noch einmal hin. Auf einem Foto konnte er die Brücke bei Freileichtheim, vor der sich zahllose Menschen drängten, erkennen. Flüchtlinge belagern Grenze stand unter dem


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