Unerhörte Nachrichten. Christian Müller Lorenz

Unerhörte Nachrichten - Christian Müller Lorenz


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gerade keine Zeit? Seine kleine Kolumne Aus Wald und Fels machte er wirklich gut.

      „Krass!“ Annabel staunte ihn kopfschüttelnd an.

      Manchmal, wenn sie solche Wörter benutzte, hatte Prähausner das Gefühl, mit Franzi im Büro zu sein. Dabei war seine Kollegin schon Mitte dreißig. „Wieso heißt die Gebirgsjägerkolumne eigentlich Aus Wald und Fels? Wer hat sich so einen Blödsinn ausgedacht?“

      „Die Kolumne? Wie kommst du denn gerade jetzt da drauf? Johannes wollte das so. Er findet, dass die Leute progressive Texte eher lesen, wenn sie konservative Überschriften haben.“

      „Ah ja, ich erinnere mich. Du hast die Überschrift durchgesetzt, nachdem du mit Johannes wandern warst.“

      Annabel kehrte schnell hinter ihren Schreibtisch zurück. An ihrem irritierten Gesichtsausdruck merkte Prähausner, dass er sich im Ton vergriffen hatte. „Bitte entschuldige. Das alles hat mich ziemlich … ich habe kaum ein Auge zugekriegt. Außerdem brummt mir der Kopf.“

      „Schon gut. Soll ich nach Freileichtheim? Die Besprechung für die nächste Print-Ausgabe fällt ja wohl aus.“

      „Gute Idee. Fahr gleich hinaus. Ich rufe Hubert und Johannes an, damit wir wissen, wer was übernimmt. Vielleicht machen wir zwei Interviews an der Grenze. Eines mit einem Flüchtling und eines mit einem Caritas-Mitarbeiter. Sind die Hilfsorganisationen schon vor Ort?“

      „Nein.“ Annabel hatte bereits ihre Jeansjacke vom Kleiderständer genommen. „Freiwillige schenken Tee aus und schmieren Butterbrote. Das ist bis jetzt alles.“

      „Gut. Ruf mich an, wenn du dort bist.“ Er schaute ihr nach, als sie, das Täschchen mit Aufnahmegerät und Kamera in der Hand, aus dem Redaktionszimmer lief und dachte daran wie sie vor fast vier Jahren bei den Grätzelnachrichten angefangen hat, eine schlanke junge Frau, die ich sofort um ihre Neugier beneidet habe, um ihren ehrlichen Willen, alles gut zu machen, und um ihre Angewohnheit, nach zwei, drei Stunden eifriger Arbeit zu einem groben Holzkamm zu greifen, um vergeblich Ordnung in ihr Haar zu bringen, in diese Anarchie aus Locken und Löckchen, Kringeln und Krauseln, Zotteln und Zwirbeln. Wo sie den Kamm voll energischer Ungeduld durch ihre Mähne zieht, fahre ich vorsichtig damit in den Nacken, um nicht allzu viele Haare zu verlieren, um am Hinterkopf nicht noch lichter zu werden, als ich es ohnehin schon bin. Wenn ich mich um dieses Blatt bemühe, dann nur wegen Annabel, wegen ihrer Haare, die sie weiterhin kämmen soll, sie kämmt sich ihre Haare, während ich mir die meinen raufe, es ist lächerlich, ganz einfach lächerlich, was zurzeit an Anzeigen hereinkommt, jetzt geht es um unsere Existenz, um eine Zeitung, die längst keiner mehr braucht, am allerwenigsten ich selbst. Finanziell wäre es viel vernünftiger, die Nachrichten einzustellen und irgendwo anzuheuern, vielleicht, um Online-Content zu produzieren, aber nein, dazu bin ich zu alt, zu langsam und zu technikfeindlich, es wäre also am besten, das Arbeitsmarktservice aufzusuchen, ach Unsinn, das Arbeitsmarktservice wäre dann für Annabel zuständig, Hubert und mir bliebe als Selbständigen nur noch die Mindestsicherung. Ich müsste Franzi eingestehen, dass ich gescheitert bin, Franzi, die die Neuigkeit brühwarm zu Hertha tragen wird, eine wunderbare Gelegenheit für meine Ex, unserer Tochter zu beweisen, dass sie es schon immer gewusst und sich völlig zurecht von mir getrennt hat, aber Franzi ist zum Glück nicht auf den Mund gefallen. Franzi wird fragen, warum sich ihre Mam, wenn sie es schon immer gewusst hat, ein Kind hat machen lassen, es gibt doch eine Menge Möglichkeiten, Spaß zu haben und gleichzeitig Nachkommenschaft zu verhindern, die Pille, die Spirale, Kondome und natürlich die Abtreibung, die den niedlichen kleinen Embryo-Franzis absolut zuverlässig den Garaus macht, und Hilde wird sich über ihr Kind entsetzen und gleichzeitig losheulen aus schlechtem Gewissen, oh, wie ich es gehasst habe, wenn sie plötzlich zu heulen angefangen hat, sie ist wochenlang kalt beherrscht, ein Eisberg schwimmt durch die Wohnung, und dann zerfließt dieser Eisberg mit einem Mal zu Tränen und legt sich nass um deine Füße, im Nu steht dir das Wasser bis zu den Knöcheln, den Knien, es umschließt deine Hüften und läuft dir in die Hosentaschen, saugt sich in dein Hemd und füllt dir den Kragen. Du kannst froh sein, wenn du es schaffst, ein paar Schwimmzüge zu machen, wenn du oben bleibst, weil sich Hertha an dich klammert und versucht, dich hinunterzuziehen in ihr Elend, bis du darin ersäufst.

      Ach Hertha, ich war ein Schiffbrüchiger im Nordpolarmeer des Lebens, ausgezehrt von der weißen Wüste der Einsamkeit bin ich auf dich zugetrieben, das Herz eine Frostbeule, und so warst du mir, südwärts ziehender Eisberg, wundervolle Rettung vor der drohenden Polarnacht der Depression. Und jetzt haben wir dieses Kind, das schon bei Minusgraden auf die Welt gekommen ist und immer noch keine Anstalten macht, zu erfrieren, im Gegenteil, es kennt nichts anderes als das Eis, es hat sich nach und nach eine so dicke Speckschicht rund um seine Seele angefressen, dass es nicht einmal dann zu frösteln scheint, wenn zwischen seinen Eltern wieder einmal der arktische Winter aufzieht.

      Für Annabel mache ich dieses idiotische Anzeigenblatt, für Annabel und für Franzi und deswegen, weil ich mich ja irgendwie ablenken muss, vielleicht von mir selber, davon, dass ich mein Talent an eine Bürgerinitiative, die einen Fußgängerüberweg um dreihundert Meter versetzt haben will, verschwende, daran, dass ich mich jetzt am liebsten mit einem Bier beruhigen würde oder vielleicht sogar mit zwei. Erst ein gelungen eingeschenktes Glas durchschäumt die drückend gewordenen Tage mit Leichtigkeit, erst die Bitterkeit des Hopfens lässt mich vergessen, wie bitter das Leben doch ist.

      5

      Das schwindende Licht veränderte das Lachsrosa des Wohnblocks. Es war, als würde die Farbe, an die sich Prähausner nicht und nicht gewöhnen konnte, sauer werden, als wäre die Fassade plötzlich nicht mehr frischsauber saniert, sondern von geradezu stechend hässlichem Verfall gezeichnet. Er sog die Luft durch die Nase ein, roch aber nur die mürbe Feuchte des Laubs, das auf den Rasenstreifen gefallen war. Mit langen Schritten setzte er darüber hinweg und sah Franzis Fahrrad neben dem Eingang stehen. Schon seit Monaten klapperte sie damit durch die Gegend, und aus dem Hinterreifen entwich ständig Luft. Das Rad musste dringend in die Werkstatt, oder war es vielleicht gescheiter, gleich ein neues zu kaufen? Franzi, die im letzten Jahr wieder stark gewachsen war, saß krumm über ihrem Jugendrad, sie brauchte endlich einen Rahmen für Erwachsene.

      Vor der Eingangstüre blieb er stehen und stieß, ehe er den Schlüssel aus der Hosentasche zog, mit einem Seufzer die Luft aus. Der Gebirgsjäger hielt nun die Stellung am Grenzübergang Freileichtheim, und das Interview mit den Syrern überarbeitete Annabel. Die Fremde hatte sich ruhig verhalten; sie war den ganzen Tag über auf Franzis Bett gelegen. So hatte es wenigstens Frau Hirscher erzählt.

      Als Prähausner in die Wohnung trat, hörte er seine Tochter lachen. Sie und die junge Frau saßen auf der Couch im Wohnzimmer, einen Haufen Kleidung zwischen sich. Herthas sonst so sorgfältig gebügelte Sachen sind wild zu diesem Haufen zusammengeworfen, Hosenbeine winden sich auf die Polster; Blusen, noch auf Kleiderbügel gezogen, ecken hinauf zur Decke; dazwischen runzeln Nylonstrumpfhosen, bilden Socken und Strümpfe Klumpen in gedeckten Farben. Selbst vor teuren Kostümen hat Franzi nicht Halt gemacht, hat sie samt des Zellophanmantels, in dem sie von der Reinigung gekommen sind, in den Müllsack gestopft, der nun vor der Couch am Boden liegt, hat die Röcke, Hosenanzüge hier in der Wohnung wieder aus dem knisternden Kunststoff gerissen, und nun bläht sich das Zellophan neben dem Sack auf dem Parkett. Ich kann nicht aufhören, darauf zu starren, auf dieses hauchdünne Eis, das meine Augen überzieht, meinen Blick derart eintrübt, dass die Fremde zu einem Schemen wird. Der Windstoß, der durch die riesige Halle geht, als wir die Türe aufquietschen, das Rascheln und Knistern. Überall das Zellophan auf dem Boden, es weht in Massen auf, dutzende, hunderte von durchsichtigen Gespenstern fliehen in den hinteren, dunklen Teil des Gebäudes. Später in der Nacht, hören wir es. Dann hören wir sie, irgendwo zwischen den Reihen mit den aufgehängten Kleidern.

      Prähausner blinzelte angestrengt. Sein Blick begann sich zu klären, er sah das weinrote Jackett der jungen Frau, ihre weiße Bluse und den beigen Rock, der ihr knapp bis zu den Knien ging, dazu trug sie stelzig-teuer aussehende Pumps. Nur die kräftig behaarten Waden passten nicht zu ihrem Aufzug.

      „Hi Pap.“ Franzi hielt es nicht für nötig, sich von der Couch zu erheben. Das Silber


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