Auf keinen Fall wir. Iris W. Maron
ich auch zu Fuß gehen. Mit dem Gepäck und der Einkaufstüte muss das aber wirklich nicht sein.
Der Kulturschock hält weiter an, als ich aus dem Straßenbahnfenster auf die vorbeiziehenden Häuser mit den Handyläden, den Ökoläden und den kleinen studentischen Szene-Bars schaue. Er hält auch an, als ich aussteige und unter großen Bäumen, die noch beinahe kahl sind, zu meinem Wohnhaus gehe. Es ist anders hier als in Köln und ganz, ganz anders als in den USA, obwohl ich auch dort an einer Provinz-Uni war.
Sobald ich in meiner Wohnung angekommen bin, werfe ich meine Reisetasche achtlos in ein Eck und streife meine Schuhe ab. Ich habe das Gefühl, jetzt das erste Mal wirklich durchatmen zu können. So langweilig ich die Stadt finde: Meine Wohnung liebe ich. Es ist meine erste eigene Wohnung, die keine WG ist und kein winziges Zimmer in irgendeinem Wohnheim. Ich hatte echt Glück, sie zu finden. Wie in allen Universitätsstädten sind auch hier die Mieten völlig überteuert und die Wohnungen heiß umkämpft. Dass ich mir diese schöne Wohnung leisten kann, lässt mich mich auch noch nach zwei Jahren so merkwürdig erwachsen fühlen. Und frei.
Während der vergangenen Monate habe ich die Wohnung untervermietet. Da weiß man nie, was einen erwartet, wenn man heimkehrt. Der Flur, der auch das Vorzimmer ist, sieht schon mal ordentlich aus. Das Bad muss die Untermieterin sogar geputzt haben, bevor sie gestern ausgezogen ist. Es riecht immer noch ein bisschen nach Zitronenreiniger. Die Dusche war, glaube ich, noch nie so sauber und selbst die Fugen in den Bodenfliesen, von denen ich immer dachte, sie wären grau, strahlen weiß. Wow.
Ich setze meinen Kontrollgang im Wohnzimmer mit der offenen Küche fort. Auch hier hat die Untermieterin gründlicher geputzt, als ich es an ihrer Stelle getan hätte.
»Hallo, Küche«, begrüße ich meinen liebsten Ort in der Wohnung und tätschle die graue Arbeitsplatte zärtlich. Diese super ausgestattete Küche war der Grund, weswegen ich die Wohnung unbedingt haben musste. Dass die Vormieter dann sogar den großen Esstisch dagelassen haben, war das Tüpfelchen auf dem I. Ein Schreibtisch hat dadurch zwar nicht mehr ins Wohnzimmer gepasst, aber wer will schon arbeiten, wenn er kochen kann?
Ich reiße mich vom Anblick meiner Küche los und gehe ins Schlafzimmer. Wie nicht anders zu erwarten, sieht auch hier alles picobello aus. Das große Bett hat die Untermieterin ordentlich abgezogen. Es ist das einzige Möbelstück, das ich neu gekauft und nicht von den Vormietern oder von meiner Schwester übernommen habe, als sie ihre Wohnung aufgegeben hat, um zu ihrem Freund zu ziehen. Aber auch so besitze ich nicht viele Möbel und Deko-Schnickschnack habe ich erst recht keinen. Das macht einfach keinen Sinn, wenn jede Wohnung nur eine Durchreisestation zur nächsten Wohnung in der nächsten Stadt ist.
Zuletzt gehe ich auf den Balkon. Er ist nicht riesig, aber groß genug für ein Outdoor-Sofa, auf dem drei Leute bequem sitzen können. Es stammt noch von den Vormietern, genauso wie das kleine Tischchen vor dem Sofa. Mit diesen Möbeln ist der Balkon absolut vollgeräumt. Man kann Sofa und Tisch einmal umrunden, mehr aber auch nicht. Definitiv kein Balkon fürs Urban Gardening. Für meine Kräuter habe ich immerhin ein paar Blumenkisten am Balkongeländer befestigt, die momentan recht trist und traurig aussehen.
Gähnend lasse ich meinen Blick über die Nachbarhäuser schweifen. Müdigkeit und Kater fordern langsam ihren Tribut. Dass ich jetzt noch auspacken und mich wieder häuslich einrichten muss, freut mich so gar nicht.
Als ich am nächsten Tag aufwache, fühle ich mich immer noch gerädert und nicht annähernd wach. Mit nur halb geöffneten Augen taste ich nach meinem Handy. Beim Blick auf die Uhrzeit setze ich mich ruckartig auf: Ich habe verschlafen. Verdammt.
Keine Ahnung, ob ich vergessen habe, den Wecker zu stellen, oder ob ich ihn im Halbschlaf abgeschaltet habe. Viel Zeit bleibt mir nicht, bevor ich zur Arbeit muss. Ich sollte eigentlich jetzt schon los, wenn ich rechtzeitig da sein will. Ohne Kaffee und zumindest eine Schüssel Müsli überstehe ich den Tag aber nicht. Also erst Frühstück und dann ab ins Bad. Dort versuche ich, nicht allzu viel Zeit in meine Frisur zu stecken. Natürlich bin ich trotzdem viel zu spät dran, als ich endlich losgehe.
Ich schwinge mich auf mein Rad und fahre auf schnellstem Wege in die Uni. Es ist nicht weit, doch bis ich dort ankomme, habe ich beinahe eine Fußgängerin überfahren und bin nur knapp der Kollision mit einem Auto entgangen. Vielleicht ist doch was dran, wenn meine Schwester immer behauptet, dass ich wie ein Irrer fahre. Die anderen könnten aber auch einfach ihre Augen offen halten.
Nachdem ich mein Rad angeschlossen habe, marschiere ich eilig zu meinem Büro an der Uni. Bevor ich dort ankomme, laufe ich auf dem Flur in zwei Professoren der älteren Generation, Bickenbacher und Hasslein, hinein, die lautstark und mit ausladenden Gesten darüber diskutieren, welche nahöstliche Gegend heute die stärksten Konsequenzen der jungsteinzeitlichen Ziegenhaltung und der damit verbundenen Vernichtung nahezu sämtlicher Vegetation zu erleiden hat. Sie werden fast handgreiflich, weil sie sich nicht einigen können.
Alle Archäologen sind irgendwie gestört. Ich muss es wissen. Ich bin selbst einer.
Bevor ich die Türe zu Doris' und meinem Büro öffne, werfe ich noch einen Blick auf meine Uhr. Ich bin eine Dreiviertelstunde zu spät dran, die Besprechung mit Doris kann ich also vergessen. Sie erwartet mich dann auch dementsprechend sauer.
»Auch schon da?«, giftet Doris.
»Hallo, Doris«, grüße ich zurück und übergehe ihren Zorn nonchalant. »Es ist auch sehr schön, dich endlich wiederzusehen. Der Wecker hat nicht geläutet.«
»Hättest du nicht wenigstens Bescheid geben können?«
»Das hätte an meiner Verspätung nichts geändert.«
»Aber ich hätte hier nicht rumgesessen wie bestellt und nicht abgeholt.«
Hätte sie doch. Doris sitzt so oder so immer im Büro. Aber den Kommentar schlucke ich wohlweislich runter.
»So dringend war unsere Besprechung doch nicht, oder? Das können wir nachher auch noch klären. Oder zur Not morgen.«
»Wir müssen die Exkursion planen und es gibt noch tausend Sachen zu besprechen. Am besten gestern.«
Ich mag Doris wirklich gerne, aber es nervt, dass sie stets solchen Stress verbreiten muss. Sie nimmt immer alles so wahnsinnig ernst. Mir ist meine Karriere auch wichtig, aber man muss echt Prioritäten setzen, sonst wird man noch irre. Die dämliche Exkursion, die wir mit den Studierenden machen sollen, ist auf meiner Prioritätenliste denkbar weit unten.
»Na ja, aber jetzt müssen wir erst mal zu Ruth«, meine ich.
»Was du nicht sagst.«
Ich öffne die Tür, die ich gerade erst hinter mir geschlossen habe, und halte sie Doris, höflich wie ich bin, auf. Gemeinsam gehen wir zum Büro unserer Chefin. Doris dampft immer noch vor Zorn. Wie immer übertreibt sie maßlos.
Der Rest des Lehrstuhls ist bereits in Ruths Büro versammelt: Anna, Viktoria und Fabian stehen inmitten des großen, vollgestopften Raumes und unterhalten sich mit unserer Chefin.
Ich finde Ruth großartig. Ruth ist eine Frau, die immer polarisiert. Sie ist spitzzüngig, sarkastisch und maßlos intelligent. Wahnsinnig erfolgreich in allem, was sie tut, hat sie den Ruf, nur die Besten bei sich aufzunehmen und allen anderen ganz klar zu sagen, was sie von ihnen hält. Deswegen wollte ich unbedingt zu ihr und habe sogar diese Kleinstadt in Kauf genommen.
Ihre wilde rote Mähne trägt Ruth wie immer locker zurückgebunden, sie wird nie ordentlich oder elegant aussehen. Immer hat sie die Aura des Chaotischen. Damit ist sie optisch der totale Kontrast zu Doris. Deren dunkle Kurzhaarfrisur sitzt wie immer perfekt. Doris ist der Typ Frau, der auch noch mit Jeans und T-Shirt (und selbst dann, wenn sie bei einer verregneten Grabung knietief im Morast steckt) vornehm wirkt. Sie ist streng und akkurat in allem, was sie tut – deswegen haben viele Studierende Angst vor ihr. Und nicht nur die.
Neben diesen beiden starken Frauen verblassen Anna, Viktoria und Fabian völlig. Alle drei sind sie durchschnittlich. Nett, aber langweilig. Mausgrau, irgendwie.
»Hallo, ihr zwei«, begrüßt uns Ruth. »David, schön, dass du wieder da bist!«