Damnificados. JJ Amaworo Wilson

Damnificados - JJ Amaworo Wilson


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torre de mierda, cojones, viva la revolución, dazu ein Fresko mit den Umrissen zur Hölle marschierender Soldaten.

      Umgeben von niedrigeren Gebäuden hatte der Monolith die Aura eines Schulhoftyrannen. Er betrachtete die Welt aus sechshundert Augen und sein Schatten bewegte sich wie die Zeiger einer Uhr, löschte jeweils mehrere Minuten lang die Bodegas, Brachen und Betonbauten ringsum aus. Im Verlauf der zehn Jahre waren die Scheiben aus den Fensterrahmen gefallen oder von verirrten Vögeln und Fledermäusen zerschlagen worden, so dass die Augen des Gebäudes hohl waren. Da die Scheiben fehlten, peitschte der Wind gespenstische Pfiffe in den Rachen des Wolkenkratzers, schoss durch seine Arterien und zischte bis in seine Lungen hinab.

      An manchen Wintertagen wiegte der Monolith sich wie ein Tänzer. Und wenn das passierte, schrie der Bürgermeister, der sechzig Stockwerke weit oben auf einem Balkon hockte: »Er wird umstürzen!« Und seine Frau sagte zu ihm, er möge verdammt noch mal den Mund halten, weil er doch der Bürgermeister sei und ein Vorbild sein sollte, aber er war gelb wie eine Zitrone und er wusste es und seine Frau wusste es und seine Kinder wussten es auch und als er starb, starb er winselnd wie ein verwundeter Hund und machte sich vor seinen Feinden in die Hose, zu denen zum Schluss alle zählten, sogar seine Frau.

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      Und eben jene Damnificados sind es, die zwanzig Jahre später in einer lauen Mitternacht aus der Dunkelheit kriechen, eine Lumpenarmee aus Bärten und Schmutz, die sich auf den Weg zum Turm macht. Sie kommen aus Agua Suja, aus Minhas, Fellahin und Bordello, aus Sanguinosa, Blutig und Oameni Morti, aus den Pappkartonstädten und Shantytowns an den Hängen, wo der Regen Rinnen aus Schlamm gräbt und die Häuser abrutschen lässt. Sie schleppen zerschlissene Körbe und Plastiktüten, rußfleckige Decken, Mäntel aus Krinoline und Kunstpelz. Eine Frau Mitte fünfzig schiebt eine Schubkarre mit einem dreibeinigen Hund. Aus einer Ecke kommt ein Krüppel namens Nacho, schleppt seinen geschundenen Körper auf bandagierten Krücken daher, mit flinkem Blick sucht er die Straße nach Ärger ab. Krach! Ärger! Ein Vier-Zentner-Chinese bricht mit dem Fuß zuerst aus einem Loch in der Wand, tritt die Mauersteine herunter. Auch ein Damnificado. Er schaut in beide Richtungen und schwingt sich einen schartigen Holzknüppel auf die Schulter.

      Die Gesichter einiger Damnificados sind mit Stoff verhüllt, wie bei Aussätzigen, nur die Augen sind zu sehen, und ihre Schritte sind abgepolstert wie Pantherpfoten, weil viele keine Schuhe haben, nur Lumpen an den Füßen. Andere bewegen sich barfuß fort, gehen geduckt und verstohlen in Zweiergruppen, huschen durchs Halbdunkel, bringen sich in Sicherheit.

      Langsam und leise versammeln sie sich vor dem Hochhaus. Eine Katze entdeckt sie von ihrem Wellblechdach aus, kneift die Augen zusammen und schnurrt zustimmend. Nichts regt eine Katze mehr auf als mitternächtlicher Krawall. Die ferne Musik der Sirenen schwindet immer weiter in Vergessenheit, und dann ist da kein Geräusch mehr, abgesehen vom Trappeln der Mäuse auf Stein.

      Das Dröhnen eines Busses durchbricht die Stille, als dieser seinen Rumpf um eine Ecke schwingt. Eine große Rauchwolke stiebt aus dem Auspuff, dann kommt der Bus mit einem Ruck zum Stehen und zwei schmutzige, schlaksige Teenager steigen aus, blond, drahtig und einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Beide überspringen die letzte Stufe. Zwillings-Damnificados, Männer der Vogelscheuchenarmee.

      »Wo ist der Große? Wo ist der Koloss?«, fragt der eine.

      »Der Turm oder der Chinese?«, fragt der andere.

      »Der Turm. Welcher Chinese?«

      »Wirst du merken, wenn du ihn siehst. Er ist riesig. Einmal hat er einen Ochsen getötet.«

      »Wer hat das nicht?«

      »Er hat ihn mit bloßen Händen erwürgt.«

      Nacho, der Krüppel, biegt um eine Ecke, sieht den Monolithen und bleibt stehen, er denkt, das ist genau so, wie es vor vielen Jahren in Zerbera geweissagt wurde. Er spürt die Damnificados um sich herum, hört sie atmen, erkennt die Gerüche – eine moschusartige Anthologie aus altem Essen, Schweiß, Pisse und Abfall. Er erkennt sie wieder. Erkennt es wieder, denn er hat von dieser Zeit und diesem Ort geträumt. Seitwärts wie ein Krebs überquert er die Straße, raus aus dem Schatten. Geht einfach so achtlos herüber, die hölzernen Muletas unter den Armen zieht er sein lahmes Bein nach. Er weiß, er ist der Erste und muss der Erste sein. Er geht am Eingang vorbei, wo auf eine Tafel Torre de Torres geschrieben stand, bis die Graffiti-Künstler die Worte auf Rey de Reyes verkürzten. König der Könige.

      Und kaum hat Nacho die Tafel passiert, folgen die anderen, erst der Chinese, dann die Zwillinge.

      »Das ist er. Er ist ein Bär.«

      »Er ist ein Elefant.«

      »Er ist ein Chinese.«

      »Er ist ein Bär.«

      Dann die Frau mit dem Hund in der Schubkarre. Der Reifen quietscht. Sie flucht auf die Welt wegen ihres Pechs. Kaputte Schubkarre, kaputter Hund. Er schläft, eingelullt von der Fahrt aus Sanguinosa hierher, lässt den langen hellen Kopf über den Rand hängen.

      Die Damnificados kommen herüber. Sie stehen bereit. Sie schauen zu dem hoch aufragenden Monolithen auf. Babel in Black. Melierter Beton. Ein Heim fern der Heimat. Sie umringen ihn, schwirren umher. Warten. Sie blicken einander an. Irgendwo schlägt eine Uhr zwölf.

      »Und jetzt?«

      »Wir warten auf Nacho. Er sagt, was zu tun ist.«

      Nacho kommt heran. Der Eingang ist verbarrikadiert, kreuz und quer mit Holzlatten vernagelt. Er gibt dem Chinesen Zeichen, sagt leise etwas. Der Chinese geht zur Tür und nimmt seinen Knüppel mit beiden Händen. Er holt einmal aus und mit einem Knall wie von einem Schuss platzt eine Latte ab. Nägel springen davon. Ein letzter Tritt und sie gibt nach. Leiser Jubel hebt an.

      Eine Frauenstimme: »Jetzt gehört er uns.«

      Nacho wird von seiner Armee der Damnificados überholt. Sie nähern sich der Tür und dann hören sie es. Sie bleiben stehen. Zuerst ist es ein Winseln, aber dann sinkt der Ton um eine Oktave auf ein tiefes Knurren. Niemand rührt sich. Wieder das Knurren. Im Eingang, in der Dunkelheit, bewegt sich eine Silhouette.

      »Das ist ein Hund.«

      »Ein wilder.«

      Im Halbdunkel erkennen sie seine Umrisse. Er geht im staubigen Vorhof auf und ab. Wieder leises Knurren. Er bewegt sich nach vorne. Dann bricht ein Strahl Mondlicht durch die Dunkelheit, trifft auf die gesplitterten Latten, gerade als das Tier näherkommt und die Reißzähne bleckt. Die Damnificados starren es an. Etwas stimmt nicht. Das ist wider die Natur. Das Biest hat zwei Köpfe.

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      Luftschnappen, dann weichen sie zurück. Dutzende bekreuzigen sich und beten. Eine Frau hält ihrem Sohn die Augen zu. Der Chinese, schwer atmend nach dem Aufbrechen der Tür, hört auf zu keuchen und starrt mit gespenstischem Blick.

      Das Tier stößt überirdisches Geheul aus doppelter Kehle aus, reißt beide Mäuler weit auf, in jedem sind zwei Reihen von Reißzähnen zu sehen. Die Armee rührt sich nicht. Der Mond schiebt sich hinter einen Wolkenschleier, breitet eine Decke aus Dunkelheit über alles.

      Einer der Damnificados wendet sich an Nacho.

      »Das ist ein Zeichen von Gott. Wir dürfen da nicht rein.«

      Ein anderer: »Gott? Die Bestie kommt aus der Hölle. Wir brauchen einen Priester.«

      Ein Mann in einem Regenmantel voller schwarzer Ölflecken dreht sich um und schaut in die Runde. »Wir brauchen keinen Priester. Wir brauchen ein Gewehr. Wir müssen sie töten.«

      Erneut heult das Tier in die Nacht, die Mäuler hoch erhoben. Das Biest ist räudig, aber stark. Seine Köpfe bewegen sich im Einklang, ragen aus demselben kurzen, sehnigen Hals.

      Regenmantel sagt zu dem Chinesen: »Schlag es. Knüppel es nieder. Mach es tot.«

      Der Chinese rührt sich nicht.


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