Damnificados. JJ Amaworo Wilson

Damnificados - JJ Amaworo Wilson


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eine Bombe oder einen Obstkorb. Und natürlich gibt es Wachposten an den Eingängen im Erdgeschoss, alle vier bewaffnet und jeder mit einem Spielzeug-Walkie-Talkie, das sie auf einer Müllhalde gefunden haben.

      Der Haupteingang gehört dem Chinesen. Er wird stundenlang reglos mit verschränkten Armen dort sitzen. Ein Zimmermann aus Blutig baut ihm einen Stuhl aus Gegenständen, die er im Gebäude gefunden hat: große Holzbretter von einer kaputten Kommode und die noch verwertbaren Federn einer Matratze. Der Chinese hat die Gabe der Stille. Ein Besucher könnte glauben, er schlafe, weil sein Kinn seine Brust berührt und man seine Augen unter dem breiten Schirm der Basecap, die er manchmal trägt, nicht sehen kann. Aber wie Nacho ist er stets wachsam.

      Die Müllhaufen vor dem Gebäude sind die schlimmsten von allen. In ihnen hausen Kolonien riesiger Ratten, die durch die dunklen Abfalltunnel flitzen. In der zweiten Generation sind einige und in der dritten alle mutiert. Sie können sich jetzt der Farbe des Mülls anpassen, wie Chamäleons. Nacho beruft ein Treffen mit seinen Anführern ein. Sie versuchen es mit einer Jagd, aber die Ratten sind zu schnell. Sie versuchen es mit Gift, aber die Ratten passen sich an und fressen es wie Brot. Sie betonieren ein Stück des Müllhaufens zu, um zu sehen, ob es hilft, aber die Ratten knabbern sich durch den Beton und sausen nachts lachend über die Gänge.

      »Wir müssen sie ausräuchern«, sagt Nacho. »Nicht mal Ratten können im Feuer überleben.«

      Er hat kontrolliertes Abbrennen bereits gesehen, aber nie mitten in der Stadt. Er weiß, dass es auf den Wind ankommt und dass man natürliche Barrieren braucht, die das Feuer aufhalten. Er geht um den Turm herum, berechnet Winkel und die Länge der Rinnsteine.

      Eines ruhigen Tages, wenig später, sagt er den Damnificados, sie sollen drinnen bleiben und die Fensteröffnungen mit Brettern, Decken oder Pappe verschließen, was sie nur finden können, um den Rauch abzuhalten. Er lässt sich von dem Mechaniker einen Kanister voll Diesel mit Benzin mischen und baut sich eine Drip Torch aus einer alten Kaffeedose. Er befestigt sie am Moped. Einer der Zwillinge zündet den Docht an und fährt damit um den Turm, tropft Feuer auf den größten Abfallhaufen. Tausende Ratten flitzen los und die Haufen werden eingeebnet.

      Während der Müll verkohlt und zu Asche zerfällt, steigen giftige Dämpfe auf, schwarze Schleier schrauben sich in den Himmel. Sie kräuseln sich in Richtung der Fensteröffnungen des Monolithen, aber da diese bedeckt sind, treten kaum Dämpfe ein. Sie verfliegen vielmehr, werden verschluckt vom sonnenbeschienenen Dunst, der die Stadt umhüllt.

      Der Truck des Vaters der Zwillinge fährt vor, orangefarbene Glut knistert ringsum. Hans steigt mit zwei weiteren Männern aus der Kabine und beginnt, riesige Säcke von der Ladefläche des Trucks zu ziehen. Der Chinese löst die Schnüre um die Säcke, und fünfzig Wildkatzen mit messerscharfen Zähnen springen heraus. Sie nehmen die Witterung der fliehenden Ratten auf, folgen ihnen in Löcher hinunter, durch Rohre hinauf, an alle dunklen Orte, wo Ratten sich verstecken könnten. Als das Massaker beendet ist, verschwinden die Katzen wieder in den Gassen und Schlupfwinkeln der Stadt.

      »Wo hast du die Katzen her?«, fragt der Priester.

      Dieter sieht ihn an. Er hat noch nie mit einem Priester gesprochen.

      »Von der Katzenfängerin in Estrellas Negras. Wir haben sie mit einem Tisch und Stühlen bezahlt. Es heißt, sie ist eine Hexe.«

      »Die Bruja von Estrellas Negras. Gibt’s die wirklich?«, fragt der Priester.

      »Sie hat nach Katzenpisse und Stinktieren gerochen. Hans hätte sich fast übergeben.«

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      Sie lassen Lalloo holen. Er weiß, wie man Masten und Generatoren anzapft. Aber als er eintrifft, ist er betrunken. Singt vor sich hin, seine Augen sind blutunterlaufen. Die Zwillinge stützen ihn auf beiden Seiten und lassen ihn im Vorhof seinen Rausch ausschlafen.

      Er wacht auf. Nacho begrüßt ihn. Lalloo schläft wieder ein.

      Eine Stunde später wacht er wieder auf. Nacho gibt ihm einen Teller voll zu essen und einen Becher Wein. Das Essen beachtet er gar nicht.

      »Wir brauchen Strom für dieses Gebäude«, sagt Nacho.

      Am Nachmittag steht Lalloo auf einer Leiter, an seinem Gürtel sind Bolzenschneider und Zangen befestigt. Er schließt den Monolithen ans Netz, brummend leuchten Lampen auf, und als in der Abenddämmerung aus einer nahegelegenen Moschee der Ruf zum Gebet ertönt, ziehen sie Stechmücken an. Später versucht Lalloo den Fahrstuhl zu reparieren, aber es gelingt ihm nicht. Er erklärt Nacho, dass das Ding endgültig hinüber ist.

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      Der Chinese hebt Nacho auf seine Schultern und geht sechzig Stockwerke über die Treppen hinauf. Als er oben ankommt, keucht er. Mit dem Chinesen, dem Priester, den Zwillingen und Regenmantel an seiner Seite schaut Nacho hinaus. Er sieht die halbe Stadt, andere Türme verteilen sich über die Skyline – Hotels und Büroblocks, Dutzende halb verdeckter Werbetafeln dahinter. Taxis und eine Million Autos, Rikschas und gelbe Busse, aus denen Salsa dröhnt, verstopfen die Straßen, Abgaswolken wabern hinauf, Leute trödeln oder hasten.

      Er schaut hinunter auf das den Turm umgebende Land, unregelmäßig, uneben, zerfurcht wie von Wunden, schwarze schwelende Stellen dort, wo die Ratten vertrieben wurden.

      »Das ist Ödland«, sagt er. »Unter der Oberfläche liegen Müllberge vergraben. Egal, was passiert, wir dürfen nie wieder im Müll leben. Nicht hier. Der Turm muss innen wie außen sauber sein.«

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      Die Familien ziehen ein. Solche mit Alten nehmen die Stockwerke weiter unten. Sie bringen Möbel, Laternen, Kerzen und alles mit, was sie von den Müllhalden holen können. Einige haben Herde und sogar Kühlschränke. Sie bauen sich Betten aus Paletten und wiederverwerteten Brettern. Alte Sofas kommen von der Schutthalde in Minhas. In Puertarota brennt ein Hotel ab und die Damnificados ziehen um drei Uhr früh los, bergen Betten und Kleiderschränke, laden sie auf den Truck des Vaters der Zwillinge und lehnen sich weit über die Seiten, als dieser sich zum Turm zurückschlängelt.

      Sie suchen die reichen Viertel nach auf die Straße gestellten Fernsehern ab und holen sie von den Bürgersteigen. Lalloo repariert alles Elektrische, wofür Nacho ihn in einem Zimmer im sechsten Stock übernachten lässt. Seine Hände zittern, aber mit Elektrizität findet er sich auch noch im Schlaf zurecht, und wochenlang geht er von Stockwerk zu Stockwerk, repariert alles im Tausch gegen Essen und Wein.

      Südlich von Agua Suja bricht ein Aufstand aus und in dem darauffolgenden Chaos schaffen es sechs Brüder irgendwie, einen Brotbackofen nach Hause in den Turm zu verfrachten, sie tragen ihn wie den Sarg bei einem Trauerzug. Die ganze Nacht brauchen sie, bis sie ihn zum Turm geschleppt haben, und als sie eintreffen, bluten ihre Hände und Schultern. Am nächsten Tag stellen sie ihn im dritten Stock auf und eröffnen eine Bäckerei.

      Im sechsten Stock richtet Maria Benedetti, eine ehemalige Schönheitskönigin aus Sanguinosa, einen Salon ein. Sie verwendet geklaute Kämme und Bürsten, Shampoo aus Seife und Ziegenmilch und einen Haartrockner, der einst ihrer Mutter gehörte. Ein paar Damnificadas, herausgeputzte Mädchen mit Schmollmündern, drängen in den Salon und schon bald kommen die Frauen aus Favelada und Fellahin und lassen sich die Haare machen. Maria stellt ein Schild auf die Straße: »Marias Bjuty & Herrsalong«. Nacho wird misstrauisch, als er mitbekommt, dass die von draußen herein-kommenden Frauen nachmittags eintreffen und erst am nächsten Morgen wieder gehen. Er sagt zu dem Priester: »Das sind Prostituierte. Sie gehen in den Salon, geben Geld für ihre Haare aus und verdienen es sich gleich wieder, ohne überhaupt den Turm zu verlassen.«

      Der Priester sagt: »Aber wer kann sie hier bezahlen? Im Turm leben nur Damnificados. Wer von denen hat Geld für Frauen?«

      Der Priester weiß nicht, dass im Turm auch arbeitende Menschen leben. Viele finden Jobs in den Fabriken als Wächter, Hausmeister, Kehrer und Putzleute. Nacho unternimmt nichts wegen der Huren, denkt, Freiheit ist die Hauptsache,


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