Damnificados. JJ Amaworo Wilson

Damnificados - JJ Amaworo Wilson


Скачать книгу
Gedichte, beschäftige dich mit den Philosophen. Schreib Tagebuch. Schreib mir Geschichten. Ich werde sie lesen und wir bewahren das als unser Geheimnis.«

      Er nickt.

      Als er zehn ist, stellt ihm ein Malandro nach, nimmt ihn in den Schwitzkasten. Nacho ringt nach Luft. Ein plötzliches Schaudern, dann erschlafft der dünne Arm an seinem Hals. Der Schläger sinkt zu Boden. Über ihm steht ein riesengroßer Junge. Schwarze Haare. Schlitzaugen. Er dreht sich um und geht. Der Chinese.

      Der Chinese ist eine Insel, eine Festung, die niemand betreten kann. Man sagt, er sei stumm oder spreche die Sprache nicht. Er hat ein rundes, weiches Gesicht und Hände so groß wie Bratpfannen. Mit zehn Jahren wiegt er zweihundert Pfund. Mit fünfzehn wird er dreihundert wiegen. Die Schule stellt einen Zimmermann an, der einen stabileren Stuhl für ihn baut. Beim ersten Mal schon kracht er zusammen. Sie geben ihm ein Brett auf zwei Betonblocks. Er setzt sich still darauf. Runzelt die Stirn.

      Samuel bringt Emil und Nacho jeden Tag zur Schule. Wenn sie durch das Zentrum von Favelada gehen und Nacho weit ausholt, auf seinen Krücken schwingt, um Schritt zu halten, erzählt Samuel Geschichten.

      »Hier hat Odewoyo seinen letzten Kampf verloren. Er war ein nigerianischer Gangster. Alle seine Mitstreiter waren schon tot. Er kam herausgelaufen und schoss um sich. Wurde von fünfzig Polizisten niedergemäht. Danach bestand er mehr aus Löchern als aus Mensch. Sie haben seine Waffe in ein Museum gebracht. Schaut, da oben. Das ist der Balkon, von dem aus Eugenia, die Schöne, den Massen Blumen zugeworfen hat. Und ihre letzte Rede hielt. Schaut dort. Die Stierkampfarena. Sieht aus wie Ödland, nicht wahr? Das war der Ort der Matadore, der Ort von Guerrero, Zubada, Hernandez, Ochoa und Davidovsky.«

      »Was ist damit passiert?«, fragt Emil, der zwei Jahre älter und einen Kopf größer ist als Nacho.

      »Was damit passiert ist? Was mit allem passiert. Sie ist zerfallen. Was sind das für Vögel? Da! Da! Haltet die Augen offen. Ihr wisst nie, wann ihr sie braucht.«

      Und so lernt Nacho alles, sieht alles. Ein verkümmerter Körper, ein singender Verstand.

      Zuerst schläft er auf einer Matte bei Anna und Samuel im Zimmer. Sie liegen wach und lauschen seinem Atem. Als er sechs wird, zieht er zu Emil in ein Bett, das aus einem kaputten Tisch gebaut wurde, die Beine sind abgesägt. Emil treibt sich herum, und mit acht Jahren kennt er jede Ecke von Favelada, jede Straße. Er geht mit Nacho zum Metzger, zum Bäcker und zum Friseur. Gibt mit ihm an. Wirft Steine in den Fluss, während Nacho die Hüpfer zählt. Sie werden vom Markt gejagt, weil sie Äpfel stehlen. Nacho ist unschuldig wie immer, schlurft auf seinen Muletas hinterher.

      Eines Tages klettert Emil auf die Mauer des Bordells in der Roppus Street, hängt sich an ein Fensterbrett und sieht den dicken Hintern des Metzgers auf dem Bett auf- und abstoßen, eine Frau namens Lulu liegt unter ihm. Er kichert. Der Metzger dreht sich mittendrin um, schiebt sich von Lulu herunter, geht zum Fenster. Sein Gesicht ist rot und aufgedunsen wie ein Schinken, sein erigierter Penis weist ihm den Weg. Emil klettert herunter und lacht, als ein Schuh aus dem Fenster fliegt und seinen Kopf nur um wenige Zentimeter verfehlt. Er läuft zu Nacho und gemeinsam gehen sie fort, das Geschimpfe des Metzgers folgt ihnen die Straße herunter. Nacho weiß es jetzt noch nicht, aber eines Tages wird er sich wegen eines Gefallens an den Metzger wenden, wird ihn mitten in der Nacht um Fleisch bitten, um damit ein Wolfsrudel zu füttern, und der Metzger wird sich an ihn erinnern, weil er seinen Vater kannte, und er wird Ja sagen und sich, abermals nackt, nach unten schleppen und dicke Brocken rohes Steak ausgeben, noch feucht vom Blut.

      Emil schläft jede Nacht lang und tief, erschöpft von seinen täglichen Ausflügen. Aber Nacho ist ein Nichtschläfer. Er liest dort, wo ein Lichtstrahl durch das Fenster dringt. Liest und liest bis in die frühen Morgenstunden. Mit acht kennt er die Dichter, die nordische Mythologie, die Etymologie der Dinosaurier, die Biografien von Königinnen und Staatsmännern, die Namen von Pflanzenarten, kann einem Handbuch über Maschinenbau folgen, kennt die russischen Sagen des neunzehnten Jahrhunderts, die Theorien toter Philosophen, Kunstkritik, Polemiken, Marx und Freud, Dickens und Poe.

      Manchmal kommt eine Freundin von Anna vorbei und spricht Spanisch mit ihm. Eine andere Französisch. Eine entfernte Tante dritten Grades plappert auf Italienisch drauflos. Die Sprachen bleiben an ihm hängen wie Dreck an den Knien eines Jungen.

      In dem Winter, in dem er zehn wird, brechen die Pocken bei ihm aus und er muss das Bett hüten. Anna füttert ihn mit wässriger Kartoffelsuppe, bringt ihm Bücher aus der Bibliothek. Nach drei Tagen wird er schwächer. Emil zieht aus dem Zimmer aus, sie legen Nacho auf eine Palette bei sich auf dem Boden und rufen eine Heilerin. Ihr Name ist Haloubeyah. Sie fegt in einem schwarzen Kaftan herein, lächelt und fragt ihn nach seinem Namen. Sieht ihm in die Augen, berührt ihn einmal an seinem gesunden Arm und kocht einen Wickel in einer übelriechenden Brühe. Sie singt bei der Arbeit. Emil starrt sie an, bis ihn seine Mutter aus dem Zimmer wirft. Haloubeyah gibt Nacho eine Wurzel zum Kauen. Minuten später schläft er ein und sie legt ihm den Wickel an.

      Am nächsten Tag geht es Nacho besser. Und seine Haare wachsen wie verrückt.

      KAPITEL 4

      Der Erste Müllkrieg – Das Haus der Blumen – Alberto Torres – Ein Floß auf dem Fluss

      Jahrzehnte bevor Nacho wie Moses im Schilf gefunden wurde, kamen die Menschen auf der Suche nach Arbeit aus der Provinz hierher, und plötzlich gab es in Favelada viertausend Damnificados ohne Unterkunft. Also fanden sie kleine Landstücke und bebauten sie mit dem, was gerade zur Hand war: Steine, Backsteine, Holz, Lehm, Eisen. Häuser entstanden. Zusammengeflickte Würfel mit einem Loch im Dach als Schornstein. Ein Damnificado namens Lalloo zeigte ihnen, wie man Strom von den Masten stiehlt, um Licht und Wärme zu bekommen, und ein paar Familien fanden alte Fernseher, die man auf die Halden oder die Gehwege geworfen hatte, nahmen sie mit nach Hause und schlossen sie an, schlugen so lange drauf, bis ein Sender funktionierte. Und so begann und endete das Leben vieler begleitet von ständigem Gemurmel, einem vierundzwanzigstündigen Kreislauf aus Spieleshows, Fußball, Nachrichten, Mordanschlägen, Telenovelas, Rauschen, Papageiengeplapper, Geschnatter und Gelächter aus der Konserve.

      Die Städte wuchsen, aber keine Regierung wollte die neuen Bezirke anerkennen. Sanguinosa, Fellahin, Blutig, das waren Nicht-Orte für Nicht-Menschen. Straßen wurden keine gebaut, denn warum sollte man eine Straße nach Nirgendwo bauen? Berge von Müll tauchten auf – gammelnde Lebensmittel, Plastik, Papier, Glasscherben – bis der Gestank den Damnificados in die Kleider kroch, in die Ecken ihrer Zimmer, in ihre Träume. Und eines Tages versammelten die Damnificados von Favelada ihre Esel und Karren, luden den Müll mit Mistgabeln und Schaufeln auf und fuhren ihn in die Wüste. Ein paar Monate später legten einige Männer, die Arbeit gefunden hatten, ihr Geld zusammen und kauften einen Truck. Jeden Samstag beluden sie ihn und fuhren damit zehn Minuten Richtung Süden. Sie gruben riesige Löcher in die Erde, warfen den Müll hinein und noch ein paar Monate später deckten sie den Berg mit Erde zu.

      Aber dann zogen andere Damnificados in die Wüste. Eine kleine Gemeinschaft von Süchtigen, geflohenen Sträflingen und Landstreichern tauchte auf. Nach einer Weile sahen sie, dass der Truck Müllberge heranfuhr, und brachten diese zurück, luden sie mitten in der Nacht in Favelada vor den Häusern ab. Zur Vergeltung brachte der Truck mehr Müll. Und dann kam es zu einem Vorfall. Eines Tages lud der Fahrer des Trucks mit seiner Mannschaft den Müll ab, wie sonst auch. Als sie wieder vorne einsteigen wollten, fanden sie eine enthauptete Puppe auf dem Sitz und in deren hohlem Plastikkörper noch warmes Ziegenblut. Ein Zeichen.

      Und so begannen die Müllkriege.

      Am darauffolgenden Samstag dröhnte der Truck aus Favelada vollbeladen mit Müll in die Wüste. Die Halde wirkte verlassen. Plötzlich ertönte eine Frauenstimme:

      »Kami ay labanan sa dulo!«

      Der Fahrer zog die Handbremse, ließ aber den Motor laufen. Ringsherum provisorische Häuser. Vor ihnen eine winzige, steinalte Frau, nur Haut und Knochen, die Haare mit einem Tuch zusammengebunden. Sie riss die wütenden Augen auf und schrie erneut, höher, fast war es ein Jaulen:

      »Kami ay labanan sa dulo!«


Скачать книгу