Damnificados. JJ Amaworo Wilson

Damnificados - JJ Amaworo Wilson


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– Vor der Flut Geflüchtete kommen zum Turm – Kaputte Psychologen – Susana – Das Antlitz Jesu

      Die Regenzeit kommt spät. Aber als sie kommt, trifft sie die Shantytowns Agua Suja und Oameni Morti schwer, lässt die Wände der klapprigen Anbauten und Verschläge im Matsch abrutschen. Die notdürftigen Straßen verwandeln sich in Ströme, und ein Wagen schlingert fahrerlos wie betrunken den Hang hinunter, fast wie auf Kufen. Das Wasser gewinnt an Fahrt und reißt Trümmer mit. Fahrräder schlittern hinunter, Felsen, Betonbrocken, Holzkisten, Reifen, ein Kanarienvogel in einem Käfig, entwurzelte Sträucher. Ein totes, aufgedunsenes Schaf hüpft wie ein angestochener Ball hangabwärts. Ein Fluss aus Schlamm, der alles mit sich reißt, schlägt eine Rinne zwischen die Häuser. Ein Junge klammert sich an ein Dach. Ein Hund stürzt dreißig Meter tief und überlebt, indem er sich an die Leisten eines kaputten Fasses klammert. Ganze Häuser werden vernichtet.

      Alleine in Oameni Morti werden weitere sechshundert Menschen obdachlos. Ein Drittel von ihnen zieht in die nächste Stadt und findet in Favelada den Turm, von dem sie gehört haben. Den Torre de Torres. Wo ein Krüppel das Sagen hat und ein riesiger Chinese für Ordnung sorgt. Schmutzig und zerrüttet kommen sie in Gruppen an, völlig durchweicht. Der Regen schneidet scharf herunter, kommt mit dem heißen Wind heran. Die Damnificados von Oameni Morti überqueren die Straße und einer ruft Nachos Namen, aber seine Stimme geht im prasselnden Regen unter. Nacho erscheint an der Tür und winkt sie heran in die Vorhalle. Er hat diese Gesichter schon einmal gesehen. Und diese Lumpen. Die Kinder in schmutzigen T-Shirts und knielangen Shorts.

      »Wir lassen Lebensmittel holen«, sagt er. »Ihr könnt im sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Stock wohnen. Noch ist dort nichts, aber wir arbeiten daran. Und die Räume sind sauber.«

      Wortlos steigen die neuen Damnificados die Treppe hinauf. Einige legen sich sofort hin und schlafen auf den Betonböden ein. Andere sitzen an den Fensteröffnungen und schauen hinaus in die Dunkelheit, wo der Regen Lichtstrahlen aus der Neonstadt einfängt, die Straßen überflutet und das alte Ödland um den Turm herum in einen Sumpf verwandelt.

      Minuten später treffen weitere einhundert aus Agua Suja ein.

      »Es sind zu viele«, sagt Hans und schaut von seinem Balkon im fünfzehnten Stock. Dieter lächelt.

      »Zu viele? Wir können sie nicht wegschicken.«

      »Du hast Recht. Nacho würde sie niemals wegschicken. Was hat die Lady da über ihren Hund gesagt?«

      »Welche Lady?«

      »Die mit der Schubkarre.«

      »Sie sind wie wir.«

      »Sie sind wie wir. Hunde sind wie wir. Und diese Menschen auch. Willkommen

      Fünfzehn Stockwerke tiefer sagt Nacho zu dem Priester: »Das ist erst der Anfang der Überschwemmungen.«

      Und der Priester erwidert: »Bau eine Arche. Für tausend Menschen.«

      Nacho schaut zum Himmel und zum Priester. »Wir sitzen schon drin.«

      Aber sie wissen nicht, dass der Regen bald zur Flut werden wird, zu einer Überschwemmung, wie man sie hier seit hundert Jahren nicht mehr erlebt hat.

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      Die Leute aus Agua Suja bringen Schätze mit: zwei ausgebildete Lehrer, einen Mechaniker, einen Psychologen und eine Frau, die Nacho mit lächelnden Augen ansieht. Ihr Name ist Susana.

      Die Lehrer sind jung und anders als Nacho unterrichten sie beide Kinder. Er setzt sie in den fünfzehnten und den fünfundzwanzigsten Stock und schickt den Chinesen mit riesigen Papierrollen, Tafeln und ganzen Händen voller gestohlener Kulis hinauf. Er erfährt, dass in einer der normalen Schulen in der Gegend das Schuljahr endet, die Zwillinge gehen und plündern deren Müllcontainer. Sie bringen eine Lasterladung zerfledderter, zerrissener Bücher mit, die aber noch lesbar sind: eine Anthologie mit Gedichten, fünfundzwanzig Geschichtsbücher, bereits vor dreißig Jahren erschienen, eine Kiste mit verschiedenen Romanen mit an den Rand gekritzelten Bemerkungen, Fibeln, Einführungen in die Mathematik und zwei vom Schimmel feuchte Bände einer Enzyklopädie von insgesamt fünf: A-E und K-N. Sie würden ohne das restliche Alphabet leben müssen.

      Nacho lädt den Psychologen Dewald zu sich in seinen kargen Raum ein. Er braucht Männer und Frauen, die ihm beim Anleiten helfen. Er will dem Mann etwas zu trinken anbieten, merkt aber, dass es das letzte ist, was Dewald braucht. Nacho sieht, dass Dewald in seinem alten Leben getrunken hat, sieht die weiße Stelle auf seiner braunen Haut, wo einst der Ehering saß. Er betrachtet Dewalds müde Augen mit den schweren Tränensäcken darunter, sie sind beinahe blau. Der zottelige Bart ist grau meliert. Er ist ein Mann, denkt Nacho, der vermutlich zu viel gesehen hat, obwohl Nacho spürt, dass Dewald kaum älter ist als er selbst, vielleicht vierzig, vielleicht fünfundvierzig. Sie sprechen eine Weile über Agua Suja, dann schiebt Nacho Müdigkeit vor und wünscht ihm eine gute Nacht.

      Die Frau ist anders. Er lächelt sie an und sie erwidert seinen Blick. Als er sich im Spiegel betrachtet, was er selten tut, sieht er ein von Sorgen gezeichnetes Gesicht, aus dem das Jungenhafte verschwunden ist, die Haare zerzaust wie von einem Tornado, der halbe Körper verkümmert, die andere Hälfte drahtig. Einzig unverändert ist das Muttermal unter seinem Auge, ein vollkommen runder, dunkelbrauner Fleck. Nacho besteht nur aus Haut und Knochen, über seine Arme und seine Stirn ziehen sich dicke grüne Venen wie Schnüre. Er hat nie erwartet, zu erfahren, wie sich eine Frau anfühlt, ihren Geruch zu riechen, ihre Aura zu spüren. Als Erwachsener ist er nie einer nahe gekommen. Dennoch ist er nicht ohne Begehren. In seinem Leben vor den Damnificados hat er schöne Frauen gesehen, in vielen Sprachen mit ihnen gesprochen. Einmal hat er eine Frau zum Lachen gebracht und gesehen, wie sie die Augen schloss und den Kopf zurückwarf, und dieses Bild ist ihm immer vor Augen geblieben.

      Emil war es, der Frauen in Verzückung brachte, sie unbekannten Sinnesfreuden entgegentaumeln ließ. Emil mit seinem Schneid, seinem raschen Verstand, seiner Furchtlosigkeit. Emil, der einmal einen tollen Witz riss, als sie in einem Kreis von Freunden um ein Feuer saßen. Bevor das Gelächter verklungen war, stand er auf, ging zehn Meter und sprang mit einem einzigen Satz auf eine hohe Mauer, um die Sonne aufgehen zu sehen. Dabei landete er, ohne seine Hände zu benutzen, in einer einzigen geschmeidigen Bewegung oben auf dem schmalen Sims. Nacho blieb still im Licht der Flammen sitzen und sah, dass alle Mädchen in der Gruppe den Umriss seines Bruders vor der aufgehenden Sonne betrachteten.

      Aber mit Susana hatte er zumindest Blicke gewechselt. Von weitem lässt sich ihr Alter unmöglich erraten. Einmal sieht er sie mit einigen anderen Frauen Wäsche waschen und er kommt näher, unter dem Vorwand, fragen zu wollen, ob die Pumpe funktioniert. Von hinten und dann von der Seite betrachtet, vermutet er, dass sie älter ist als er, vielleicht zehn Jahre, und ein bisschen verlässt ihn der Mut, aber sie ist eine gut aussehende Frau. Sie ist klein, hat hohe Wangenknochen, eine bräunliche Haut und ist immer sauber. Er stellt seine Frage und eine der anderen Frauen antwortet, ja, die Pumpe ist in Ordnung, und er wendet sich rasch ab und geht zurück in den Turm.

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      Einige Tage nach der Ankunft der Männer und Frauen aus Agua Suja hört man Gepolter von oben. Schreie und Glockenschläge erheben sich über den prasselnden Regen. Mit Baritonstimme singt jemand eine a capella-Hymne und dann ein zweites Mal noch lauter. Nacho wacht auf, erhebt sich schwankend von seiner Palette, reibt sich die Augen und zieht sich eine braune Hose über. Er schließt den Gürtel und schlüpft in ein T-Shirt. Er nimmt seine Muletas, die an der Wand lehnen. Der Lärm ist jetzt in menschliches Raunen übergegangen. Er legt drei Treppen nach oben zurück und sieht eine Schlange von Menschen im Treppenhaus, zusammengekauert wegen des Regens.

      »Es ist ein Wunder«, sagt eine Frau in einem roten Kleid.

      »Gott hat uns besucht«, sagt ein Buckliger im Schlafanzug.

      Nacho sieht Regenmantel in der Schlange.

      »Was ist passiert?«, fragt er.

      »Auf


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