Damnificados. JJ Amaworo Wilson

Damnificados - JJ Amaworo Wilson


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      »Philippinisch.«

      »Ist mir scheißegal, was für eine Sprache. Was soll das heißen?«

      »Ich bekämpfe euch bis zum Tod.«

      Der Fahrer grinste, drehte den Schlüssel um, machte den Motor aus.

      Plötzlich tauchten Gestalten in der Wüste auf wie aus der Hölle. Schmutzverschmierte Lumpensammler, die angespitzte Stöcke und Tomahawks schwenkten. Jugendliche mit Helmen aus Hühnerknochen und Draht. Irre Frauen in schmutzverkrusteten Schürzen, die auf Arabisch, Lettisch, Tagalog und Französisch brüllten. Ein Sumpfpirat mit strähnigem Haar bis zur Hüfte und einer offenen Weste, unter der eine Kette aus sechs geschwärzten Menschenohren an einer Schnur zum Vorschein kam.

      Der Fahrer, ein ehemaliger Farmer mit gemeinen Zügen, öffnete die Tür, stieg aus, griff in die Fahrerkabine und zog eine Eisenkette vom Boden.

      »Kami ay labanan sa dulo!«

      »Na dann, leg los, kleine Lady«, sagte der Fahrer, und plötzlich explodierte der Müll auf dem Truck. Zwanzig Männer, die stanken, als wären sie der Jauchegrube des Teufels entstiegen, sprangen aus dem Abfall und seitlich von der Ladefläche herunter, sie waren bis an die Zähne mit Ketten, Gürteln, Flaschen, Peitschen und Knüppeln bewaffnet.

      Dort auf dem trostlosen Flachland schlachtete ein Damnificado den anderen ab. Sie schlugen sich mit Fäusten, prügelten sich wie im Mittelalter, pulverisierten einander die Schädel, ließen gegenseitig ihre Rippen splittern, hackten sich die Arme ab. Das Ächzen war lange und laut, bis ein eigenartiger Sturm durch die Wolken brach und das Schlachtfeld unter Wasser setzte, den Staub befeuchtete, das Blut verwässerte, einen Trommelwirbel auf den Blechdächern erklingen ließ.

      Der Fahrer lag tot in einem dürftigen Grab aus verregneten Plastiktüten und zerfransten Seilen, sein Arm am Ellbogen abgetrennt drei Meter weiter, die Hand an dessen Ende hielt noch immer den Schlüssel zum Truck. Einer von sechs Überlebenden auf der Seite der Müllbringer bog die toten Finger auseinander, nahm den Schlüssel und rannte durch den Regen. Er sprang in die Kabine, ließ den Motor an und raste nach Hause, nach Favelada, der Papagei des Fahrers krächzte ihm dabei ins Ohr.

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      Das Haus der Blumen befand sich am Rand des Townships. Über Nacht kamen Nachbarn und Fast-Nachbarn dazu – halb fertige Betonmauern, von der Straße aufgesammelte Holzbretter, Wellblechdächer mit aufgereihten Schieferplatten. Paletten als Betten. Waschwannen aus Plastik für alles, das gewaschen werden konnte – Besteck, Kleidung, Gesichter, Körper. Nägel wurden in Wände geschlagen, von denen Handtücher, Töpfe und Pfannen hingen. In der Regenzeit versanken diese provisorischen Häuser in Strömen aus Schlamm. Die undichten Stellen in den Dächern verwandelten sich in tellergroße Löcher, Eimer darunter sammelten den in Strömen herunterprasselnden Regen. Manchmal wurde an einem einzigen Tag oder in einer einzigen Nacht ein Haus fortgeschwemmt, die Familie verschwand an einen höhergelegenen Ort.

      Nachts auf den Hügeln leuchteten die Lichter der Shantytowns wie wachsame Augen. Die klapprigen Häuser standen dicht gedrängt, kletterten übereinander, als wäre es so behaglicher. Die Straße, die sich den Hang hinaufschlängelte, war gepflastert und stank nach zermatschtem Obst, Ungeziefer lag aufgebläht und tot in Pfützen. Wo sie ölig waren, erschienen Bruchstücke von Regenbogen. In den Straßen selbst roch es übel und faulig, sonnenverbrannte Kinder verwahrlosten in übergroßen T-Shirts, trugen Schuhe mit Löchern, in denen eigentlich Schnürsenkel stecken sollten, und jagten abgemagerten wilden Hunden nach.

      Aber hier auf dem flachen Land, wo sich das Haus der Blumen befand, waren keine Müllhaufen zu sehen. In Favelada herrschte lange schon Ordnung. Samuel und Anna und tausend andere Migranten hatten das Kostbarste mitgebracht, was Favelada je gesehen hatte: Frieden und Familie. Und obwohl in den windschiefen Häusern weiter die Fernseher plapperten und das Gezänk das Viertel nie lange verließ, schien die Zeit der Zerstörung – die der Müllkriege – vorbei zu sein. Ja, Favelada war arm, aber es gab Lehrer wie Samuel. Eine Meile weit entfernt gab es eine Bibliothek. Ein Arzt aus Zerbera und ein Zahnarzt aus Oameni Morti bauten kostenlose Kliniken am Rande der Stadt. Schulen wurden eröffnet.

      Und das Ödland, wo die Bewohner von Favelada ihren Müll abluden, wurde von einem Mann namens Alberto Torres übernommen. Einem Geschäftsmann. Er baute Unterkünfte in der Nähe und ließ die Bewohner dorthin umziehen, und in einem fünf Jahre andauernden Anfall von Wahnsinn baute er einen Turm sechzig Stockwerke hoch in den Himmel. Den Torre de Torres, den Turm von Torres. Den Monolithen. Er wohnte dort ebenso wie seine Söhne und Töchter und die Söhne und Töchter seiner Söhne und Töchter und seine entfernten Vettern zweiten Grades und alle Menschen namens Torres, die behaupteten, weitläufig mit ihm verwandt zu sein, und Menschen, die nicht Torres hießen und auch nichts dergleichen behaupteten. Der Sohn von Alberto Torres, Alberto Torres II, neigte zu Anfällen syphilitischen Wahnsinns und ernannte sich später selbst zum Bürgermeister des Turms. Er sah zu, wie sich sein Vetter fünfzehnten Grades, der so verrückt war wie ein Kuckuck im Einmachglas, mit einem Fallschirm, der nicht aufging, aus dem fünfzigsten Stockwerk stürzte.

      Aber das war lange nach den Müllkriegen und lange vor dem Aufstand und dem Aufstieg des Krüppels namens Nacho, der sich in seinem Holzbett wälzte, ein Buch vor der Nase, während sein zerzaustes Haar auf seinem Schädel wucherte wie Unkraut auf einem Feld. Seine Mutter setzt ihn sich auf den Schoß und kämmt es von hinten, entwirrt die verhedderten Haare und lässt sie gleichmäßiger wirken, den Anschein erwecken, als würden diese abtrünnigen Gewächse zumindest alle in dieselbe Richtung streben.

      Und wenigstens wachsen sie. Der Rest seines Körpers nicht. Mit zwölf ist er einen Meter dreiundfünfzig groß und so wird es sein Leben lang bleiben, obwohl ihn sein Haar an windigen Tagen vielleicht sogar auf einssiebenundsechzig bringt. Es hat auch seine Vorteile. Er gewinnt beim Versteckenspielen, rollt sich in einem Wäschekorb in einer Zimmerecke ein. Und er beherrscht das ungesehen Umhergehen, das aus dem Halbdunkel Beobachten, er passt in Ritzen und Spalten, in die sonst niemand schaut. Er hat die Farbe eines Indios, leicht bräunlich, aber kaukasische Züge – eine gerade, kräftige Nase, dünne Lippen, blaugraue Augen. Obwohl sein Körper krumm und verkrüppelt ist, wirkt sein Gesicht engelhaft. Er wird immer jünger wirken, als er ist. Erst die Sorgen seines späteren Lebens, die Auseinandersetzungen mit Armeen, Despoten und Bürokraten, werden ihm das engelhafte Aussehen nehmen, ihm die Falten und Furchen des Mannseins bescheren.

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      Emil, der Rabauke, nimmt Sachen auseinander und repariert sie. Bei seinen Streifzügen findet er einen von Unkraut halb überwucherten, stehen gelassenen Wagen. Er klettert in die rostige Karosserie, dann wieder heraus. Er öffnet die Motorhaube und spielt mit dem Motor, versucht irgendetwas zu zünden.

      An einem anderen Tag findet er ein kaputtes Radio auf einer Müllhalde und nimmt es zum Reparieren mit nach Hause. Er zerlegt es auf dem Familientisch, Samuel beugt sich über ihn, Emil sucht, dreht und steckt Nägel hinein, wo keine hingehören.

      »Was machst du da?«, fragt sein Vater.

      »Ich baue einen Roboter.«

      Als Nacho dreizehn ist, fahren Emil und er mit dem Bus zum Fluss. Die Sonne brennt und sie ziehen ihre Schuhe aus, tauchen die Füße ins Wasser. Emil geht zu einem Haufen von Zweigen und Schilf am Ufer und sieht sich neugierig um, hebt kleine Äste auf. Sie gehen weiter und finden einen Berg Gerümpel, Holzreste und ein Brett auf einem Bett aus schmutzig braunem Schaumstoff. Nacho sitzt auf einem Felsen, krempelt sich die Hosenbeine hoch und sonnt sich, sein verkümmertes Bein baumelt hinunter. Emil beginnt ein Floß zu bauen, zieht Stöcke aneinander und bindet sie mit Zwirn zusammen. Er lässt es zu Wasser, aber es sinkt, bis nur noch ein Lumpenfetzen, der das Segel war, zu sehen ist. Dann geht auch dieser leise unter, hinterlässt Ringe auf dem Wasser.

      Sie werden noch viele Male an diesen Fluss gehen, noch viele Boote bauen, und sie werden kippen, beben und schließlich untergehen. Und Emil wird immer weiter Boote bauen, eines Tages viele Menschen damit retten und zur Liebe seines Lebens fahren.


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