Damnificados. JJ Amaworo Wilson

Damnificados - JJ Amaworo Wilson


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sollen wir sonst tun?«, fragt Nacho. »Gehen wir nach Hause? Nehmen wir unsere Familien wieder mit zurück in unsere armseligen Hütten, in unsere Pappverschläge unter den Brücken? Oder beten wir zu Gott, dass er uns in diesen verdammten Ort eintreten lässt? Sieh nur. Die Sonne geht auf. Auch das kommt von Gott. Ein neuer Morgen bricht an.«

      Nacho steht vor ihr, während das Licht ihr Gesicht gelb färbt, eine Maske aus Linien und Vertiefungen. »Gott hat uns hergebracht. Vielleicht aus einem bestimmten Grund.«

      Hans, gerade erst aus den Wäldern zurückgekehrt, geht auf Nacho zu und sagt: »Du musst hineingehen, Nacho, warum gehst du nicht als Erster? Nimm den Chinesen mit.«

      Und das macht Nacho. Der Riese und der Krüppel gehen gemeinsam, einer mit dem Gang eines Wrestlers, der andere humpelt auf wurmstichigen Krücken.

      »Der Turm ist verflucht«, sagt die Frau zu sich selbst. »Wir können nicht rein.«

      Der Chinese tritt erneut gegen die Überreste der Tür, die er eingetreten hatte, Splitter prasseln in Staubwolken herunter. Nacho und er betreten die Vorhalle, wo sie die schlafenden Wölfe geholt hatten. Im Sonnenlicht sehen sie alles, was ihnen in der Nacht verborgen geblieben war: Auf dem Boden liegen Abfälle, Knochen, bröckeliger Stein. Der Raum ist eine kleine Höhle. Auf beiden Seiten befindet sich eine Treppe. Hinten ein offener Fahrstuhlschacht. Modernde Papierstapel, Schimmel kriecht die Wände hinauf.

      Nacho und der Chinese gehen über die beiden Treppen, jeder über eine. Die Stufen sind flach, ausgetreten. Nacho schleppt sich in das Stockwerk darüber. Ein Gang. Der Chinese taucht auf der anderen Seite des Gebäudes auf. Kleine Apartments. Zehn auf jedem Gang. Nacho zählt bereits, überlegt, wie viele Damnificados sie sind, wer kommt in die oberen Stockwerke und wer nach unten. Wie bringt man jemanden fünfzig Stockwerke hoch im Himmel unter, wenn der Fahrstuhl kaputt ist? Wie löst man das Problem: Die Älteren müssen in die niedrigeren Stockwerke, aber dort werden auch die Krieger gebraucht, denn wenn der Turm angegriffen wird, dann zuerst dort.

      Wie kann er seine Beziehungen nutzen, damit wieder Wasser in den verrosteten Leitungen fließt? Wie ein Gemeinwesen aufbauen in dieser hoch aufragenden Gruft?

      Er bahnt sich einen Weg in die Vorhalle zurück und will die Damnificados gerade rufen, als er sie langsam, wie Zombies, durch den Eingang strömen sieht. Familien mit schlafenden Kindern über den Schultern. Männer mit Dreadlocks so alt wie Methusalem.

      Gebeugte Schultern, die Menschen verlieren sich in ihren Mänteln, Taschen und Mützen, die in der morgendlichen Hitze ungeeignet sind.

      Und er denkt: »Das ist es. Das ist der Anfang.«

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      »Zweifle nie daran, was hundert Seelen vollbringen können, sofern Zeit und Not vorhanden sind.« Don Felipe Holguin steht vor Nacho. Ein Priester in Sandalen. Unrasiert, grau. Er ist groß und leicht gebeugt, hat aber die Nase des Boxers, der er einmal war, bevor er den Ruf des Herrn vernahm.

      »Wir haben sechshundert Seelen«, sagt Nacho.

      Damnificados. Die Ärmsten der Armen, sie erklimmen die Höhen des dritthöchsten Gebäudes der Stadt. Sicarios. Messerstecher. Auftragskiller. Bandidos. Flink, mit kaltem Blick. Die Unheiligen, die Unbehausten, angeführt von einem Lahmen. Nacho teilt die Damnificados in Sechsergruppen ein, lässt die Familien zusammen. Ein Viertel von ihnen kennt er mit Namen.

      »Nur in kleinen Gruppen werden sie etwas zustande bringen«, sagt der Priester zu ihm. »Mehr als acht, und sie bilden Fraktionen, dann geht alles zur Hölle. Hab ich schon erlebt.«

      Zuerst schreibt Nacho die anstehenden Aufgaben in drei Sprachen an große Tafeln. Schutt zusammenfegen, Abfall entfernen, Böden schrubben, undichte Stellen stopfen, Mauern wiederaufbauen, Ungeziefer töten. Er sieht Unverständnis und ihm fällt wieder ein, dass die meisten Damnificados nicht lesen können. Er spricht mit ihnen, erfährt, wer was machen kann. Unter ihnen findet er einen Soldaten, einen Ingenieur und einen Mechaniker. Er bestimmt Aufgabenleiter in den jeweiligen Gruppen. Ruft diese zusammen. Sagt ihnen, was sie tun müssen und welches Werkzeug sie dafür benötigen. Sie kehren in ihre Gruppen zurück und leiten diese an. Die körperlich Kräftigeren kommen weiter oben ins Gebäude.

      Er sendet eine Delegation aus, die Besen, Schrubber, Schubkarren, Hämmer und Nägel suchen soll. Sie durchkämmen die Müllhalden, betteln und borgen. Eine Gruppe älterer Frauen baut einen Rost vor dem Gebäude auf und grillt darauf Mais, Kochbananen, Hühner- und Schweineabfälle. Eine weitere Gruppe sendet er als Spähtrupp aus, damit sie in der Umgebung Land findet, wo sie Nahrung anbauen können. Kleine Beete.

      »Wir werden Farmer«, sagt er. »Karotten, Kartoffeln, alles was wachsen will. Und auch Bäume. Es gibt keinen Schatten. Wir brauchen Bäume, damit sich die Alten daruntersetzen können. Und um Vögel anzulocken.«

      »Wozu wollen wir Vögel anlocken? Die werden unser Essen stehlen«, sagt Regenmantel.

      »Weil Vögel singen. Hier gibt es keine Musik.«

      »Dann gründen wir einen Chor«, sagt der Priester.

      Der Ingenieur baut ein System aus Seilen und Flaschenzügen, um Werkzeug, Wasser und Lebensmittel in die höher gelegenen Stockwerke zu transportieren. Aber es gibt keine Seile, die lang genug sind, um über den zehnten Stock hinauszureichen. Nacho beschafft ein Moped. Dann lässt er auf die äußere Treppe Holzbretter legen, die in langen Diagonalen aufsteigen. Ein ehemaliger Armee-Mechaniker versieht das Moped mit verstärkten Reifen und jetzt fährt es mit Waren beladen Tag und Nacht dröhnend die Planken hinauf.

      Die Räume des Monolithen sind zugemüllt mit Schutt und Abfall. Vertrocknete Käferleichen und Kakerlaken sprenkeln den Boden. Nacho betritt einen Raum im ersten Stock, sucht seine Basis und stößt auf die Überreste der Bewohner von vor langer Zeit: ein zerfallener Stuhl, eine stockfleckige Decke voller Wolfshaare, sechs umgekippte Weinflaschen, die sanft aneinanderklirren, im Wind hin und her rollen, der durch das fensterlose Loch in der Mauer bläst. Er schaut durch das Loch nach draußen. Denkt: »Im ersten Stock kann ich den Eingang sehen und die Straße, die man überqueren muss, wenn man herwill.« Aber irgendwas gefällt ihm nicht an seinem Blickfeld hier. Er kann das große Ganze nicht sehen. Ich muss höher, sagt er sich. Aber dann muss ich auf meinen Krücken Treppen steigen. Er zwingt sich ein weiteres Stockwerk hinauf, betritt einen Raum, den eine Familie gerade fegt. Sie nicken ihm zu und wollen gehen.

      »Nein, bleibt«, sagt er.

      Er humpelt an das herausgewehte Fenster und schaut erneut auf die Straße. Jetzt ist die Perspektive schon besser. Er kann über die Bodegas und die Straßenverkäufer hinwegsehen. Aber zufrieden ist er noch nicht.

      »Was geht dir durch den Kopf?«, fragt der Priester.

      »In welchem Raum ich wohnen soll.«

      »Warum?«

      »Ich muss die Umgebung sehen.«

      »Warum?«

      »Weil ich gerne weiß, wer kommt. Wenn sie hören, dass wir das Gebäude eingenommen haben, werden sie kommen. Früher oder später.«

      »Wer sind sie

      »Ich weiß nicht. Die Gangs. Die Polizei. Die Armee. Die Politicos. Ich weiß es nicht, aber es wird jemand kommen, der es auf uns abgesehen hat.«

      »Nacho«, sagt der Priester, »was willst du machen? Jede Nacht wach bleiben, die ganze Nacht und nach Feinden Ausschau halten? Du hast hier sechshundert Augenpaare. Die können für dich Ausschau halten. Du musst dir nicht alles alleine auf die Schultern laden. Ehrlich gesagt sind deine Schultern gar nicht dafür gebaut.«

      Und so bezieht Nacho ein Zimmer im ersten Stock und bittet den ehemaligen Soldaten, Wachen zu organisieren, rund um die Uhr auf drei Ebenen und auf allen vier Seiten: im sechzigsten Stock, von dem aus man meilenweit sehen kann, einen Konvoi oder einen Panzer eine halbe Stunde, bevor er durch den Verkehr herankommt, entdecken würde. Vier Paar Augen die ganze Zeit, im Norden, Süden, Osten und Westen. Auch im dreißigsten Stock werden vier Späher


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