Damnificados. JJ Amaworo Wilson

Damnificados - JJ Amaworo Wilson


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»Wie kommen wir sonst in den Turm?«

      »Das nennt ihr einen Hund?«, sagt ein anderer.

      Nacho tritt vor. Er betrachtet das Biest mit zusammengekniffenen Augen und sagt flüsternd: »Du hast Recht. Das ist kein Hund. Das ist ein Wolf.«

      »Das kann kein Wolf sein«, sagt Schubkarre. »Wölfe leben nicht in der Stadt.«

      »Dieser schon«, sagt Nacho.

      Regenmantel wendet sich an Nacho. »Dann ist es eben ein Wolf. Das heißt, wir töten ihn.«

      Nacho sagt: »Nicht ihn. Es muss heißen: sie. Da sind noch mehr.«

      »Woher weißt du das?«

      Hinter dem Wolf bewegt sich etwas, eine Versammlung.

      »Weil er um Hilfe gerufen hat.«

      Ein Dutzend weitere Wölfe tappen in Sichtweite. Sie haben jeweils nur einen Kopf, sind schlank, haben die Ohren aufgestellt, ihre Blicke sind kalt. Sie starren die Armee an, während die Armee zurückstarrt.

      »Wir haben Schusswaffen«, sagt einer der vermummten Damnificados. »Wir können Warnschüsse abgeben.«

      Nacho schüttelt den zerzausten Kopf. »Wenn du einen Schuss abgibst, bricht die Hölle los. Die reißen uns die Kehlen raus.«

      »Wir müssen das Gebäude einnehmen. Lasst sie uns töten«, sagt Regenmantel. »Dann braten wir sie.«

      Niemand rührt sich. Der zweiköpfige Wolf starrt Nacho an. Nacho wendet sich ab und spricht.

      »Macht Feuer. Hier liegt überall Abfall herum, Holz und Papier. Baut alle zehn Meter um den Turm herum eine Feuerstelle. Wo sind die Zwillinge?«

      Hans und Dieter treten vor.

      »Kommt mit. Wir brauchen den Truck eures Vaters.«

      Rings um den Turm herum fließt ein Strom aus Schutt und Schlamm, aus Zeitungen, zermatschten Pappkartons und kaputten Holzkisten.

      Die Hälfte der Damnificados steht mit dem Blick zur Tür Wache, Waffen in den Händen – Rasiermesser, Springmesser, Gewehre aus dem Zweiten Weltkrieg, Pistolen, die wie Wasserpistolen aussehen, Knüppel, Metallteile, Stöcke, Steine und Flaschen. Die andere Hälfte streift durch den Müll und fischt alles Brennbare heraus. Die Kinder gehen in die Hocke, senken die Köpfe, forschen mit den Fingern. Eine Frau aus einer Shantytown namens Mundanzas zieht ihren Schleier ab und sagt zu Schubkarre:

      »Wieso nimmst du den Hund nicht raus und lässt uns die Schubkarre zum Holzsammeln nehmen?«

      »Warum steckst du dir das Holz nicht dahin, wo die Sonne nie scheint?«

      In Gruppen häufen sie Abfälle auf. Ein Mann findet einen Kanister Kerosin und geht an jeden Haufen und gießt ein bisschen was drauf. In ihrer Angst beobachten sie weiter den Eingang, wo sich die Wölfe scharen. Dann zünden die Damnificados die Haufen mit Streichhölzern und Feuerzeugen an. Schon bald ist der Turm von einem Ring aus kleinen Feuern umgeben, die Wölfe ziehen sich in die Dunkelheit zurück und einige der Älteren erinnern sich an die Legende von Las Bestias de la Luz Perpetua aus einer Zeit, bevor sechzig Stockwerke hohe Türme im Zentrum der Stadt gebaut wurden.

      Eine Stunde vergeht. Kinder verstecken sich hinter den Beinen ihrer Eltern, spähen dazwischen hervor und verschwinden wieder, und die Damnificados stehen, sitzen oder hocken, warten, während die Flammen sie zu Helden machen, so wie Flammen dies stets tun. Im flackernden Licht ist ihr Schmutz verschwunden, auch ihre Lumpen. Ihr Hunger. Im flackernden, knisternden Licht werden sie zu alten Kriegern, reglos wie Marmorgötter.

      Ein Pick-up fährt heran und Nacho und die Zwillinge steigen aus der Fahrerkabine. Hans trägt eine schwere Plastiktüte. Er stellt sie auf einen aus Sperrholz improvisierten Tisch, und Nacho zieht Mörser und Stößel aus einer kleineren Tüte, Dieter und er zerstoßen weiße Pillen. Hans zieht dünne Scheiben Fleisch von der Größe einer Männerhand aus der ersten Tüte und sie reiben das Pulver ins Fleisch, kneten es ein, falten und entfalten das rohe Steak.

      Als es fertig ist, tragen Dieter und Hans das Fleisch in Stapeln zur Tür des Monolithen. Sie werfen die Stücke in den Eingang und die Steaks landen, klatsch, klatsch, klatsch, auf dem Boden.

      Zehn Minuten vergehen, bis der erste Wolf in Sicht schleicht. Er beschnuppert das Fleisch, schnüffelt, hebt den Kopf. Eine Art Opfergabe. Er dreht sich einmal langsam im Kreis, atmet schwer. Plötzlich lässt er den Kopf sinken. Er reißt mit den Zähnen am Fleisch und schon bald folgen die anderen Wölfe. Hans und Dieter sehen einander an. Der letzte Wolf, der auftaucht, ist das zweiköpfige Ungeheuer. Es nimmt sich seinen Anteil.

      Regenmantel wendet sich an Nacho: »Was ist das? Fütterungszeit? Wir sollten sie töten, nicht ernähren.«

      Die Wölfe haben das Fleisch in die Dunkelheit gezogen, und während sie sich darüber hermachen, hört man Krallen auf Stein schlagen und kratzen.

      Nacho nickt den Zwillingen zu.

      Dreißig Minuten vergehen. Die Zwillinge und der Chinese treten bis auf fünf, drei, zwei Meter an die zersplitterte Tür heran. Stille. Hans geht hindurch. Er verschwindet für ein paar Sekunden, dann kommt er heraus. »Es hat funktioniert«, sagt er. »Sie schlafen alle.«

      »Gut«, sagt Nacho. »Dann müssen wir uns beeilen. Die Wirkung wird nur noch ein oder zwei Stunden lang anhalten.«

      Die Zwillinge und einige der anderen gehen vorsichtig hinein, dicht gefolgt von dem Chinesen, der seinen Knüppel schwingt, und sie packen die schlafenden Wölfe auf die Ladefläche des Trucks. Sie ziehen Streichhölzchen, wer das zweiköpfige Ungeheuer nehmen muss, der Chinese verliert und packt das Tier am Bauch, zieht die Köpfe mit den Füßen hinterher. Er wirft die Bestie auf den Haufen.

      Hans und Dieter steigen in den Truck und Hans fährt davon. Er wird weiterfahren, bis sie die Außenbezirke der Stadt erreichen, wo die Wälder tief sind und regenfeucht, wo sich ein Wolf verstecken, wo er laufen, leben und sterben kann.

      KAPITEL 2

      Tageslicht am Turm – Eingang – Don Felipe, der Priester – Ein Zuhause erschaffen – Hauptstützpunkt – Aussichtspunkte – Mutierte Ratten verbrennen – Lalloo organisiert Strom – Maria – Die Schule der Damnificados

      Die nächtlichen Feuer schwelen nur noch. Die ersten Sonnenstrahlen brennen eine Ellipse in den Horizont und das zunehmende Licht wird eingetrübt durch den Rauch und den Nebel der Stadt. Während die Sonne auf die Shantytowns von Slomlejna Ruka, Fellahin, Dieux Morts, Sanguinosa scheint, verwandelt eine Explosion aus Licht die Hügel in ein Mosaik aus funkelnden Spiegeln. Die Stille wird durchdrungen vom Krähen der Hähne und dem abgehackten Kläffen der Hunde. Irgendwo brummt ein Truck.

      Die Damnificados beginnen sich zu regen. Sie haben die ganze Nacht gewartet, Höllenhunde gesehen, die sich als Wölfe entpuppten, sie haben sich an Feuern gewärmt, ihr mitgebrachtes Essen gegessen – rohe Kartoffeln, ein bisschen Brot – und jetzt wird es Zeit, den Turm in Besitz zu nehmen.

      »Die Wölfe sind weg«, sagt Nacho zu einer dicht beieinander kauernden Familie. »Wir können rein.«

      Er geht mit ihnen, seine Krücken hinterlassen eine Spur aus Punkten auf dem Boden.

      »Der Turm gehört uns«, sagt er.

      Niemand rührt sich.

      »Er ist verflucht«, sagt eine Frau. Sie steht auf. Schmutzige Stirn, durchzogen von Falten, ihr Gesicht eine Straßenkarte von Sanguinosa. Sie mag fünfundsechzig sein oder vielleicht dreißig. Niemand kennt das Alter eines Damnificados. Ihre Gesichter sind Ansammlungen von Furchen, Tälern, Kratern, unerwarteten Ausbrüchen von Hässlichkeit. »Das Tier ist ein Zeichen von Gott. Wir können nicht rein.«

      Nacho bleibt stehen, wuschelt sich durchs Haar, wendet sich zu ihr um.

      »Ich verstehe dich«, sagt er.

      »Nein, tust du nicht«, sagt sie. »Es gibt Dinge von


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