Damnificados. JJ Amaworo Wilson

Damnificados - JJ Amaworo Wilson


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Fünfzig Corazons für Kinder. Neugeborene sind kostenlos.«

      In der Schlange stehen lauter Kinder, Hunde, alte Frauen, Betrunkene, ehemalige Bergarbeiter, Trauernde, Geschlagene. Allesamt Damnificados.

      Nacho zieht weiter, sieht ein improvisiertes Schild an der Tür der Bäckerei: »Bilt von ›Jesus Christus‹ 1 Libro 1 Minute, Unter 12 Jahre 50 Crzn, Neugeborene umsonst.«

      Ein brasilianischer Farmarbeiter erkennt ihn und sagt: »Tritt ein, Nachinho. Pode entrar. Voce nao precisa ’sperar com’a gente.«

      Nacho dankt ihm und sagt, dass er wie alle anderen in der Schlange warten wird. Er geht wieder zurück ans Ende. Als Nächstes kommt eine Familie, die Augen der Kinder strahlen, jedes trägt eine Plastikpuppe, mit der es Französisch spricht. Dann ein paar einzelne Nachzügler, ein Mann, der ein Spinnennetz ins Gesicht tätowiert hat, ein Junkie auf Entzug, eine Frau mittleren Alters gestützt auf einen Stock. Nacho denkt, ich kenne diese Menschen nicht. Erreicht man eine gewisse Anzahl, eine gewisse Masse, verliert man den Bezug.

      In der Schlange geht es nur langsam voran, jeder hat eine Minute. Nacho sieht, wie sich die Wolken zusammenziehen, sich für das Gewitter des Tages bereit machen. Sie warten dort im harten Licht, ein Fresko der Verdammten, schlurfen weiter, um den Herrn zu betrachten. Als Nacho sich der Tür nähert, sieht er die Besucher nach Ablauf ihrer Minute herauskommen. Eine dicke schwarze Frau kommt an ihm vorbei, bekreuzigt sich. Eine Minute später folgt ihr ein Säufer, der ruft: »Es ist Jesus! Es ist Jesus!«, dann erleidet er einen Hustenanfall.

      Nacho sieht jetzt den Eingang zur Bäckerei. Er ist mit einem schwarzen Tuch verhangen und davor sitzt einer der Bäcker auf einem Hocker. Sein Bruder steht neben ihm, eine große Farbdose in der Hand. Die Dose ist voller Geld. Sie sehen Nacho.

      »Du musst nicht zahlen. Komm herein.«

      Die Schlange teilt sich, als sie ihn durchlassen.

      Sie ziehen den Schleier beiseite und Nacho tritt ein. Er ist hundert Mal dort gewesen. Der vertraute Geruch nach gebackenem Brot, die aus Milchsteigen gezimmerten Regale, der Tresen aus Linoleum und Glas. Er wird in den Bereich weiter hinten geführt, wo der Ofen die halbe Wand einnimmt. Zwei weitere Brüder noch in ihren weißen Kitteln machen ihm Zeichen, er möge vortreten. Nacho bleibt an einem Tisch stehen, beugt sich darüber und sieht einen großen ovalen Laib auf einem Stück Papier. Darauf in einem dunkleren Braunton eingeprägt ist der exakte Umriss von Christus am Kreuz, die Arme diagonal, die Knie gebeugt, der Kopf geneigt. Das Kreuz erstreckt sich über die Länge des Laibs.

      »Wir haben es heute Morgen gebacken«, sagt einer der Brüder. »Es kam so aus dem Ofen. Ich hab’s gleich gesehen. Und Harry hier gerufen.«

      »Er hat mich geweckt«, sagt Harry.

      »Ich musste sicher sein, dass ich mir’s nicht bloß einbilde.«

      »Der Mistkerl hat mich geweckt und gesagt, Jesus ist auf einem Brot.«

      »Hab ihn geweckt. Er hat es sich angesehen.«

      »Hab’s mir angesehen.«

      »Hat gesagt, das ist Jesus am Kreuz. Ich hab dann noch die anderen Brote gebacken. Die Leute müssen trotzdem essen, Jesus hin oder her.«

      »Und ich hab die Glocke geläutet, gesungen, allen erzählt, was ich gesehen habe.«

      »Harry hat gesungen. Hat eine ganz schöne Stimme. Dad hat gesagt, schreib ein Schild, lass die Leute bezahlen.«

      »Hab ein Schild geschrieben.«

      Nacho sagt: »Was wollt ihr machen mit dem Brot?«

      Harry und der andere sehen einander an.

      Harry: »Wir wissen es nicht. So weit sind wir noch nicht. Vielleicht stellen wir’s ins Museum?«

      Der andere Mann: »Mach einen Rahmen drum. Stell’s auf ein Podest.«

      Nacho: »Auf einen Sockel. Da wird es schimmeln.«

      Harry: »Vielleicht nicht. Ist ja ein Wunderlaib.«

      Harry nickt zur Bestätigung seiner eigenen Bermerkung. »Ein Wunderlaib.«

      Aber es sollte keinen Rahmen und keinen Sockel geben. Auch kein Museum.

      Fünf Minuten nachdem Nacho gegangen ist, bezahlt ein Irrer seinen Libro, nimmt den Laib und beißt Jesus den Kopf ab. Die Brüder zwingen ihn zu Boden und Harry hat ihn schon halb erwürgt, als zwei andere seiner Brüder – die Wächter vor der Tür – den Lärm hören, hereinkommen und ihn zurückhalten. Ein Raunen geht durch die draußen wartende Menge.

      »Er hat ihn gegessen«, sagt ein Zehnjähriger.

      »Er hat Jesus gegessen?«, fragt ein Betrunkener, der an der Bäckereiwand schwitzt.

      »Er hat ihm den Kopf abgebissen«, sagt eine Putzfrau aus Agua Suja.

      »Er hat den Herrn ermordet«, behauptet eine Hure, ihre Unterlippe bebt.

      »Er ist ein Teufelsanbeter«, sagt ein Teufelsanbeter aus Fellahin.

      In der Bäckerei macht sich Harry von seinen Brüdern los. Er wendet sich an den Irren. »Dafür wirst du bezahlen!«

      »Hab ich schon«, sagt der Brotbeißer. »Einen. Beschissenen. Libro.«

      Er schluckt die teigigen Überreste des Herrn Jesus und geht zur Tür hinaus in den peitschenden Regen.

      Susana verbringt ihre Zeit mit einer anderen Frau von ähnlicher Statur und Aussehen. Nacho denkt, dass sie vielleicht Schwestern sind, aber er fragt nicht nach. Sie leben zusammen im sechzehnten Stock in einem von Sperrholzplatten unterteilten Raum. Jeden Morgen sieht er sie gemeinsam aus dem Turm zur Arbeit gehen, sie machen in den Häusern der Reichen drüben in der Cadenza Street sauber. Es ist ein langer Weg, aber sie gehen zu Fuß, auch im Regen, um das Fahrgeld für den Bus zu sparen. Manchmal sieht Nacho ihnen von seiner Fensteröffnung aus nach, bis sie in der Rottweiler Avenue und außer Sichtweite sind.

      Einmal dreht Susana sich um und schaut zum Turm zurück und Nacho bewegt sich so schnell er kann vom Fenster weg und bereut es sofort, denn er kommt sich vor wie ein Kind, das bei einem schweren Vergehen erwischt wurde. Dann überlegt er vernünftig: Der Turm hat sechshundert Fenster. Sie hätte auf jedes einzelne von ungefähr hundertfünfzig auf dieser Seite schauen können. Und vermutlich kann sie sowieso nichts sehen, weil ihr der Regen die Sicht verschwimmen lässt. Und selbst wenn sie mich gesehen hat, ich bin nur ein Mann, der aus dem Fenster schaut. Das bedeutet nicht, dass ich ihr nachspioniere.

      Jedenfalls wird Nacho sich bald wegen schlimmerer Dinge Sorgen machen müssen – wegen eines heraufziehenden Unwetters und eines Schwarms, der aus dem Himmel kommt, um sie alle zugrunde zu richten.

      KAPITEL 6

      Das Wasser steigt – Achthundert Brote – Das Geplapper – Stromausfall – Gilgamesch – Vishnu – Streit im Turm – Eine Moskitoplage – Die Damnificados zittern – Gerettet von Libellen – Eine Botschaft an die Außenwelt – Rettung

      Der Regen peitscht das Land. Er prasselt in gewaltigen Massen herunter, jeder einzelne Tropfen detoniert an den Mauern des Monolithen und auf dem alten zurückeroberten Ödland. Die Straßen sind überschwemmt vom Wasser, schlammig braun und pockennarbig von Millionen Tropfen. Strichmännchen rennen durchweicht durch die Straßen, halten sich Plastik oder Styropor zum Schutz über die Köpfe. Autos werden stehen gelassen, die Motoren husten wie alte Männer.

      Die ersten Regenfälle, die Agua Suja und Oameni Morti überfluteten, waren nur das Hors d’œuvre, ein kleiner Vorgeschmack.

      In Mundanzas, Sanguinosa und Blutig, wo die Städte an fruchtbares Land und Regenwälder grenzen, wachsen über Nacht riesige Blätter. Pflanzen schießen mannshoch auf und Blumen erblühen mit gelben und violetten Staubgefäßen. Sämtliche Tiere sind bereits fort, auf höhere Ebenen geflogen, gesprungen, galoppiert oder gekrochen. Zwei Tage bevor der Regen kam, gab es Berichte, Dutzende von Schlangen seien gesehen worden, wie sie


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