Damnificados. JJ Amaworo Wilson

Damnificados - JJ Amaworo Wilson


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wenige Siedlungen bleiben in Gudsland und Balaal, wo das Wasser einst süß war und man alles anbauen konnte: Yams, Mais, Bohnen, Reis. Hinter den Plastikverblendungen ihrer Holzhäuser oder unter Vordächern aus Bananenblättern spähen die Gesichter der Damnificados hervor. Sie sind weit weg von allem. In der Ferne sehen sie, wie Straßen weggespült werden. Der Boden unter ihren Füßen gerät in Bewegung.

      Auch am Rand von Favelada steigt das Wasser. Die neue Tür des Turms steht schon halb unter Wasser, der Chinese zieht seinen verstärkten Stuhl in Nachos Zimmer im ersten Stock und schaut über die Sintflut hinweg. Er beugt sich vor, kneift die Augen zusammen gegen den Regen, der durch die Fensteröffnung peitscht.

      Nacho ist bei den Bäckern oben.

      »Harry, wie viel Teig hast du?«

      Harry sitzt auf seinem Hocker im Hauptteil des Ladens, der Ofen befindet sich hinter ihm, im anderen Raum.

      »Warum?«

      »Die Straßen sind weg. Vielleicht können wir tagelang nicht raus. Das bedeutet, wir können keine Vorräte holen. Wie viel Brot kannst du backen?«

      »Ich bin Bäcker. Nicht Jesus. Ich lasse mit meinem Brot keine Wunder geschehen.«

      »Ich hab dich nicht um ein Wunder gebeten. Ich hab dich gefragt, wie viel Teig du hast.«

      Harry schiebt seinen fleischigen Körper auf dem Hocker herum, kratzt sich an den Koteletten. »Wir haben keinen Teig. Wir haben Mehl, Hefe, Salz und Wasser. Daraus backt man Brot. Geht auch ohne Salz. Wir machen zweihundertfünfzig Brote pro Tag, dreihundert, wenn wir uns ins Zeug legen. In der Vorratskammer sind Zutaten für etwa drei Tage. Das heißt, ich kann dir ungefähr achthundert Brote backen und du brauchst für jede Familie eins. Mehr geht nicht.«

      »Achthundert«, sagt Nacho. »Hier leben ungefähr achthundert Menschen.«

      »Was du nicht sagst. Hör mal, es ist Regenzeit. Es regnet jedes Jahr. Irgendwann hört es wieder auf und dann wird wieder alles normal.«

      »Schau raus.«

      Harry schaut aus dem Fenster. Und sieht ein Auto vorbeitreiben.

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      Das Unwetter tobt weiter. Nacho lässt die Bewohner in jedem Stockwerk von den Anführern durchzählen.

      »Wozu?«, fragt Regenmantel. »Alle, die nicht hier sind, sind woanders. Und was sollen wir machen? Mit einem Rettungsboot rausfahren? Da draußen bist du entweder bei jemandem zu Hause untergekommen oder schon tot.«

      Aber er tut es trotzdem. Von den Bewohnern des Gebäudes fehlen dreißig bis vierzig, aber einige sind Landstreicher, die sowieso ihr Leben lang vermisst wurden. Ein weiteres Dutzend putzt in Hotels oder Einkaufszentren und wurde dort vom Wetter überrascht, konnte nicht mehr nach Hause zurück.

      Nacho sitzt in seinem Zimmer. Er hat ein Bücherregal, das ihm der Zimmermann gebaut hat, ein paar Kisten als Stühle und einen Schreibtisch. Er liest, während der Regen tost. Er legt sich auf seine Holzpalette. Er hat den Großteil seines Lebens auf Holzpaletten geschlafen. Einmal, mit Mitte zwanzig, hat er in einem Hotel übernachtet. Das brachte ein Übersetzerauftrag für eine Gruppe von Geschäftsleuten mit sich. Er legte sich hin und hatte das Gefühl einzusinken. Mit seinem gesunden Arm versuchte er das Problem zu beseitigen – eine absurd dicke Matratze –, aber sie war zu schwer. Er nahm den Hörer des Hoteltelefons und bat um Hilfe. Dreißig Minuten später traf ein Kellner mit einem Omelett ein. Er rief erneut an und erklärte noch einmal, er bräuchte jemanden, der ihm mit dem Bett helfen würde. Dann wartete er wieder, hörte nach zehn Minuten ein leises Klopfen an der Tür, öffnete und ließ eine Prostituierte herein, mit Absätzen war sie einen Meter achtzig groß.

      »Würden Sie mir helfen, die Matratze vom Bett zu ziehen?«, sagte Nacho.

      Die Frau kam seiner Bitte nach, ohne mit einer ihrer zehn Zentimeter langen Wimpern zu zucken. Gemeinsam zogen sie das Ding auf den Boden, brachten nur die harten Holzlatten und eine dünne Schaumstoffmatte zum Vorschein.

      »Und jetzt?«, fragte die Dame.

      »Danke!«, sagte Nacho.

      Der Monolith ergibt sich dem Geplapper. Familien versammeln sich um den Fernseher, die Kinder sitzen im Schneidersitz auf dem Boden. Aber an Tag drei der Flut scheint das Gebäude zu ächzen, und plötzlich fällt der Strom aus. Die Lampen flackern und erlöschen, die Fernseher knistern kurz, dann werden sie schwarz. Nacho schleppt sich sofort hinauf in die Bäckerei. Die sechs Brüder hocken oder stehen vor ihrem Ofen. Eine Ladung halb fertig gebackenes Brot liegt darin. Sie drehen sich um und schauen Nacho an, als dieser den Raum betritt.

      Harry sagt: »Kein Strom, kein Brot.«

      Nacho ruft die Zwillinge.

      »Wie viele Gaskocher gibt es im Gebäude?«

      Hans zuckt mit den Schultern, wendet sich an Dieter. »Ich weiß es nicht

      Dieter: »Warum stellt er solche Fragen? Ist das ein Quiz? Frag uns was Leichteres.«

      Nacho: »Wir haben keinen Strom. Ich möchte, dass ihr die Anführer fragt, wie viele Gaskocher es auf jedem Stockwerk gibt, damit wir kochen können.«

      »Ah, okay.«

      Zurück in seinem Zimmer dreht er den Hahn auf und es kommt fauliger Schlamm heraus. Er setzt sich auf eine der Kisten. Das monotone Prasseln des Regens lässt nicht nach. Nacho humpelt zum Fenster. Er sieht nichts als einen See aus Wasser fünf Meter unter dem ersten Stockwerk, aber der Wasserspiegel steigt schnell. Die Bodegas sind fast alle weg, entweder fortgespült oder sie stehen unter Wasser; auch die Hütten und Verschläge. Der reißende Strom führt vorbei am Turm, trägt Trümmerteile mit sich, und ein einsamer Strommast treibt in der Flut, dreht sich immer wieder in langsamer Verwirrung.

      Nacho stützt den Kopf auf die Hände, kratzt sich seinen verwuschelten Schopf. Er denkt: »Erst fällt der Strom aus, dann gibt es kein Wasser mehr, kein Abwassersystem. Wie lange können wir durchhalten?« Die Worte einer alten Frau fallen ihm wieder ein. »Das ist ein Zeichen von Gott. Wir dürfen da nicht rein.«

      »Aber wir sind drin«, denkt er, »und jetzt kommen wir nicht mehr raus.«

      Er erinnert sich an das Haus der Blumen. An einen Schmetterling so groß wie ein Buch, der an seinem Gesicht vorbeiflatterte. Er hatte gelbe Flügel. Nachts lag er wach, las im Licht des Mondes, desselben Mondes, der jetzt fast völlig ausgelöscht ist, nur noch ein Schmierfleck aus weißem Wachs.

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      Es klopft an Nachos Tür. Ein kleiner Junge.

      »Mein Vater will wissen, ob heute Schule ist.«

      »Oh! Ja! Ich bin spät dran!«

      Er steigt im Dunkeln in den fünften Stock und kann zunächst nichts erkennen, aber dann gewöhnen sich seine Augen an den Kerzenschein und er sieht, dass der Raum voller Männer, Frauen und Kinder ist. Einige stehen hinten, andere sitzen auf Stühlen in der Mitte, auf dem Boden zwischen den Stühlen oder an den Wänden.

      »Schön, schön, schön«, sagt er. »Der Regen kommt, der Strom fällt aus, die Wasserzufuhr versiegt und alle kommen in die Schule.«

      Kein Geräusch. Sie warten. Nacho bahnt sich einen Weg nach vorne. Direkt vor ihm, auf dem Boden, sitzt Susana, die Frau, die ihn auf eine Weise ansah, die er nicht zu deuten vermochte – Bewunderung, Zuneigung oder einfach Respekt für den Anführer, den Lehrer. Er kratzt sich am Kopf, zieht sich auf einen Stuhl und räuspert sich.

      »Ehrlich gesagt, das mit der Schule habe ich heute wegen des Regens ganz vergessen. Dumm von mir, denn ich hätte wissen müssen, dass ihr kommen würdet. Aber ich kann euch ein paar Dinge über Regen erzählen.«

      Er hält erneut inne, schaut sich um, versucht möglichst, Susana nicht direkt anzusehen.

      »Im Laufe der Geschichte hat der Mensch immer


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