KALTE GIER. Rachel Amphlett

KALTE GIER - Rachel Amphlett


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die bereits die ersten Anzeichen von neuen Trieben zeigten. In ein paar Monaten würde die breite Straße von blassrosa und weißen Blumen umrahmt werden, die die Alle im Wechsel zierten. Die Straße lag ruhig. Der Berufsverkehr und der Schulanfang waren bereits seit über einer Stunde vorüber. Vereinzelt fuhren Autos an ihrem Parkplatz vorbei und brachten ihr Fahrzeug sanft ins Schaukeln. Währenddessen saß sie nur da und sammelte ihre Gedanken.

      Ein Mann kam aus Richtung der Häuser direkt auf ihren Wagen zu und polierte seine Brille, bevor er sie wieder auf die Nase setzte. Sarah beobachtete im Rückspiegel, wie er sich näherte. Als er auf Höhe ihres Autos war, schien er langsamer werden zu wollen, überlegte es sich dann aber anscheinend anders und ging weiter, bevor er schließlich in einer Seitenstraße verschwand.

      Sie griff nach dem Paket, das auf dem Beifahrersitz lag. Sie hätte Peters Handschrift überall erkannt – vier gemeinsame Ehejahre und sechs Jahre, in denen sie seine hastig hingekritzelten Vorlesungsunterlagen abgetippt hatte, ließen bei ihr keinen Zweifel aufkommen, wer ihre Adresse auf den gepolsterten Umschlag geschrieben hatte. Zärtlich strich sie mit ihrer Hand über die Schrift und zog dann den Inhalt heraus. Nachdem Dan gegangen war, hatte sie sie ein wenig besser sortiert. Ein kompletter Satz von Peters jüngsten Vortragsunterlagen, zusammengeheftet mit Zeitungsausschnitten, Fotos und einer Liste der bibliografischen Referenzen, die nach dem Erscheinungsdatum angeordnet war.

      »Welcher Sache bist du nur auf die Spur gekommen, Pete?«, flüsterte Sarah leise vor sich hin.

      Nachdem sie ihren Sicherheitsgurt gelöst hatte, fasste sie nach dem Griff der Türe und öffnete sie. Danach stieg sie aus und beugte sich noch einmal in den Wagen, um ihre Tasche herauszuholen.

      Die Explosion veranlasste sie, sich instinktiv hinter die Autotür zu ducken, die ihr nun als Schutzschild diente. Ein Schwall warmer, stauberfüllter Luft schoss an ihr vorbei, als sie in den Wagen zurücksprang und versuchte, aus dem Weg zu kommen. Sie schloss ihre Augen fest, keuchte, als die Luft aus ihren Lungen herausgepresst wurde.

      Sarah spürte, wie das ganze Fahrzeug von der Druckwelle nach hinten geschoben wurde und sie dabei mit sich zog. Die Reifen quietschten vor Protest, als die Kraft der Explosion gegen die Feststellbremse ankämpfte, während Sarah um ihr Gleichgewicht ringen musste.

      Nachdem das Dröhnen der Explosion verstummt war, kletterte Sarah aus dem Auto, schob den Kopf über die Wagentür und betrachtete ungläubig die sich darbietende Szene. Papier und andere Überbleibsel, die immer noch brannten, flatterten durch die Luft. Der Alarm eines Autos gellte die Straße entlang. Sarah schob sich ihre Haare aus den Augen und blinzelte. Ihre Ohren klingelten, ein hohes Pfeifen, das in ihrem Schädel nachhallte.

      Die rechte Seite des Hauses war verschwunden. Auf der gesamten Straße lagen Glasscherben verteilt, Schrapnelle steckten in dem Telefonmast, der jetzt gefährlich schräg über die Straße ragte. Die Kraft der Druckwelle hatte die Vorderseite zerstört und sie über das Pflaster verteilt. Dahinter glimmte der verbrannte Rasen noch immer. Der gesamte Garten war jetzt mit Schutt übersät. Flammen und schwarzer Rauch quollen aus der Seite des Hauses heraus, auf der zuvor das Arbeitszimmer gewesen war, während heiße Asche durch die Luft wehte. In der Ferne ertönte eine Sirene. Sarah kehrte bei dem Geräusch wieder zu sich und blickte sich um.

      Dann sah sie ihn.

      Der Mann mit der Brille beobachtete sie von der Seitenstraße aus. Plötzlich begann er auf sie zuzugehen, ohne dabei den Blick von ihr abzuwenden. Sarahs Herzschlag raste. Ihr Instinkt übernahm die Kontrolle. Sie kletterte in ihr Auto und drehte hastig den Zündschlüssel. Der Motor sprang kurz an, würgte aber gleich wieder ab. Sarah starrte panisch in den Rückspiegel … der Mann lief jetzt direkt auf ihren Wagen zu. Ihr Herz pochte, Sarah drehte den Schlüssel erneut.

      »Komm schon«, beschwor sie das Auto mit zitternden Händen.

      Mit einem Stottern startete der Motor, wobei blauer Rauch aus dem Auspuff herausschoss. Sarah machte eine schnelle Kehrtwende auf der Straße, Glas und Schutt rutschten vom Dach und von der Motorhaube, während sie darum kämpfte, das Fahrzeug unter Kontrolle zu behalten. Sie vollführte einen Schlenker, um dem Mann auszuweichen, der jetzt mitten auf der Straße stand. Als er beim Vorbeifahren versuchte, nach dem Auto zu greifen, schrie sie und trat das Gaspedal voll durch. Das Geräusch seiner Finger, die auf der Suche nach einem Halt über die Lackierung kratzten, jagte Sarah einen Schauer über den Rücken, bevor sie mit dem Auto an ihm vorbeischoss.

      Am Ende der Allee bog sie nach links ab und zwang sich, langsamer zu werden, damit die Polizei sie nicht anhielt. Irgendwie glaubte sie nicht daran, dass die Polizei ihr Schutz vor dem Fremden auf der Straße bieten könnte. Ein Aufblitzen im Spiegel ließ sie hochblicken – ein Feuerwehrfahrzeug und ein Polizeiauto bogen gerade in die Straße ein, beide zu spät, um das Haus noch zu retten. Währenddessen stand der Fremde auf dem Bürgersteig, beobachtete sie und polierte dabei seine Brille. Dann drehte er sich um und rannte zu seinem geparkten Fahrzeug zurück.

      Sogleich presste sie ihren Fuß wieder auf das Gaspedal und nahm die Schleichwege durch den Vorort, um jede Verfolgung auszuschließen. Als sie die Sirenen nicht mehr hören konnte, rollte sie an den Straßenrand und holte ihr Telefon heraus.

      Kapitel 7

      

      Streifen von Sonnenlicht brachen strahlend durch die Fensterjalousien, während eine Krähe auf einem Baum vor dem Fenster lauthals krächzte. Ein Van fuhr vorbei, seine Reifen platschten durch Pfützen aus schmelzendem Eis. Im Hintergrund erklang das verstummende Stottern eines abgewürgten Automotors, und das Geschrei der Kinder, die auf dem Schulhof spielten, hallte fast eine Meile die Straße hinunter. Das Telefon klingelte, laut und unbarmherzig.

      Dan bewegte sich vorsichtig und stöhnte, vergraben unter der Decke, die chaotisch über das Bett verteilt lag. Der Pub war mal wieder eine schlechte Idee gewesen. Er kam dort einfach nie rechtzeitig los.

      »Wer auch immer das ist, lass mich in Ruhe.«

      Das Telefon ignorierte ihn beharrlich in seinem Versuch, Dans Aufmerksamkeit zu erlangen.

      »Zum Teufel noch mal!« Er warf die Decke zurück und schwang die Beine auf den Boden. Dan stand langsam und vorsichtig auf, stolperte zum Schreibtisch in der Ecke und griff nach dem Telefon. »Was?«

      »Dan, ich bin’s, Sarah – ich brauche deine Hilfe.« Sie klang, als wäre sie außer Atem, im Hintergrund war vorbeifahrender Verkehr zu hören. Dan packte den Hörer fester und war auf der Stelle wieder nüchtern.

      »Beruhige dich erst mal. Wo bist du? Was ist passiert? Geht es dir gut?«

      »Der Mann, der Peter ermordet hat … Dan, ich weiß, dass er es war! Das Haus ist explodiert … da ist nichts mehr übrig!« Sarah stockte und schluchzte erstickt. »Er hat mich gesehen … hat versucht, mich zu stoppen!«, brach sie ab. »Ich glaube, er sucht nach mir.«

      Dan suchte schnell nach einer Lösung: »Sarah, hör mir zu. Hör genau zu! Siebenundzwanzig Coltsfoot Street … hast du das? Richtig … ich bin da. Du kannst auf der Einfahrt parken … die ist abseits von der Hauptstraße und das Auto wird nicht gesehen.«

      »Ich kann nicht!«

      »Du kannst das, Sarah. Du musst. Du musst da verschwinden. Er hat auch ein Auto und er wird dich suchen. Er muss erkannt haben, dass du eine Verbindung zu diesem Haus hast.«

      »Ich weiß, ich weiß. Okay, Dan. Ich fahre gleich los. Bitte bleib da, wo du bist, und warte auf mich!«

      »Das werde ich. Und jetzt los.« Dan legte den Hörer auf.

      Nachdem er eine halbe Minute geduscht hatte, zog er ein Paar ausgeblichene Jeans, ein schwarzes T-Shirt, einen schwarzen Pullover und seine Lieblingsstiefel an. Er ging den Flur hinunter ins Gästeschlafzimmer. Nachdem er seinen begehbaren Kleiderschrank geöffnet hatte, tastete er im obersten Fach herum, bis seine Finger fanden, was sie suchten. Er zog eine Schachtel nach vorn und holte sie herunter. Er hob den Deckel ab, nahm seinen Pass heraus und betrachtete die verblassenden Einreisestempel auf den vergilbten


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